Neidharts KollegInnenschelte

Von allen guten Geistern verlassen seien die Kommentatoren der jüngsten Bundesratswahl und der nachfolgenden Departementsverteilung gewesen, schimpfte Politologe Leonhard Neidhart in der jüngsten NZZamSonntag und rügte einfältige Journalisten, altlinke Historiker und oberclevere Politikwissenschafter in einem schriftlichen Rundumschlag. Eine Entgegnung.

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Spätwerk von Neidhart zur polity der Schweiz – von alt Bundesrat Kaspar Villiger beispielsweise hoch geschätzt

Unsere Verfassungsväter hätten keine Superregierungsmitglieder gewünscht, dafür einen Rat an der Spitze des Staates eingerichtet, der Mann für Mann gewählt worden sei. Um das Kollegium vor Ansprüchen zu schützen, habe man die Verteilung der Departemente dem Bundesrat überlassen. Vielleicht, so schliesst der 75jährige Politologe, sei das politische System der Schweiz nicht stringent aufgebaut, dafür lasse es flexible Lösungen zu. Denn die “lose Koppelung der Elemente” garantiere seit Jahrzehnten Stabilität.

Nun sind die Verdienste des emeritierten Konstanzer Professors gerade hinsichtlich der Analyse des politischen Systems der Schweiz unbestritten. Denn er hat als Erster die inneren Zusammenhängen plurikultureller Gesellschaften, der direkten Demokratie und des Interessenausgleichs in der Konkordanz herausgearbeitet.

Das war allerdings vor 40 Jahren. In seinem Spätwerk ist der Schaffhauser immer abstrakter geworden, denn er hat sich, theoretisch festgelegt, zusehends von den neuen Realitäten abgewendet. Diese werfen zumindest die Frage auf, ob es nicht gerade die lose Koppelung der Elemente ist, welche in der Schweiz zu Blockaden zwischen den Bestandteilen zum Schaden des Ganzen verursachen.

Ein Blick in die letzte Sessionswoche müsste einem zu denken geben. Die Allianz der Mitte setzt sich bei der Departementsverteilung im Bundesrat durch. FDP, CVP und BDP besetzen seither die vier am begehrtesten Departemente, und sie haben im Bundesrat die Mehrheit, wenn sie abgesprochen auftreten. Diese geht ihnen aber im Parlament, namentlich im Nationalarat ab, und in Volksabstimmungen ist ihre Bilanz auch nicht mehr makellos.

Letzte Woche wurden gleich 4 wichtige Projekte der bürgerlichen ZentrumspolitikerInnen gestoppt: die Postmarktliberalisierung, indem die CVP mit der Linken stimmte, die Milchmarktliberalisierung, indem die Linke der SVP half, die 11. AHV-Revision und das Sparpaket im Gesundheitswesen, bei der die gleiche Konstellation mit Mehrheitsentscheid den Bundesratsprojekten ein Ende setzte. Genauso wie der Minarettsentscheid und die vermasselte BVG-Revision ist das mit dem Ideal der viel besungene Stabilität der Schweizer Regierung, die auf der Basis von akzeptablen Kompromissen berechenbare Entscheidungen treffe, nicht dienlich.

Politikwissenschaft muss sich vermehrt auch mit den Schwächen des schweizerischen Politbetriebes kümmern, um ein zukunftstaugliche Vision zu entwickeln, halte ich hier fest.

Altmeister Leonhard Neidhart hat nicht ganz unrecht, dass die heutigen PolitexpertInnen im Hier&Jetzt gefangen seien und zu Taktik-Analytiker verkommen könnten. Er selber muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, zwischenzeitlich soweit im Prinzipiellen der Vergangenheit angelangt zu sein, dass daraus kaum mehr zutreffende Einschätzungen über den den Wandel in der Gegenwart abgeleitet werden können.

Sollten die einen die guten Geister des schweizerischen Politsystem nicht mehr kennen, könnte andere den Fehler begehen, die schlechten Realitäten der Gegenwart schlicht zu ignorieren. Der Zukunft der Schweiz wäre beides nicht zuträglich.

Claude Longchamp

Der Rat an die Vereinigte Zauberlehrlingsversammlung

Im Wochenrückblick bereitet Politologe und NZZ-Redaktor Martin Senti die Rückkehr der SVP mit zwei Sitzen im Bundesrat vor – und nennt die zentrale Bedingung hierfür, wie ich sie hier schon mehrfach skizziert habe.

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Martin Senti, Lehrbeauftragter für politische Parteien an der Uni Zürich und NZZ-Redaktor skizziert einen Weg zurück zur Konkordanz

Die Analyse von Martin Senti beginnt mit einem Paukenschlag: “Trotz gerechtfertigtem Anspruch der SVP auf zwei Sitze im Bundesrat hat die Mehrheit der Vereinigten Bundesversammlung 2003 rückblickend einen Fehler begangen, als sie sich sang- und klanglos dem Diktat der SVP gebeugt und ausgerechnet den erklärten Konkordanz-Skeptiker Christoph Blocher (“geteilte Verantwortung ist keine Verantwortung”) in den Bundesrat gewählt hat.” Seither gäbe es einen Domino-Effekt, bei dem Fehler über Fehler begangen werde, sodass die Disparität der Kräfte zwischen Regierung und Parlament heute eklatanter sind als vor 2003.

Immerhin, Senti ortet nach den Bundesratswahlen von 2009 und 2010 eine neue Kraft im Parlament, mit der eine Normalisierung der Verhältnisse im Bundesrat in Reichweite gelange. Konkret geht es um den nachstehenden Deal: Die Bundesversammlung transferiert den BDP-Sitz im Bundesrat 2011 an die SVP zurück – und die SVP akzeptiert, dass das Wahlgremium auf einer echten Wahlfreiheit mit einerm Zweier-Ticket (ohne den abgewählten Blocher) bestehe.

Konkordanz, formuliert der Kommentator, sei die “Einbindung relevanter Kräfte zwecks dauerhafter Machtabsicherung”. Dies basiere auf Pakten zwischen Parteien, weche keine politische Liebesbeziehungen, sondern eine funktionale Notwendigkeit im Konkordanzsystem seien. Den Fusionsabsichten zwischen CVP und BDP erteilt er deshalb eine Absage. Besser wäre es seiner Meinung nach, die Achse zwischen FDP und SP um die SVP zu erweitern.

