Der Schweiz mangelt es an einer ausgebauten politischen Partizipationskultur

“Politische Kultur und Wahlbeteiligung” war das Thema meiner jüngsten Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich. Ein Plädoyer für mehr Partizipationskultur, gerade zugunsten kommender Generationen.


Quelle: Gabriel/Plasser (Hg.): Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa. Bürger und Politik. Studien zur Wahl- und Einstellungsforschung, Baden-Baden 2010, eigene Darstellung

“Musterhafte Einstellung, wie Politik und Staat geführt werden sollen”, ist eine der gängigen Definitionen von politischer Kultur. Relevant ist, was dem politischen Handeln vorausgeht, ohne dass dieses selbst zur politischen Kultur gehört.

Es zählt zu den Eigenheiten des Kulturellen, dass man nur im Vergleich über die eigene Kultur differenziert genug sprechen kann. Denn ohne das tappt man gerne in der Falle der Selbstbilder, ohne die Fremdbilder zu gehen, hält man das Selbstverständliche für unumgänglich, ohne es als Möglichkeit zu durchschauen.

So sind wir in der Schweiz gewohnt, uns als Musterdemokratie zu sehen, was nicht ganz falsch, aber auch nicht einfach richtig ist. Denn die politische Kultur der Schweiz ist, gerade im internationalen Vergleich, stark auf Fragen der Demokratie in Verfassungs- und Gesetzesrevisionen ausgerichtet, die den Staat betreffen, was uns geläufig ist. Dagegen übersehen wir gerne, dass es Bereiche wie die Demokratie in der Wirtschaft gibt, die bei uns fast ganz ausgeblendet werden.

Ein Projekt zur politischen Kultur Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz im Vergleich, an dem ich vor wenigen Jahren mitgewirkt habe, stellt der Schweiz eine durchaus etablierte und gereifte demokratische politische Kultur aus. Sie ist, im oben definierten Sinne entwickelter und, besser ausgebaut als in vielen Nachbarstaaten.

Indes, sie ist mit einem deftigen Mangel behaftet. Denn die politische Involvierung in die Breite bleibt in der Schweiz zurück: Das gilt nicht nur für das Stimmrecht von AusländerIn, beispielsweise auf lokaler Ebene. Die Einschätzung trifft auch nicht einfach, wegen dem Frauen-Stimm- und Wahlrecht, Nein, zur dieser Einschätzung kommt man insbesondere, wenn man sich die Wahlbeteiligungswerte nach Alter ansieht.

Wenn die allgemeine Wahlbeteiligung mit knapp 50 Prozent international tief ist, gilt das ganz besonders für die Teilnahme an nationalen Wahlen in den jüngeren Gesellschaftsgruppen. Werte von drei Viertel Abwesenden sind keine Seltenheit. Typisch dafür, bis jetzt fehlt es an einer gesamtschweizerischen Statistik, die uns sagen würde, wie tief der Wert bei den Parlamentswahlen 2011 gewesen ist.

Was der Schweiz fehlt, ist eine Kultur der politischen Involvierung junger Menschen in die Politik. Klar, es gibt Jugendparteien, die etwas mehr Zulauf haben als auch schon. Sicher, in den Medien findet man Jugendkulte, sei es im Sport, der Unterhaltung oder der Mode. Doch bleibt das alles ohne grosse Wirkung auf die Politik. Selbst der Staatskunde-Unterricht, vielerorts versorgt in Gesellschaftsfächern, befördert die politische Partizipation Jugendlicher kaum.

Vor einem Viertel Jahrhundert galt es, ähnliche Defizite bei der politischen Aktivierung der Frauen in der Schweiz zu machen. Da ist seither einiges in Gang gekommen. Der Wertwandel hat die Aufteilung in Männeröffentlichkeit und Frauenprivatraum fraglich erscheinen lassen. Der Frauenstreik von 1991 hat Ansprüche der Frauen auf gelebte Gleichstellung erhoben. Zahlreiche Programme in Städte und Kantonen, die Zahl politisierender Frauen zu erhöhen, haben einiges in Veränderung gebracht. Diesbezüglich ranigert die Schweiz heute im oberen Mittelfeld moderner Demokratien.

Genau eine solche Kultur fehlt uns aber, wenn es um den politischen Nachwuchs insgesamt geht. Es scheint, als verteidigten die Inhaber der politischen Pfründe diese so heftig, dass sie selbst die Probleme, die dabei entstehen, übersehen.