Warten auf Eveline Widmer-Schlumpfs Entscheidung über Verbleib oder Rücktritt mag Martin Senit nicht wirklich. Er verabschiedet sie “als furchtlose Dompteurin einer Blocher- SVP, die im Siegesrausch die Grenzen des Konkordanz-Verträglichen wiederholt überrschritten habe”. Vielmehr empfiehlt er der “Vereinigten Zauberlehrlings-Versammlung” im Bundeshaus vorauszugehen und zu einer dauerhaften Regierungsformel zurückfinden.

In einem Punkt weicht der Politberater den (mindestens vorläufigen) Realitäten indessen aus: SVP und FDP hätten in seinem Modell die Mehrheit in der Regierung; SP, CVP und Grüne aber die in der Bundesversammlung; schon einmal wurde davon Gebrauch gemacht, weshalb ich sage: Das wird noch zu vermitteln geben!

Claude Longchamp

Zurücktreten? Abwahl riskieren? Bei der CVP andocken? Oder ganz einfach Wahlen gewinnen?

Kaum sind die Bundesratswahlen vorbei, wird die Diskussion über die richtige Sitzverteilung in der Schweizer Regierung neu lanciert. Stabilitätswunsch hin oder her. Die NZZ präsentiert einen Vorschlag des Luzerner CVP-Ständerates Konrad Graber, der einen Verbleib der BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Bundesrat auch über 2011 vorsieht.

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Mitten in aktuellen Spannungsfeld befindet sich BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Mit der Gesamterneuerungswahl 2011 wird man sie unter keinen Umständen mehr als gewählte SVP-Bundesrätin bezeichnen können. Ob ihre Partei, die BDP, selber auf 10 und mehr Prozent kommt, ist fraglich, sodass es an einem numerischen Grund für die Ersetzung des SVP- durch einen BDP-Sitz fehlt.

“Die SVP wird sich 2011 nochmals gedulden müssen”, diktierte der Luzerner Ständerat Konrad Graber der NZZ ist elektronische Notizbuch. Er plädiert für einen Uebergang zur (nicht weiter definierten) inhaltlichen Konkordanz. Der Grundsatz ist einfach: Wer die gemeinsame Politik des Bundesrates mitträgt, wird gestärkt, wer das nicht macht, wird geschwächt. Das zielt mit Sicherheit auf SVP und SP.

CVP-Fraktionschef Urs Schwaller möchte die Systemdiskussion gleich im Rahmen der anstehenden Regierungsreform führen. Wähleranteile mag er als einzige Richtschnur nicht gelten lassen: Es gelte Wege zu finden, um die Kräfteverhältnisse im Ständerat besser im Bundesrat abzubilden. Eine Variante sei, die Sitze an Blöcke, nicht an Parteien zu vergeben. Eine andere ist, dass die BDP nach den nächsten Wahlen bei der CVP andocke, um Widmer-Schlumpf abzusichern.

Das Ganze ist als Angebot gedacht, dass FDP und CVP (unter Einschluss der BDP) je zwei Bundesräte bekommen, und sich die Allianz der Mitte die Mehrheit im Bundesrat sichert. Bei sieben Sitzen bedeutet das aber, dass die Polparteien noch drei zu Gute hätten. Die würden aufgrund der inhaltlichen Uebereinstimmungen mit dem Regierungsprogramm vergeben, wobei sich SVP, SP, wohl auch Grüne bewerben könnten.

Das Problem dabei ist, dass die Mitte nur im Ständerat über eine Mehrheit verfügt, nicht aber im Nationalrat. Zudem wäre eine Mehrheit der Allianz in der Bundesversammlung nötig, um das Dispositiv überhaupt aufziehen zu können. Aktuell fehlen hierfür knapp 20 Sitze.

So bleibt die Einschätzung, dass es sich um einen neuerlichen Versuch der CVP handelt, zu einem zweiten Bundesratssitz zu Lasten der FDP zu gelangen. Die Rechnung ginge dann so: Widmer-Schlumpf wird Mitglied der Zentrumsfraktion, die über den Sitz verfügt, wenn sie zurücktritt. Diese überholt auf diese Weise die FDP, die dann nur noch vierte politische Kraft ist, und gemäss Aussagen Pellis 2011 auf einen Sitz verzichten müsste. Der wiederum könnte auch jener der Romandie sein, wenn Rime als SVP-Vertreter in den Bundesrat einzieht.

Denn die SVP ist längst entschieden. Als wählerstärkste Partei propagiert sie seit 2003 die rein arithmetische Verteilregel, basierend auf WählerInnen-Anteilen. Abwahlen auf dieser Basis schliesst sie nicht aus. Ihr Plan A dürfte gegen Widmer-Schlumpf gerichtet sein, ihr Plan B gegen einen weitere Personen. Das bringt auch die SP in Bedrängnis: Sie neigt wie die SVP zur Arithmetik, denn gleich wie die SVP würde sie bei einer inhaltlichen Konkordanz zurückgebunden. Das Abwählen von BundesrätInnen aufgrund von Wähleranteilsverschiebungen war bisher aber Tabu.

Ohne Zweifel: Der Druck auf Eveline Widmer-Schlumpf ist beträchtlich! Soll sie Ende 2011 freiwillig zurücktreten? Soll sie eine Abwahl riskieren? Soll sie bei der CVP andocken? Oder kann sie, ganz einfach, auf einen grossen Wahlsieg zählen?

Die Diskussion, was gut für die für die Schweiz ist, ist lanciert.

Claude Longchamp

Bundesratswahlen: Wer wählt(e) wen?

Die zentrale Frage der Wahlforschung lautet: Wer wählt wen? Erste Einschätzungen zur laufenden Bundesratswahl am laufenden Band genau zu dieser Frage.

SCHWEIZ BUNDESRATSWAHL

Ersatzwahl von Moritz Leuenberger

Der 1. Wahlgang ist offen.
Stimmen haben erhalten: Sommaruga 86, Rime 80, Fehr 61, Fässler 10, andere 7. Ungültig 1. Abwesend 1.
Rime macht 14 Stimmen mehr als jene aus seiner Fraktion. Gemäss Erklärungen dürften sie grossmehrheitlich aus der CVP stammen. Da scheint etwas mehr als 1 Viertel von der Wahlempfehlung der Fraktion abzuweichen. Spielchen spielen ist jedoch nicht angesagt. Nur 1 Stimme ist ungültig. Ueber die Herkunft der 86 resp. 61 Stimmen für die offiziellen KandidatInnen weiss man nichts. Keine Fraktion ist geschlossen. Die SP-Frauen kommen zusammen auf 157 Stimmen. Das wird reichen.

Auch der 2.Wahlgang ist offen. Doch gilt es, die FavoritInnen in Position zu bringen.
Stimmen haben erhalten: Sommaruga 96, Rime 78, Fehr 64, andere 7. Ungültig. Abwesend 1.
Rime verliert etwas an Unterstützung. Sommaruga sammelt am meisten Zusatzstimmen seit dem 1. Wahlgang. Sie hat nun anderthalb mal soviele Stimmen wie Fehr, und sie liegt recht klar in Führung.

In den 3. Wahlgang kommt nur, wer im 2. mindestens 10 Stimmen hatte. Das sind Sommaruga, Rime und Fehr. Wer jetzt das schlechteste Ergebnis hat, scheidet aus. Bleiben Sommarugas und Rimes WählerInnen treu, trifft es Fehr. Wechseln die parteifremden Rime-WählerInnen zu Fehr, scheidet Rime aus.
Stimmen haben erhalten: Sommaruga 98, Rime 77, Fehr 70. Abwesend 1.
Rime konnte sich fast halten, und er liegt vor Fehr. Diese scheidet aus. Der Medienliebling ist draussen. Die Favoritin setzte sich durch, wenn auch nicht in einer direkten Ausmarchung. Das ist wohl die Ueberraschung.

Der 4. Wahlgang entscheidet, zwischen SP und SVP, zwischen Sommaruga und Rime. Sommaruga ist die Favoritin, denn sie liegt vorne und dürfte zahlreiche Fehr-Stimmen bekommen. 25 genügen, um sicher über dem absoluten Mehr zu sein.
Gewählt ist: Simonetta Sommaruga 159. Stimmen hat erhalten: Rime 81. Leer 3, ungültig 2. Abwesend 1.
Die Schweizer hat erstmals eine Mehrheit Frauen im Bundesrat. Ein historischer Moment. Bern hat wieder eine direkte Vertretung in der Bundesregierung. Die Ablösung in der SVP-Hochburg ist perfekt. Und die SP repräsentiert die Linke unverändert mit 2 Sitzen im höchsten Leitungsorgan des Staates.

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Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die FavoritIn der Bundesversammlung (und der StimmbürgerInnen) für die Nachfolge Leuenberger bei der Wahlannahme.

Kurzanalyse:
Jean-François Rime kam auf die erwarteten rund 80 Stimmen. Die hatte er von Beginn weg, und er behielt sie mehr oder weniger. Der Grossteil kam aus seiner Fraktion, die geschlossen für ihn votiert haben dürfte. Das heisst, es gab 14 ParlamentarierInnen, aus anderen Parteien, die ihm die Stimme gaben. Gemäss Fraktionserklärungen kam sie wohl zum grossen Teil aus den Reihen der CVP. Einige ungültige Stimmen könnte auch aus anderen Fraktionen gekommen sein. Letztlich sind sie aber alle zu vernachlässigen.
Simonetta Sommaruga wurde mit dem Potenzial, das für die Erhaltung der jetzigen Zusammensetzung des Bundesrates (auf linker Seite) ist gewählt. Da ist zuerst die SP-Fraktion zu nennen, dann die Grünen, die BDP sicher aber auch die FDP. Bei der CVP dürfte die Mehrheit für Sommaruga gewesen sein, bei der SVP niemand.
Bei der FDP dürfte mitentscheidend gewesen sein, dass man noch eine Wahl vor sich hat, und da auf die Stimmen der SP angewiesen ist. Entsprechend äusserte sich auch Fraktionschefin Gabi Huber im Vorfeld der Wahl.
Für die anstehende zweite Wahl verringert sich damit das Dilemma: Entweder bekommt die Schweiz fünf Frauen im Bundesrat, 2 BernerInnen oder 3 Welsche. Jede Variante ist etwas unüblich.

Ersatzwahl von Hans-Rudolf Merz

Im 1. Wahlgang interessiert, ob Brigit Wyss von den Grünen mehr Stimmen als die rotgrünen Faktionen zusammen macht. Nur dann ist ein Angriff auf den FDP Sitz von links und rechts wahrscheinlich. Sonst dürfte die grüne Kandidatin als Erstes ausscheiden und die Konstellation ähnlich wie bei der ersten Wahl sein: Rime von der SVP fordert die Partei des bisherigen Amtsinhabers heraus.
Stimmen haben im 1. Wahlgang erhalten: Rime 72, Wyss 57, Schneider-Ammann 52, Keller-Sutter 44. Cassis 12. Verschiedene 7. Leer 1. Abwesend 1.
Beide HerausfordererInnen liegen etwas zurück. Wyss machte voraussichtlich 33 Stimmen bei der SP. Das wären zwei Drittel der Fraktion, während ein Drittel wohl gleich FDP wählte. Rime macht nur noch 6 Stimmen ausserhalb den eigenen Reihen. Sie dürften wieder von CVPlern aus der Innerschweiz kommen. Die FDP-KandidatInnen haben zusammen aus 103 ParlamentarierInnen hinter sich. Das reicht vorerst nicht für das absolute Mehr. Es braucht noch rund 20 Stimmen. Die Stimmen für Cassis markieren die Farben der italienischen Schweiz. Doch hat auch das nur symbolischen Wert.

Im 2. Wahlgang ist die entscheidende Frage, ob eine der beiden offiziellen Bewerbung der FDP im zweiten Wahlgang bereits klar zulegen kann oder nicht. Denn das könnte schon ein Vorentscheid sein.
Stimmen haben erhalten: Schneider-Ammann 75, Rime 72, Keller-Sutter 55, Wyss 40. Verschiedene 3. Leer 0. Abwesend 1.
Vorteil Schneider-Ammann, der neu an der Spitze steht. Er macht gegenüber dem 1. Wahlgang 23 Stimmen gut. Keller-Sutter erhält 11 zusätzliche Zähler. Sie alle dürfen aus der Unterstützung für Wyss (-17), Cassis (-12) und den verschiedenen Gewählten stammen (-4). Oder haben auch FDPler gewechselt, um Schneider-Ammann gegen Rime zu sichern?

In den 3. Wahlgang kommt es darauf an, wie gut sich Wyss hält und wohin ihre Stimmen gehen. Denn die Grüne wird im 3. Wahlgang wohl ausscheiden.
Stimmen haben erhalten: Schneider-Ammann 78, Rime 72, Keller-Sutter 66, Wyss 28. Leer 0. Abwesend 1.
Wyss scheidet wie erwartet aus. Die Verhältnisse sind ausgeglichener, denn Keller-Sutter hat aufgeholt, während Schneider-Ammann nur noch wenig zulegen kann. Die WechslerInnen von links bevorzugten also die Frauenkandidatur.