Dem sollte etwas gegenüber gestellt werden: Als Erstes müssten wir uns bewusster werden, dass die Schweizer Demorkatie hier gefodert ist, und dass es ohne regelmässige Programme in diesem Bereich keine Besserung gibt. Als Zweites bräucht es auch ein klares Signal der jungen Menschen, dass sie in die Politik wollen. Und drittens wäre eine breite Debatte angezeigt, wie etablierte und neuen Vorstellungen politischer Partizipation in Uebereinstimmung gebracht werden können.

Natürlich, man kann auch einfach warten, bis sich die politischen Beteiligung als Gewohnheit einstellt. Erfahrungsgemäss nimmt das ab dem 30. Altersjahr in der Schweiz zu, und erreicht es mit 70 den Höhepunkt. Doch nur darauf zu zählen heisst, Rekrutierungsprobleme in lokalen Behörden, in Parteivorständen und Vereinsgremien, wie sie heute verbreitet vorkommen, als gegeben in die Zukunft zu verlängern. Gerade angesichts der ausgebauten Mitsprachemöglichkeiten darf man solche Defizite nicht einfach übersehen und hinnehmen.

Das kann meines Erachtens nicht die Absicht einer zukunftsträchtigen Demokratie sein, maximal ein Missverständnis, dessen man sich kulturell zu wenig bewusst ist und es deshalb auch nicht aktiv beseitigt.

Claude Longchamp

Liebe Fachfrau für Kommunikation.

Nach deinem Insistieren in Sachen Sinus-Milieus versuche ich es nochmals. Beispielhaft, um das Abstrakte einzubetten, und direkt, um auf deine brennenden Fragen einzugehen. Lass uns schweben, von deinen Reiseplänen, über das Transfigurative in der Gesellschaft bis hin zur Pragmatik von Milieustudien.

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Wem streng empirische Studie zu abstrakt sind, wenn es um die (nahe) Zukunft geht, der (oder die!) wird bei Matthias Horx wohl fündiger, denn er beschreibt konkret, wie Wandel, auch soziokultureller menschengemacht vorkommt.

Das Einfache der eigenen Biografie
Beginnen wir mit einem Gedankenspiel. Wohin gehst du in die Ferien? War das immer so? Was hat sich geändert, seit du Studentin der Biochemie wurdest? – Ich nehme an: viel. Denn die Ferienwahl ist ein Teil der biografischen Entwicklung, auf der Suche nach Identität, in Verbindung mit der Berufskarriere, und stark abhängig von der familiäre Situation. PsychologInnen würden sagen, Ferienwahl hat etwas mit dem Lebenszyklus zu tun, indem man steckt.

Du siehst, individuell kann sich viel ändern. Aendert sich deshalb auch gesellschaftlich etwas? Nicht zwingend, ist die Antwort der Demografen. Denn wenn eine Gesellschaft gleich komponiert bleibt, ersetzen neue Individuen alte, doch die Gesellschaft als Kollektiv bleibt sich gleich. Denk an einen Ameisenhaufen, der immer gleich aussieht, auch wenn einzelne Viecher sterben oder geboren werden.

In westlichen Gesellschaften ist das aber nicht so. Die Alterspyramide ist in erheblicher Veränderung begriffen. Es stehen immer mehr ältere Menschen immer weniger jüngeren Gegenüber. faktisch bekommen wir eine Alterskerze. Unser Gedankenspiel in der heutigen Gesellschaft bedeutet deshalb: die Themen im Lebenszyklus, die einem höheren Alter verbunden sind, werden zahlreicher, jene der jüngeren werden verringert. Gesamtgesellschaft ändert sich etwas.

Das Komplizierte der Generationen
Faktisch ist alles aber noch komplizierter. Denn die neuen Jungen finden auch andere Lebensbedingungen vor als ihre Vorgänger-Jungen: Es ist kein Krieg mehr, der Konsum aus Prestigegründen ist gesättigt und die Rebellion der 68er ist vorbei. Dafür spricht man von Individualisierung, von Multioption, von Genuss, von Flexibilität, von Unsicherheit, kurz von einer Hybridkultur, mit der man zu Rande kommen müsse. Das alles prägt(e) ganze Generationen. Diese definieren sich daraus, dass sie neue Antworten auf neue Fragen geben. Sie grenzen sich damit von den vorhergehenden Generationen ab. Generationen entstehen nicht jedes Jahr neu, auch wenn das Marketing das so sieht. Vielmehr gibt es zyklisch neue Generationen, die man teilweise erst im Rückblick wirklich unterscheiden kann.