Im 4. Wahlgang entscheiden die 28 verbliebenen linken ParlamentarierInnen, die Wyss bevorzugten, über den weiteren Verlauf der Wahl. Denn je nach Verteilung scheiden Rime oder Keller-Sutter aus.
Stimmen haben erhalten: Schneider-Ammann 84, Rime 76, Keller-Sutter 74, Ungültig 11. Abwesend 1.
Das war eine knappe Sache! Karin Keller-Sutter scheidet mit zwei Stimmen weniger als Jean-François Rime aus. Da könnten die ungültigen den Ausschlag gegeben haben. Die Situation ist damit vergleichbar wie bei der ersten Wahl, wohl aber etwas offener. Die Stimmen von Wyss gingen in alle Himmelsrichtungen.

Es kommt zum entscheidenden 5. Wahlgang. Mit fünf Frauen im Bundesrat ist nichts. Es gibt 2 BernerInnen oder 3 Welsche. In der Ostschweiz wird man leer schlucken. Denn im Finale stehen sich Johann Schneider-Ammann aus Langenthal und Jean-François Rime aus Bulle gegenüber. Schneider-Ammann ist zu favorisieren, denn die 74 Stimmen von Keller-Sutter dürften zur Mehrheit an ihn, nicht an seinen Herausforderer gehen.
Gewählt ist: Johann Schneider-Ammann 144. Stimmen hat erhalten: Rime 93. Ungültig 8. Abwesend 1.
Die FDP verteidigt ihren 2. Sitz im Bundesrat und ist neu mit einem Unternehmer vertreten. Der Angriff der SVP scheitert auch in diesem Fall. Verliererin wohl Eveline Widmer-Schlumpf von der BDP. Das Frauenargument ist weg und der Druck der SVP wird steigen.
Wie erwartet, verteilten sich die Stimmen von Keller-Sutter. Grossmehrheitlich gingen sie aber an die andere FDP-Bewerbung. Denn Schneider-Ammann machte 60 zusätzliche Zähler. Rime machte 17 Stimmen gut, mehrheitlich grüne, vielleicht auch vereinzelte SP-ParlamentarierInnen, welche die FDP-Doppelvertretung als nicht gerechtfertigt kritisiert hatten.

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Bundesrät Johann Schneider-Ammann, der Favorit der Bundesversammlung (und der StimmbürgerInnen) für die Nachfolge Merz bei der Wahlannahme.

Kurzanalyse:
Jean-François Rime verbesserte sich gegenüber der Ersatzwahl für Moritz Leuenberger um 13 Stimmen. Die ParlamentarierInnen seiner Fraktion, die Hälfte der Grünen sowie eine kleinere Minderheit von CVP und vielleicht auch SP dürften für ihn resp. seine Partei gestimmt haben. Für einen Sitzwechsel reichte das indessen klar nicht. Der Moment der SVP kommt in einem Jahr, nach den Parlamentswahlen 2011, wo es zur Polarisierung zwischen der SVP und der BDP kommen dürfte.
Auch der Angriff der Grünen scheiterte. Die SP unterstützte den Anspruch mehrheitlich, aber nicht dauerhaft. Ohne eine bürgerliche Partei, welche für die Grünen stimmen würde, ist der Sitz nicht zu haben. Auch sie dürften sich nun auf den Posten von Widmer-Schlumpf konzentrieren.
Die FDP verteidigte ihre zweiten Bundesratssitz mit Geschick. Nach Didier Burkhalter aus dem Kanton Neuenburg hat sie nun auch Johann Schneider-Ammann aus dem Kanton Bern in die Bundesregierung hieven können. Geholfen haben ihr dabei mit aller Wahrscheinlichkeit die grosse Mehrheit der SP, welche sich für die Wahl von Sommaruga bedankte, die Mehrheit der CVP und ein Teil der Grünen. Parteipolitische und personelle Ueberlegungen dürften im Mix den Ausschlag gegeben haben. Denn Unternehmer Schneider-Ammann mit seinem Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft war wegen seiner konservativen Grundhaltung für die bürgerliche Mitte wie für die Linke wählbar.

Erstes Fazit
Die beiden heute neuen BundesrätInnen entsprechen den Hoffnungen der BürgerInnen. Sie hätten die genau gleichen Personen gewählt, hätten sie nur können. Das ist ein gutes Omen für die Bundesregierung, welche in den beiden letzten Jahr stark in die Kritik geraten ist und bisweilen mit dem Rücken zur Wand kämpfte.
Die Konkordanz der grossen Parteien wurde heute gestärkt, wenn auch nicht eingelöst. Es bleibt das Problem der Integration der SVP in den Bundesrat, das nach den Wahlen 2011 gelöst werden muss. Die jetzigen Proprotionen entsprechen weder der Stärke im Volk noch im Parlament.
Die Medien haben im Vorfeld laut darüber nachgedacht, ob zwei BernerInnen im Bundesrat Einsitz nehmen dürften. Die Bundesversammlung hat sich davon nicht leiten lassen sie. Sie hat zuerst auf die Partei geachtet, an zweiter Stelle auf die Kompetenz der KandidatInnen. Sie hat sich von den alten Schemata der kantonalen Repräsentation gelöst. Das will auch die Bundesverfassung von 2000.

Demokratische Unsitte oder Kompromiss gegen Unordnung bei Bundesratswahlen?

Es ist eine interessante Analyse, die Rene Zeller zu den Zweier-Tickets der Fraktionen bei Bundesratswahlen vorlegt. Das Ergebnis fällt differenzierter aus, als man denkt. Anders als der Inlandchef der NZZ empfehle ich jedoch, die jetzigen Standards nicht ab-, sondern auszubauen.

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Man weiss es: Die Zauberformel für die Besetzung des Bundesrates ist 1959 mit einem Geburtsfehler aus der Taufe gehoben worden. Zwar einigte man sich auf einen Schlüssel zur Verteilung der 7 Bundesratssitze unter den 4 Regierungsparteien, der bis 2003 Gültigkeit hatte. Doch wählte man, gerade bei den bisher oppositionellen Sozialdemokraten mit Hans-Peter Tschudi nicht ihren Favoriten, Parteipräsident Walther Bringolf, in den Bundesrat.

Die SP hat solche Machtdemonstrationen mehrfach zu spüren bekommen- und daraus gelernt So wurde 1983 ihre Kandidatin für den Bundesrat, Liliane Uchtenhagen, nicht erste Bundesrätin der Schweiz. An ihrer Stelle zauberte die bürgerlichen Mehrheit in der Nacht vor der Wahl Otto Stich aus dem Hut. 1993 stand man vor einem vergleichbaren Problem: Anstatt der Favoritin Christiane Brunner, als Einzige offiziell vorgeschlagen, wählte die Bundesversammlung Francis Matthey in den Bundesrat. Erst nach massiven Protesten der SP-Spitze schlug er die Wahl aus, und aus dem nachgereichten Doppelvorschlag Brunner/Dreifuss wählte das Parlament letztere in die Bundesregierung.

Die SP ist jedoch nicht die Erfinderin der Doppelkandidaturen. 1979 praktizierte die SVP das erstmals nach dem Rücktritt von Rudolf Gnägi, denn Werner Martignoni, der den Berner Sitz einnehmen sollte war nicht unumstritten. So wurde ihm Leon Schlumpf zur Seite gestellt, und der reüssierten dann auch prompt. 1984 zog die FDP nach, indem sie für die Nachfolge von Rudolf Friedrich sowohl Elisabeth Kopp als auch Bruno Hunziker portierte.

SP und FDP setzen seit den 90er Jahren konsequent auf Doppelkandidaturen, wie es auch im aktuellen Beispiel der Fall ist. Bei der CVP hat sich kein einheitliches Muster durchgesetzt. 1999, als man die beiden bisherigen gleichzeitig abzulösen hatte, nominierte die Fraktion gleich 5 KandidatInnen, von denen zwei, Ruth Metzler und Joseph Deiss, gewählt wurden. Doris Leuthard wiederum schwang in der fraktionsinternen Wahl so klar oben aus, dass sie 2006 alleine vorgeschlagen wurde, und die Wahlprüfung erfolgreich bestand.

Die SVP schliesslich stellte sich im Jahre 2000 der Herausforderung, als es um die Nachfolge von adolph Ogi ging. Doch wurden statt einem der offiziellen der wild portierte Samuel Schmid gewählt. Seither hat die SVP mit der Forderungen aus FDP- und SP-Kreisen ein Problem. 2003, bei der Wahl von Christoph Blocher, stand nur er oder die Opposition zur Debatte. 2008 lautete ein erneuter Doppelvorschlag Blocher/Maurer; gewählt wurde Maurer, aber nur hauchdünn, denn der Inoffizielle Hansjörg Walther scheiterte mit nur einer Stimme.

Unter dem Strich gesehen kann man also seit bald 20 Jahren von einem Trend sprechen, die Wahl auf Nominierte einzuschränken, wenn dadurch der Charakter der Auswahl gewahrt bleibt. Das stärkt ohne Zweifel die Bedeutung der Fraktionen. Eine Wahlgarantie gibt es aber nicht. Francis Matthey und Samuel Schmid sind lebende Beispiele für Auslassungen. Umgekehrt ist es nicht so, dass einer Kandidaturen per se ohne Chancen sind; wohl trifft aber zu, dass dies nur bei Mitte-KandidatInnen mit fast sicherem Unterstützungspotenzial rechts wie links möglich ist.

Es wäre wohl Zeit, auch diese Eigenheit bei Bundesratswahlen verbindlich und für alle gleich zu regeln. Rene Zeller nennt die Vorauswahl eine demokratische Unsitte. Ich empfehle genau das Gegenteil: als Kompromiss zwischen Ordnung und Unordnung in der parlamentarischen Wahldemokratie fest zu etablieren.

Leuenberger: Volkswahl für den Primus oder die Prima

In der heutigen Spiegel-Ausgabe empfiehlt der abtretende Bundesrat Moritz Leuenberger einen Paradigmenwechsel beim Bundespräsidium. Der oder die Vorsitzende des Bundesrates soll für ein Legislatur amten, kein Departement führen und vom Volk gewählt werden.

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Moritz Leuenberger, wäre 2011 Bundespräsident geworden, tritt aber als Bundesrat zurück, und macht einen Vorschlag für eine radikale Neugestaltung des Amtes an der Regierungsspitze

Mathieu von Rohr irrt. Der Schweiz-Korrespondent des Magazins Der Spiegel meint, die Schweiz sei für Revolutionen einfach nicht gemacht. Dabei geht es ihm weniger um die Personenentscheidungen am kommenden Mittwoch, nicht einmal um die parteipolitische Zusammensetzung der Bundesregierung. Nein, es geht ihm um einen Vorschlag von Moritz Leuenberger, bekannter Skeptiker, der, wenn eine Regierungsreform schon nötig sei, mit einem Uebergang zu einem Präsidialsystem liebäugelt.

O-Ton Leuenberger: “Wenn schon eine Veränderung, warum dann nicht einen Bundespräsidenten für vier oder fünf Jahre, der kein eigenes Ministerium führen muss und der vielleicht sogar vom Volk gewählt würde?”

Ohne Zweifel wäre das ein Paradigmenwechsel. BundespräsidentIn zu sein, war in der Konkordanz in erster Linie Ehre, ein repräsentative Amt mit beschränkten Koordinationsaufgaben für das Regierungsgremium selber. Dann nahm die Medialisierung der BundesrätInnen in den letzten 20 Jahren zu, und seit gut 10 Jahren sind sie auch viel im Ausland unterwegs. Da eignet sich die jetzige Regierung ohne eine mittelfristig dauerhafte Spitze immer weniger.

Von daher ist es nur verständlich, wenn man, wie mit der Regierungsreform, sowohl über die Institutionalisierung eines neuen Bundespräsidiums diskutiert, als auch, wie es Leuenberger macht, über die Legitimatierung von aufgewerteten AmsträgerInnen. Der jetzige Bundesrat favorisiert ein Bundespräsidium auf zwei Jahre, weiterhin im Rotationssystem unter den Mitgliedern, wobei der oder die InhaberIn zusätzlich zu den Repräsentationsaufgaben im Innern solche im Ausland übernehmen würde.