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Treiber des soziokulturellen Wandels in der transfiguralen Gesellschaftskonstellation (Quelle: Horx: Wandel)

Was wir nun haben, müssen wir noch interkulturell differenzieren. Margaret Mead, die grosse amerikanische Anthropologin des 20. Jahrhunderts untersuchte in ihrer Schrift “Der Konflikt der Generationen” verschiedenste Kulturen dieser Welt. Sie kam zum Schluss, dass es drei typische Konstellationen gibt im Verhältnis von Kindern und Eltern:

. die postfigurative Konstellation, die sich an der Vergangenheit orientiert, in der die Eltern ihre Werte auf ihre Kinder übertragen konnen, die wenig flexibel ist und in der Generationeneffekte kaum identifiziert werden können,
. die konfigurative Konstellation, die sich an der Gegenwart ausrichtet, wo die Kinder nicht einfach die Eltern nachahmen, sondern sich an den Antworten der Gleichaltrigen ausrichten, die deshalb flexibler sind, und in denen eigentliche Generationen von Kindern, Jugendlichen und Eltern ersichtlich werden.
. und die präfigurative Konstellation, die auf die Zukunft gerichtet ist, weil die Kindern den Wandel schneller aufnehmen als ihre Eltern, diese fordern und lehren. Solche Gesellschaften sind nicht nur flexibel, der soziale Wandel wird durch die Jugend vorangetrieben.

Machen wir auch hier ein Beispiel: Wählst du gleich wie Deine Eltern? In einer durchunddurch postfigurativen Kultur würden hier alle mit “Ja” Antworten. Das ist heute bei den konfessionell gebundenen Parteien, der CVP und EVP auch noch überwiegend der Fall. Bei allen anderen kommt es nur noch minderheitlich vor. Weil es Generationenbrüche gibt, mit denen man, aus einem FDP-Haushalt stammend, nun SP wählt, oder weil man genug hat von der CVP, welche die Schweizer nicht genug hochhält und nun bei der Jungen SVP ist. Das ist typisch für die konfigurative Konstellation. Die Diskussionen unter Gleichaltrigen übertreffen die Wirkungen des familiären Mittagstisches.

Das Komplexe an der Zukunftsgesellschaft

Anhand der neuen Medien kann man sogar noch weiter gehen. Die Kids der etablierten Manager sagen ihrem Vater, wenn seine Firma nicht bald twittert, auf facebook ist, dann werde sich von der eigenen Geschichte eingeholt werden. Denn dann würden sie, die Kids, in den social media über die Firma berichten. Das ist typisch präfigurativ.

Vielleicht wird daraus sogar mehr: Der Zukunftsforscher Matthias Horx (“Das Buch des Wandels”) hat die bisher höchste Komplexität der Analyse angetönt: Bis 1968 waren Gesellschaften wie die schweizerische postfigurativ, wurden dann konfigurativ, und entwickeln sich heute zum präfigurativen. Für die Zukunft sieht er eine transfigurative Konstellation aufkommen, in der sowohl die Medien wie auch der Wächterrat von Bedeutung sein werden:

. die Medien mit ihren Vorbildern (Roger Federer, Paris Hilton oder Christoph Blocher), die Grundorientierung von leistungsorientierten, erfolgsverwöhnten Sportlern, von Tussis, die keinem sexuellen Experiment abgeneigt sind, aber auch von nationalkonservativen Patriarchen, für die Wirtschaft wie Politik Status ist, in die ganze Gesellschaft transportieren und Milieus tendenziell auf (denn wir alle werden ein wenig hybride Gesellschafts- und PolitikkonsumentInnen) auflösen,

. sodass es soziokulturelle Wächterräte braucht, die über die Familien hinweg für ordnende Leitbilder in der Mediengesellschaft sorgen: die Eliteschulen wie die HSG für angehenden Leader, das Opus Dei, um die katholische Kirche vor dem Zerfall zu retten, und die SVP, die abschliessend definiert, wer eine guter Schweizer ist und wer nicht. Damit sind sie in der Definition des soziokulturellen Wandels erheblich, beeinflussen bisherige Milieus oder lassen auch neue entstehen!

Das Pragmatische von Milieustudien

Die Milieu-Studien der Socio Vision, über die wir uns ja unterhalten haben, sind ein Kombi von dem. Sie beobachten Menschen in ihrem Lebenszyklus. Sie beschreiben aber auch den kulturellen Wandel ganzer Gesellschaften. Dabei interessieren sie sich für drei Sachen: die Schichten, die sich ändern (aufgrund von Ausbildung, Alterung und Migration), und die Grundhaltungen, die sich beschreiben lassen. Jede(r) von uns hat da seine Position, idealtypisch mitten in einem Milieu, oder als Mischgruppen am Rande von Milieus. Die Zuordnung kann sich im Verlaufe eines Lebens ändern, muss sich aber nicht. Aenderungen sind bei hoher Mobilität, räumlich oder sozial zu erwarten: So beginnt man beispielsweise als Eskapist, wird zum Postmateriellen und endet bei den Arrivierten. Es ändern sich aber auch Milieus. In Deutschland, weil die DDR mit ihrer Milieu-bildenden Kraft der Geschichte angehört, in der Schweiz, weil die Arbeiterschicht nicht einfach mehr arm und links ist, sondern sich konsumorientiert an der Mittelschicht ausrichtet und politisch national denkt.