Was Leuenberger heute im Spiegel erwägt, kommt durchaus einer kleinen Revolution gleich. Statt das Bundespräsidium in Richtung eines Ministerpräsidentenamtes ohne Volkslegitimation weiterzuentwickeln, wie es die parlamentarischen Demokratien kennen, orientiert es sich mehr am Präsidialsystem, wie es in den USA mustergültig existiert. Demnach würde der primus inter pares, wie er heute zelebriert wird, würde verabschiedet. Der neue Primus oder die neue Prima würde durch die Volkswahl gestärkt auf die Regierungsbildung einzuwirken, hätte wohl auch Weisungsbefugnisse in zentralen Fragen, wäre die Schaltstelle im Innern, Ansprechpartner nach Aussen, und in einem erhöhten Masse direkt vom Volkswillen abhängig.

Leuenberger weiss, dass man in der Schweiz sarken Persönlichkeiten distanziert begegnet, weil sie zu oft polariseiren. So definiert er die Rolle des oder der BundesprädisentIn als Integrationsfigur, verkörpert durch eine Person, die mehrsprachig kommunizieren kann, und die Botschaft der Schweiz nach Innen und Aussen vermitteln würde.

Der jetzige Bundespräsident ist aus dem Landammann der Helvetischen Republik hervorgegangen. Napoleon legte den ersten revolutionären Grundstein für das Regierungssystem der Schweiz, dem 1848, dem Revolutionsjahr par exellence, weitere beigefügt wurden. Entwickelt hat sich eine Kollektivregierung, dei nach dem Kollegialsystem funktioniert, das durch die direkte Demokratie kontrolliert, bisweilen auch geführt wird. Das alles ist nicht einfach seltsam, wie man im Spiegel meint, sondern weltweit ohne Vorbild – und damit revolutionär im wahrsten Sinne. Ueberlagert wird das alles durch einen merkwürdigen Strukturkonservatismus in der Schweiz, der mit Leuenbergers Vorschlag einen kräftigen Schups Richtung Führung bekommen hat, für die sich klarer als bisher jemand verantwortlich fühlen müsste. Das kann ich durchaus unterschreiben.

Claude Longchamp

Zeugnisse für BundesratskandidatInnen

Der “Stern” macht es kürzlich vor. Er stellte den BewerberInnen für ein Spitzenamt in der deutschen Politik ein Zeugnis aus. Das beflügelte die Redaktion des Migros-Magazins, bei den anstehenden Bundesratswahlen es gleich zu tun.

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Reporterin Sabine Lüthi fragte mich an, eine Zeugnis für die sechs offiziellen KandidatInnen der SP, der FDP, der SVP und der Grünen bei den anstehenden Bundesratswahlen zu verfassen. Nach nur kurzem Zögern willigte ich ein, denn Personenbeurteilungen sind eigentlich kaum mein Ding.

Mir war wichtig, dass die Kriterien nicht nur auf den Stil gerichtet waren. Die politische Position und die Themenschwerpunkte sollten ebenso gewichtet werden.

Informiert habe ich mich gleich wie sonst. Einzig ist alles etwas genauer erfolgt. Gesammelt habe ich alle Ratings, sei es um Französischkenntnisse oder Vorstösse im Parlament gegangen. Sie flossen in meine Meinungsbildung mitein. Gelesen habe ich zudem die wichtigsten Porträts in den Zeitung, und gefragt habe ich Leute im und rund um Parlament – sowie meine BürokollegInnen vom gfs.bern.

Vor einer Woche musste ich mich festlegen. Die Ergebnisse der Hearings schimmtern noch knapp mit hin, doch was danach geschah, beeinflusste das Bild nicht.

Vier KandidatInnen halte ich für absolut geeignet, Bundesrätin oder Bundesrat zu werden. Hier meine spontane Kurzfassung der wichtigsten Empfehlungen – und die zentralen Hinderungsgründe.

. Simonetta Sommaruga halte ich für eine sehr starke PolitikerIn, welche mit ihrer Popularität dem angeschlagenen Bundesrat gut tun würde. Wir sie nicht gewählt, bleibt der Eindruck, der Neid der anderen PolitikerInnen habe den Ausschlag gegeben.
. Jacqueline Fehr wäre als profilierteste Familienpolitikerin im Parlament eine fachliche Verstärkung in der Bundesregierung. Eine Nicht-Wahl hätte wohl auch mit den etwas unklaren finanziellen Verhältnissen in ihren Ehe zu tun, die in Auflösung ist.
. Karin Keller-Sutter hat mich im Wahlkampf am meisten positiv überrascht; mit ihrem souveränen Auftritt ist sie so oder so ein Versprechen für die Zukunft. Bei einer Nicht-Wahl gehe ich davon aus, dass sie bald als Ständerätin nach Bern fährt und vorteilhaft politisieren wird.
. Johann Schneider-Ammann ist ein guter Kenner der Wirtschaftsbeziehungen im In- und Ausland, welche die Handlungsfähigkeit des Bundesrates stärken könnte. Setzt er sich nicht durch, ist es wohl ein Zeichen, dass meine Generation PolitikerInnen nun die Geschicke der Schweiz führen will.

Sollte es fünf Frauen im Bundesrat nicht ertragen, fände ich das kein gutes Argument bei den Wahlen. Denn wir bekommen diesmal etwas 2 ZürcherInnen, 2 BernerInnen, 3 Welsche oder 5 Frauen. Und: Quoten zu ihren Gunsten wollte man nie – so sollte man auch keine Quoten zu ihren Ungunsten einführen.

Hier geht es zu den Zeugnissen im Detail.

Claude Longchamp

Wer wird neue(r) BundesrätIn?

Seit einige Tagen gibt es in Bundesbern nur noch eine Frage: Wer wird am 22. September 2010 neue Bundesrätin oder neuer Bundesrat? Wo es eine solche Erwartungshaltung gibt, wachsen auch die Angebote. Nicht in jedem Fall zum Vorteil der Information.

Umfragen
Auf Newsnetz fand während Tagen eine LeserInnen-Befragung statt. An der Spitze standen am Schluss Sominetta Sommaruga, gefolgt von Karin Keller-Sutter, Johannes Schneider-Ammann und Jacqueline Fehr. Damit rangierten die beiden offiziellen SP- resp. FDP-KandidatInnen vorne. Jean-Francois Rime von der SVP lag an fünfter Stelle, und die Grüne Brigit Wyss belegte den sechsten Platz. – Das Ergebnis ist nicht unplausibel. Es entspricht zwei etwas älteren Repräsentativ-Befragungen, wonach aus Bevölkerungssicht Sommaruga die gewünschte Leuenberger-Nachfolgerin ist, und Keller-Sutter auf Merz folgen soll. Die online Erhebung hat aber Schwächen: Sie unterschlägt, dass es am 22. September zwei Wahlen geben wird, und nicht alle 6 KandidatInnen in beiden Umgängen antreten werden. Zudem haben sie die übliche Schwäche von Mitmach-Umfragen: Interessierte können mehrfach abstimmen, um ihren Favoriten zu helfen, verfälschen aber damit das Bild der unterstellten Volkswahl.

Wahlbörsen
Auf der Wahlseite von SF findet sich neuerdings eine Wahlbörse. Wiederum führt hier Sommaruga, allerdings hier vor Rime und Fehr. Keller-Sutter ist vierte, etwas von Schneider-Ammann, und Wyss befindet sich wieder an sechster Stelle. Wahlbörsen basieren darauf, dass man mit eigenem Geld Aktien der KandidatInnen kauft, die man virtuell handelt. So stellt sich für jede Person ein Marktwert ein, der den Wahlchancen gleich gesetzt wird. – Was theoretisch als Prognoseinstrument Sinn macht, kennt in der Praxis Probleme: Gibt es zu wenige Trader, ist der Einfluss der Einzelnen zu gross. Dann kann es auch sein, dass eine Gruppe den Handel manipuliert, und genaus das ist der Wahlbörsen Tod! Im aktuellen Beispiel kann man das vermuten: Denn auf der ganzen Welt wetteten bisher gerade mal 23 Börsianer auf unsere BundesratskandidatInnen.

Pferderennen
Noch einfacher machen es sich gewisse JournalistInnen, die Bundesratswahlen mit Pferderennen gleichsetzen. Im “Blick” geht es dabei gar nicht mehr darum, wer vorne und hinten liegt. Dafür werden die Gewinne und Verluste in jeder Runde, sprich an jedem Tag, bilanziert. Worauf diese Stimmungsmache basiert, erfährt man als KonsumentIn nicht. Das ist bei Meinungsmachern in den Medien etwas besser, auch wenn die Argumente vor lautem Taktieren irritieren. So kritisiert Roger Schawinski in der Sonntagszeitung (nicht auf dem web), Sommaruga sei perfekt und populär, wohl wissend, dass beide Attribute unter den bürgerlichen ParlamentarInnen damit die Wahlchancen der Berner Ständerätin vermindern. Dreist war die Argumentation von Patrik Müller, Chef des Sonntags, gestern in der “Arena”. Er warb für Rime, damit Blocher 2011 nicht Bundesrat werde.

Simulation mit sauberem Tableau
Uneingeschränktes Lob verdient in dieser Sache erneut Bernhard Kislig von der BernerZeitung, der in der heutigen Ausgabe als Erster ein sauberes Tableau zu beiden Wahlen, mit den wahrscheinlichen KandidatInnen, ihren Chancen in den Wahlgängen und einem möglichen Ausgang erstellt hat. Das ist dem Verfahren bei Schweizer Bundesratswahl angemessen, und seine Kommentare lassen erkennen, wer wann welche Weichen stellt. Vielleicht hätte man noch etwas konsequenter mit Szenarien arbeiten können. Doch kommt er zu einem klaren Schluss: Beim Ausscheiden von Rime werden 66 Stimmen frei, die sich dann auf die FinalistInnen verteilen. Auf eine der Personen gerichtet, ist das entscheidend. So kommt es wohl darauf an, wer bei der SVP durchkommt oder durchfällt.

Claude Longchamp

Grosse Bundesräte der Schweiz

“Presidential ratings” gehört in den USA zum medialen Geschäft der Historiker. Urs Altermatt macht damit in der Schweiz den Anfang.

SCHWEIZ BUNDESRAT REISE
Kurt Furgler, das Alphatier im Bundesrat, ist wohl heimlicher Favorit von Urs Altermatt unter den grossen (verstorbenen) Bundesräten (des 20. Jahrhunderts).

Zeitgeschichtler Urs Altermatt ist allen als “Bundesrats-Historiker” bekannt. Keiner hat sich in der Schweiz so ausführlich, vertieft und wirksam mit den Mitgliedern der Schweizer Bundesregierung beschäftigt. Auch ist er einzigartig in der Verbindung von Geschichte als Kulturwissenschaft und Politik als Sozialwissenschaft – eine Verknüpfung die Altermatt bei seinem Mentor Karl W. Deutsch in den USA gelernt hat.

Nun folgt der emeritierte Freiburger Professor einem weiteren amerikanischen Trend. Denn unter den Geschichtsprofessoren der USA ist es zu einem beachtliches Geschäft geworden, “presidential rankings” zu erstellen, um die Grossen unter den Grosse der Vereinigten Staaten von Amerika zu ermitteln und publizistisch in Erinnerung zu halten. Zwischenzeitlich sind ausgefeilte Methoden der Beurteilung entwickelt worden, und eine Vielzahl von HistorikerInnen ringt darum, die richtige Reihenfolge zu ermitteln.

Auf diesem Pfad, wenn auch ganz am Anfang des Wegs, animierte newsnetz Altermatt, über the big six unter den Schweizer Bundesräten zu rätseln. Unter zwei Einschränkungen akzeptierte Altermatt die Herausforderung: Zeitlich ging man nur bis zum Ende des 1. Weltkrieges zurück, weil sich niemand mehr an die älteren Bundesrät erinnern könne. Und die noch lebenden wurden allesamt ausgenommen, um das Geschäft der Historiker zu wagen. Das hat natürliche Konsequenzen: Frauen scheiden aus, und die Parteien der Zauberformel haben alle eine Chance.

Herausgekommen ist die nachstehende Liste, die nicht als wirkliches Ranking verstanden werden soll, sondern in der Reihenfolge des Amtsantritts aufgebaut ist:

Rudolf Minger (1881-1955),

Bundesrat der BGB (heute SVP) von 1930-40, gewürdigt für seine Verdienste im Aufbau der Armee vor dem zweiten Weltkrieg,

Philipp Etter (1891-1977),

Bundesrat der KK (heute CVP) von 1934-59, weil er sich für die geistige Landesverteidigung verdient gemacht hatte,

Max Petitpierre (1899-1994),
Bundesrat der FDP von 1944-61, wegen des Aufbruchs aus der Isolation zu Beginn der Nachkriegszeit, der von ihm geprägt wurde,

Friedrich Traugott Wahlen (1899-1985),
Bundesrat der BGB (heute SVP) von 1959-65, der die Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg leitete,


Hans-Peter Tschudi (1913-2002),

Bundesrat der SP von 1971-1973, der, geschockt von den Sputnik-Erfolgen der sowjetischen Raumfahrt, das Sozial- und Bildungswesen ausbaute.