Der Vorteil von Milieustudien, wie sie hier diskutiert wurden, liegt darin, dass sie komplex genug sind, um der sozialen Realität einigermassen gerecht zu werden, aber auch nicht überkomplex sind, sodass sie zu keinerlei Anwendung führen. Es sind Forschungsprojekte, für die Praxis gedacht, also für dich, nicht für die Grundlagenforschung. Die ist zwar auch am Thema dran, neigt aber dazu, zu stark zu verallgemeinern. Wenn du dich selber überzeugen willst, lies das Buch von Gerhard Schultze, “Die Erlebnisgesellschaft”, der sich mit den gleichen Phänomenen beschäftigte, wohl aber weniger konkrete Angaben machen konnte.

So, ich hoffe, du verstehst mich jetzt besser.

Claude Longchamp

Kultureller Wandel und soziale Lage als Analysebasis unseres Alltags.

Es war ein interessantes Gespräch am Wochenende, das nachhalt. Geführt habe ich es mit einer Fachfrau für Kommunikation, einer Naturwissenschafterin, die in die Politikberatung eingestiegen ist, und heute für ihre Kundschaft, basierend auf sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, Empfehlungen entwickelt.

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Sinus-Milieus im zweidimensionalen Feld: soziale Lage und kultureller Wandel zu einem Analyseschema verarbeitet

Ausgangspunkt unserer Erörterungen waren die Sinus-Milieustudie, eine deutsche Forschungstradition, die heute in vielen westlichen und östlichen Ländern verbreitet ist, und seit knapp 10 Jahren auch in der Schweiz angewandt wird.

Wie alle Milieu-Untersuchungen geht sie davon aus, dass das Soziale nicht alle strukturell wirkt, sondern kulturell vermittelt wird. Oder in den Worten der ForscherInnen: Die soziale Lage wirkt im Alltag durch Grundorientierungen vermittelt. Diese umfassen die Ziele des Strebens, die Lebensstile und das Alltagsbewusstsein.

Konkret: Auf die Pflicht- und Akzeptanzwerte der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg folgte in den 60er Jahren eine Generation durch Besitz und Status geprägt, in den 70er eine solche durch Freiheit und Selbstverwirklichung geleitet war, während in den 80er Jahren Genuss und Individualisierung, in den 90er Jahren die Multioptionalität prägten. Die neuesten Entwicklungen drehen sich um Antworten auf globale Komplexität und Arbeitsmarkt-Flexibilität.

Die Sinus-Milieus sind zweidimensional aufgebaut: Zuerst berücksichtigten sie die Schichtung mit oben und unten, dann die Grundorientierungen, wie sich über die Zeit entwickelt und verfestigt haben. Daraus lassen sich (für die Schweiz) mindestens 10 Milieus ableiten: dasjenige

der traditionellen Kleinbürger (9% der Schweizer Bevölkerung),
der selbstgenügsamen Traditionalisten (10%),
der Arrivierten (10%),
der Statusorientierten (9%),
der bürgerlichen Mitte (16%),
der konsumorientierten Arbeiterschaft (8%),
der PostmaterialistInnen (11%)
der EskapistInnen (10%),
der neuen Performer (11%) und
der ExperimentalistInnen (6%).

Die beiden ersten sind Traditionsmilieus, die beiden letzten junge, die erst in Entstehung begriffen sind, während die anderen als die modernisierten, mehr oder minder gefestigten angesehen werden.

Nun kommt der springende Punkt unserer Diskussion vom Wochenende: Erwartet wird, dass Milieus, die sich unter bestimmten zeitgeschichtlichen Bedingungen entwickelt und sich danach länderspezifisch verfestigt haben, als gesellschaftliches Patchwork mit einer gewissen Festigkeit auf Entscheidungen im Alltag, aber auch in der Politik einwirken. Das Ganze ist jedoch nicht statisch, weil mit dem demografischen Wandel alte Milieus wegsterben, während neuen entstehen, und weil sich die Gewichte der verfestigten Milieus auch leicht verschieben können.

Aus meiner Sicht liegt genau da der grosse Vorteil dieser Analyseart. Anders als zahlreiche sozialwissenschaftlichen Standardwerke postulieren die Sinus Milieus nicht einen epochalen Uebergang von einem Zustand A zu einem Zustand B. Vielmehr verstehen sie sich als eine Ethnologie unseres Alltags, die mehr als nur Einzelfälle beobachtet, diese aber nicht einfach schematisiert. Sie typisieren sie hinsichtlich der Grundorientierungen und der Schichtung, und kombinieren das Ganze mit dem Kulturwandel.

Anwendungsfelder hierfür ergeben sich im Marketing- und in der Medienforschung, zur Analyse des Konsumverhaltens, genauso wie für die Bestimmung neuer religiöser Potenziale und auch parteipolitischer Entscheidungsabsichten. Schade nur, dass das Spannende, das hier erst beginnt, bisher kaum öffentlich ist und auf den wissenschaftlichen Diskurs ausstrahlt.

Claude Longchamp

Zum Vergleich: Sigma Milieus

Demokratisch – autokratisch

Kriegsdrohungen aus Nordkorea.
Geplünderte Staatskasse im Tschad.
Verhaftungen der Oppositionsführer in Weissrussland.
Strenges Mediengesetz in Ungarn.
Misstrauensvotum in Italien.

Das alles sind schlechte Nachrichten für die Politik – gesammelt in nur ein Woche. Dabei machen immer wieder Zweifel an der Demokratie die mediale Runde. Schnell ist von Diktaturen die Rede, von autoritären Regierungen und undemokratischer Kultur. Was ist davon zu halten?

Demokratieindex (gemäss Economist) 2010

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grün: Demokratien, organge: Hybridsysteme, rot: Autokratien, Quelle: Demokratieindex

Die Politikwissenschaft hat mehrere Messinstrumente entwickelt, um die Evidenz solcher Einschätzungen prüfen zu können. Sie alle basieren auf der Idee, dass Demokratie nicht einfach besteht, sondern anhand von Kriterien bestimmbar ist.

In der einfachsten Variante wird zwischen zwei Systemtypen unterschieden: Demokratie und Autokratien. In der verfeinderten Variante ist der Uebergang nicht statisch, sondern werden verschiedene Uebergänge dynamisch konzipiert.

Aus meiner Erfahrung gut brauchbar ist der Demokratie-Index des Economist. Er basiert auf 5 Indikatoren, die Demokratie empirisch bestimmbar machen:

. der Ausgestaltung von Bürgerrechten
. dem Pluralismus im Wahlrecht
. der Funktionsweise der Regierung
. der Partiziaption der Bürgerschaft und
. der Entwicklung der politische Kultur.

Die fünf Einzelbeurteilung werden zu einem Gesamtindex verrechnet, der von 0 bis 10 reicht. In der Folge werden die Staaten in 4 Gruppen eingeteilt: vollwertigen und mängelhafte Demorkatien, Hybridsysteme und Autokratien.

2010 galten 79 der 168 bewerteten Staaten (48%) als Demokratien, 16 Prozent als vollwertige und 32 Prozent als mangelhafte. 33 waren Hypbridsystem (20%), und 55 Autokratien (32%). In Prozent der Weltbevölkerung lebt genau die Hälfte in einer Demokratie.

Die fünf zu Beginn heraus gegriffenen Staaten werden sehr unterschiedlich bewertet: Nordkorea gilt als das undemokratischste oder autokratischste Regime der Gegenwart. Das trifft praktisch im gleichen Masse auch auf den Tschad zu. Nur unwesentlich besser klassiert wird Weissrussland. Es zählt ebenfalls zu den Autokratien.

Ungarn und Italien gelten dagegen als mangelhafte Demokratien. In Italien wird die Funktionsweise der Regierung kritisiert, verbunden mit der eingeschränkten Bürgerpartizipation. In Ungarn kommt eine wenig entwickelte demokratische Politkultur hinzu.

Die politischen Systeme beider Länder sind aber einiges davon entfernt, bereits als Hybridsysteme zu gelten, indenen sich eindeutig demokratische und autokratische Elemente mischen. Treffender ist es, von Fehlern im demokratischen System zu sprechen.

Ich bringe das nicht auf, um die Probleme in Italien oder Ungarn schön zu reden. Ich bin aber überrascht, wie schnell journalistische Urteile auftreten und in den politischen Alltagsdiskussionen aufgeben. Ihnen mangelt es nicht selten an Uebersicht – über die ganze Spannweite der Ausprägungen politischer Systeme und die Positionierung einzelner Länder in dieser Landschaft.