Kurt Furgler (1924-2008),
Bundesrat der CVP von 1971-86, dem Alphatier aus der Ostschweiz, der den Reformprozess für die neue Bundesverfassung einleitete, und

An Kriterien, die den Historiker bei seiner Wahl leiteten, nennt Altermatt die Länge der Amtszeit, während der sich ein Bundesrat halten konnte, den sachlichen Leistungsausweis und die Popularität, die er erlangte. Nur bei Wahlen machte er eine Ausnahme, der der war nur kurz Bundesrat, aber schon vorher eine Legende.

Ein wenig erinnert mich das an meine erste Lehrveranstaltung an der Uni Bern, in der es um Bundesräte in der Geschichte ging. Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einem Witz von und über Ruedi Minger. Gelacht haben wir gerne; ob der deshalb ein gutes Regierungsmitglied war, weiss ich bis heute nicht.

Claude Longchamp

Schlüsselfigur Rime?

Morgen Dienstag finden die Hearings statt, bei denen die Fraktionen der Bundesversammlung den KandidatInnen für die Bundesratswahlen den Puls fühlen. Allgemein rechnet man damit, dass sich danach abzeichnet, wer zurecht in der FavoritInnen-Rolle schlüpft. Denn aus eigener Kraft schafft es keine Fraktion, die eigene(n) Bewerbung(en) durchzusetzen.

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Jean-François Rime, SVP/FR, könnte zur Schlüsselfigur bei den kommenden Bundesratswahlen werden.

In der LeserInnen-Umfragen auf www.newsnetz.ch ist alles klar: Sommaruga führt, vor Keller-Sutter, unwesentlich vor Schneider-Ammann, aber einiges von Fehr, die ihrerseits sicher vor Jean-François Rime und Brigit Wyss liegt. Das ist seit Tagen unverändert.

Doch das Vorgehen täuscht in mehrfacher Hinsicht: Es wählt die vereinigte Bundesversammlung, keine Online-Community. Und es finden zwei Wahlen statt, je ein für die Nachfolge von Leuenberger resp. Merz. Zudem irrt man womöglich, wenn man alleine von der Beliebtheit ausgeht. Denn die Wahlen in den Bundesrat finden nicht in einer einfachen Wahlrunde statt, sondern einer in mehreren Stufen, die taktische Ueberlegungen zulassen. Die ersten zwei Umgänge sind offen, doch danach scheidet der oder die KandidatIn mit dem schwächsten Ergebnis aus, bis eine Bewerbung das absolute Mehr erreicht.

Die SVP-Gruppe will in beiden Wahlen antreten und jeweils geschlossen für Rime stimmen. Das gibt rund 65 Stimmen. Wyss von den Grünen hat den gleichen Vorteil, als Einzige für ihre Fraktion zu kandidieren, doch bekommt sie aus dieser selber bei geschlossener Stimmabgabe nur 24 Stimmen. Die SP und die FDP werden vorsichtig votieren, denn beide Fraktionen wissen, dass sie ihre Bewerbungen auf die Stimmen des Gegenüber angeweisen sind. Zusammen sind das 98 Zähler. Ohne die Stimmen von CVP und BDP, die zusammen auf 58 kommen, wird niemand gewählt, und genau über ihre Präferenzen weiss man am wenigsten. Insbesondere bei der CVP kursieren mehrere Ueberlegungen: Konservative CVPler aus der Innerschweiz scheinen gewillt zu sein, bei der mindestens FDP-Wahl Rime zu favorisieren, um die SVP mit Blick auf die Wahlen ruhig zu stellen. Die Parteispitze und mit ihr wohl auch die Mehrheit der Zentrumsfraktion werden für die Offiziellen von SP und FDP votieren und dafür auf Gegengeschäfte hoffen. Das dürfte auch bei der BDP so sein.

Bei der ersten Wahl haben die beiden SP-KandidatInnen ein gemeinsames Potenzial von rund 180 Stimmen. Selbst wenn es bei der CVP AbweichlerInnen und leere Wahlzettel an verschiedenen Orten geben sollte, können sie mit 165 bis 170 Stimmen rechnen. Im besten Fall ist eine der beiden Bewerberinnen klar vorne und gewählt. Im schlechtesten Fall haben bei SP-BewerberInnen je 82 bis 85 ParlamentarierInnen hinter sich, während Rime auf 76 bis 81 kommen dürfte. Die Chancen sind damit intakt, dass beide SP-Kandidatinnen ins Finale kommen, der Sitz also an die SP geht. Aus Sicht der SP wäre es deshalb riskant, eine Kandidatur forcieren zu wollen.

Bei der zweiten Wahl treten die SVP und die Grünen gegen die FDP an. Bekommen die Freisinnigen alle Stimmen der übrigen, reicht das für rund 155 Zusagen, verteilt auf zwei BewerberInnen heisst das, 75 bis 80 Stimmen. Nicht auszuschliessen ist, dass einige Stimmen aus der CVP und der BDP an die SVP gehen, und bei der SP ebenso vereinzelte ParlamentarierInnen für die Grünen votieren, wenn sie ihre Kandidatin im Bundesrat wissen. Das nützt der Grünen Wyss nicht viel, denn sie dürfte selbst bei mehrheitlich linkem Sukkurs als Erste ausscheiden. Doch Rime könnte auf mindestens so viele Stimmen kommen wie in der ersten Wahl. Damit ist als Variante gut denkbar, dass Rime eine der beiden Bewerbungen aus der FDP aus dem Rennen wirft, ohne dass die andere gewählt ist. Damit würden sich am Schluss je eine Kandidatur aus der FDP und der SVP gegenüber stehen – mit unsicherem Ausgang. In dieser Ausmarchung ist demnach nicht nur personell, parteipolitisch mehr offen, als das bei der ersten Wahl erscheint. Die FDP kann sich dieser Selektion durch die SVP nur dann sicher entziehen, wenn sie alles auf die Karte setzt, die im Parlament die besseren Chancen zum Stich hat.

Es mag sein, dass am Schluss Sommaruga und Keller-Sutter obsiegen, wie das die LeserInnen des newsnetz gerne hätten. Ob Sommaruga oder Fehr vorne sind, weiss man nach den Hearings vielleicht besser. Bei der Paarung Keller-Sutter und Schneider-Ammann, ist nicht auszuschliessen, dass Rime den Ausschlag in der Personenauswahl gibt, und damit selbst bei einer Nichtwahl zur Schlüsselfigur dieser Wahl wird.

Claude Longchamp