Da finde ich, hat die theoretisch und empirisch angeleitete Betrachtungsweise der Demokratiemessung, wie sie die Politikwissenschaft entwickelt hat, klare Vorteile.

Claude Longchamp

PS:
Die Schweiz befindet sich regelmässig unter den 10 Top-Demokratien. Bemängelt wird einzige die zu wenig ausgeprägte BürgerInnen-Partizipation bei Wahlen. Ganz oben ist dieses Jahr Norwegen – eine konstitutionelle Monarchie mit parlamentarischem System …

Zuversichtliche SchweizerInnen

Heute erscheint das Sorgenbarometer 2010. Es informiert uns über die Sorgen der SchweizerInnen, von denen sie durch Massnahmen der Politik Abhilfe erhoffen. Normalerweise werde ich dabei von den Medien befragt, welches Ergebnis man nicht einfach erwarten konnte. Gerne nehme ich das auf und sage ich: dass die Zuversicht in die Zukunft der Schweiz nicht nur verbreitet ist sondern auch zunimmt.

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Alle Unterlagen dazu finden sie hier.

Das Ueberraschende an der 34. Ausgabe des Sorgenbarometer für die Credit Suisse ist nicht, dass zum x-ten Mal die Sorge um die Arbeit an der Spitze der Probleme unserer Bürgerschaft steht. Wirklich überraschend ist, dass auf die Frage nach dem Vertrauen in Institutionen die politischen erneut zugelegen konnten.

Das widerspricht zunächst der medialen Behandlung von Bundesrat, Ständerat und Nationalrat. Denn fast täglich wird da ein Versagen unterstellt, werden da mehr oder minder deutliche Anlässe skandalisiert und entsteht so ein generelles Klima des Misstrauens.

Ganz anders sind die Ergebnisse im Sorgenbarometer. Denn seit 2004 äussern repräsentative Querschnitte der Bevölkerung mehr und mehr Vertrauen in unsere Behörden.

Den Hauptgrund hierfür sehe ich in der wachsenden Orientierung der SchweizerInnen an der Schweiz. Bei aller Kritik, die an den eigenen PolitikerInnen und ihren Leistungen geäussert wird; bei alle Opposition gegen Entscheidungen die Regierungen und Parlamente fällen: im Vergleich mit dem Ausland schneiden unsere Behörden gut ab.

Das hat zunächst mit der allgemeinen Wirtschaftslage zu tun. Diese wird, was die Schweiz betrifft, weniger negativ beurteilt als die des Auslandes. Von den ganz grossen Auswirkungen der Finanzmarktkrise sind wir in der Schweiz verschont geblieben. Die Zuversicht, die schwierigste Phase hinter sich zu haben, nimmt bereits wieder zu.

Sodann hat auch die Politik in der Krise mehr gewonnen als verloren. Das trifft mit Sicherheit nicht auf jeden Bundesrat oder jede Parlamentarierin zu, insbesondere wenn sie sich profilieren, wenn sie sich streiten, und wenn sie nichts entscheiden. Es gilt aber im Grossen und Ganzen.

Gewonnen hat seit 2008 insbesondere das Schweizerische. Es steht für Zuverlässigkeit, für Leistungsfähigkeit, für Dauerhaftigkeit. Von dieser Grundbefindlichkeit profitieren auch die politischen Behörden. Denn ihnen traut man zu, das richtige Mass zu finden zwischen dem verbreiteten Wunsch nach Unabhängigkeit und der Einsicht in die Notwendigkeit von Kooperationen.

Hätte man genau diese Grundhaltung in der Schweiz nicht mehr, würden die Misstrauenswerte für Legislativen, Exekutiven und Judikative schon längst ins den Himmel steigen. Doch ist das nicht der Fall. Nicht ein Mal nicht, sondern nun zum 5. Mal hintereinander nicht.

Klar: Man kann auch ein Fragezeichen hinter dieses Ergebnis setzen, orakeln, ob es nicht nur Vorstellungen sind. Anlässe für Missverständnisse Wunsch und Wirklichkeit findet heute jeder und jede. Man kann auch kritisieren, das Fremd- und Selbstbild der Schweiz immer mehr auseinander fallen. Denn was die SchweizerInnen über sich denken, schert manchen im Ausland nicht.

Doch diese Fragen kann das Sorgenbarometer gar nicht beantworten. Es ist aber in der Lage zu zeigen, wie die SchweizerInnen auf die aktuelle Krise reagieren. Probleme nennen sie zuhauf, Unzufriedenheit findet sich in vielen Antworten. Doch steht dem auch ein Urvertrauen in die eigene Stärke gegenüber.

Ich denke, das ist Anlass genug, nicht mit der verbreiteten Alarmismus, der üblichen Selbstanklage oder der herablassenden Besserwisserei auf die Ergebnisse der BürgerInnen-Befragung von heute morgen (8 Uhr) zu reagieren. Vielmehr fordere ich alle LeserInnen auf, nüchtern das aufzunehmen, was uns mehr als 1000 ausgewählte Personen Jahr für Jahr berichten: dass sie die Schweiz kritisieren, dass sie sie mögen, und dass sie ihr zutrauen, die Zukunft zu bewältigen.

Claude Longchamp

Jugendbarometer: Die Spider-Generation in der Schweiz und darüber hinaus

Jugendliche bewegen sich in den Kommunikationsnetzte selbstverständlich und zielsicher wie Spinnen in ihren Netzen. Dennoch sind nicht alle 16-25jährigen in der Schweiz gleich. Das erste Jugendbarometer, erstellt vom Forschungsinstitut gfs.bern für die Credit Suisse und heute publiziert, erhellt die Werthaltungen, Denk- und Verhaltensweisen der Jugendlichen in der Schweiz, den USA und Brasilien..

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Wichtige Werte der Jugendlichen in der Schweiz sind Freunde, Partnerschaft. Darüber hinaus zeichnen sich starke Trends zum Beruf und Lebensgenuss ab. Eine guter Schweiz, eine gute Schweizerin zu sein, steht gar nicht im Vordergrund. Die Kombination aller Antworten lässt systematisch Typen von Werthaltungen unter den Schweizer Jugendlichen aufscheinen. Dieheute veröffentlichte Studie von gfs.bern identifiziert 6 davon:

. Fleissige IndividualistInnen (26 % unter den Schweizer Jugendlichen): Aus- und Wertbildung, Beruf sind ihnen besonders wichtig. Sie suchen öffentliche Anerkennung, und setzen hierfür auch ihr Aussehen ein. Zu Politik haben sie kaum eine Verbindung
. Erlebnisorientierte (19 %): Reisen in alle Welt, sind ihnen ganz wichtig. Sie setzen auch auf Konsum. Sie leben in Städte, wechselnden Wohnformen, stammen selber aus bildungsnahen Haushalten. Politisch sind sie sozialliberal ausgerichtet.
. Bürgerliche (19%): Sie sind in hoher Zahl bereits berufstätig, haben eine feste Partnerschaft und leben in einer eigenen Wohnung. Politisch richten sie sich an einem bürgerlich-konventionellen Leben aus.
. Aktive Materialisten (15%): Geld und Genuss sind ihnen am wichtigsten. Umweltschutz finden sie überholt, spannende Diskussionen sind nicht nötig. Politik interessiert sie kaum
. Ethische PostmaterialistInnen (14%): Umweltschutz und Selbstentfaltung sind ihnen am wichtigsten. Geld ist obsolet, Aussehen unwichtig, politisch stehen sie verstärkt links.
. Resignierte (7%): Sie haben in der Erwachsenenwelt nocht kaum Fuss gefasst. Es fehlt an Geld, an Zielen, an Integration. Nichts erscheint wirklich erstrebenswert.

Das 1. Jugendbarometer hat das gfs.bern für die Credit-Suisse realisiert. Es ist aus dem Sorgenbarometer hervorgegangen, wird aber anders produziert. Zunächst wurde ein neuer Fragebogen entwickelt, der Hoffnungen und Aengste Jugendlichen gleichmässig aufnimmt. Sodann wird die Erhebung nicht nur in der Schweiz gemacht, sondern auch im Ausland. 2010 fand ein Testlauf in den USA und Brasilien statt, ein weiteres Dutzend Ländern sollen das nächste Jahr hinzu kommen. Das hat zur Folge, dass die Erhebung der Daten via Internet erfolgt, gesteuert durch eine spezielle Stichprobenbildung. Den ganzen Bericht zur Schweiz und zum internationalen Vergleich kann man hier einsehen.

Claude Longchamp

Schweiz, Oesterreich, Deutschland: politische Kulturen im Forschungsvergleich

Es hat gedauert, bis der Band wirklich erschienen ist. Doch liegt mit dem Buch „Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa“ nun ein umfangreicher Sammelband vor, der in der ländervergleichenden politischen Kulturforschung mittels Umfragen neue Massstäbe setzt.

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Oscar Gabriel, Politikprofessor in Stuttgart, hat die Einleitung zu „Citizen Politics“ als wissenschaftliches Konzept verfasst, in der es ihm um eine Neudefinition des Verhältnisses von „Bürger und Politik“ (in der Demokratie) geht. Politische Einstellungen, politische Kommunikation und politisches Verhalten sind seine Grundkonzepte. Damit definiert er den Gegenstand offener, als es die Begründer in den USA taten, aber auch im deutschsprachigen Raum nach Max Kaase üblich war. Auch geht der Kenner der Materie über die individualistischen und funktionalistischen Ansätze der bisherigen Politischen-Kultur-Forschung hinaus, wenn er zwei neue Forschungsperspektiven diskutiert: einerseits die Differenzierung in zentrale und periphere Elemente der Staatsbürgerkultur, anderseits eine stringentere Verknüpfung zwischen Mikro- und Makroebene einschliesslich der damit verbundenen Kausalitätsfragen.

Im Sammelband folgen drei Länderkapitel, je eines zu Deutschland, Oesterreich und der Schweiz. Sie sind im Ansatz gleich aufgebaut, um als Nachschlagewerk über Zeit und Raum die aktuellen Ergebnisse aus der Umfrageforschung. Verfasst wurden Oscar Gabriel und Kajta Neller (Stuttgart) aufgrund deutscher, von Fritz Plasser und Peter Ulram (Innsbruck/Wien) anhand österreichischer und von Bianca Rousselot und mir (beide Bern) mit schweizerischen Daten. Dabei schöpfen alle AutorInnen aus dem Fundus der nationalen Forschungsergebnisse, soweit ihnen diese aus der theoretischen und vergleichenden Perspektive sinnvoll erscheinen. Die Bezüge zu Demokratie, politischer und medialer Involvierung und der Unterstützung nationaler und europäischer System interessieren dabei in allen drei Kapiteln gleichermassen.

Das alles wir im Synthesekapitel der beiden Editoren Gabriel und Plasser in zwei Schritten vereinheitlicht und summarisch mit den Resultaten in Verbindung gebracht, welche ein analoges Unterfangen vor 20 Jahren für die drei (damals noch vier) Länder hervorgebracht hatte. Der wichtigste Befund hierzu ist, dass die nationalen Besonderheiten, die stark aus der Struktur des jeweiligen nationalen politischen Systems abgeleitet werden konnten, zwar nicht verschwunden sind, aber erheblich eingeebnet wurden. Rangierte die Schweiz hinsichtlich der “Citizen Politics” Ende der 80er Jahre überraschender Weise nur auf Rang 3 im Dreiländer-Vergleich, und lag (für mich ebenso erstaunlich) Oesterreich an der Spitze, hat sich, aufgrund der Neudefinition der Kriterien ein Platzwechsel zwischen der Schweiz und Deutschland ergeben.

Konkret sind Demokratieunterstützung und -zufriedenheit in allen drei Ländern vergleichsweise hoch (letzteres kennt in der Schweiz einen Spitzenwert). Das gilt etwas eingeschränkt auch für die politische Einbettung, gemessen am kognitiven Engagement und an der Parteiidentifikation (wobei die Abstriche in Oesterreich und Deutschland etwas grösser ausfallen). Indes erweist sich die mediale Involvierung in politischen Fragen im Vergleich generell tief (ganz besonders in der Schweiz), ohne dass sich das nachteilig auf die politische Partizipation im konventionellen wie auch unkonventionellen Sinne auswirkt, während die Wahlbeteiligung in der Schweiz der direkten Demokratie wegen auffällig tief ist, und es weitgehend auch geblieben ist. Keine Auswirkungen lassen sich jedoch beim Vertrauen nachweisen, das gerade in der Schweiz am höchsten ausfällt – und zwar nicht nur auf die nationale Ebene bezogen, sondern auch auf die europäische. Dabei ist zu erwähnen, dass die Euroskepsis namentlich in Oesterreich, aber auch in Deutschland angesichts unerwarteter Hoffnung mit der EU-Mitgliedschaft am wachsen ist. In den beiden untersuchten EU-Staaten drückt sich das auch in einer mittleren Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung und dem Output des politischen Systems aus, was in der Schweiz (noch?) wenig beobachtet werden kann.

Ganz interessant ist der Schluss des Buches, der alle Befunde im grossen europäischen Massstab diskutiert. Er legt nahe, dass die politische Kultur Russland nur mit sich selber verglichen werden kann. Darüber hinaus macht er deutlich, dass ein osteuropäischer, ein nordeuropäischer und westeuropäischer Typ existiert. Deutschland und Oesterreich gehören zum letzteren, während die Schweiz aus der Sicht der empirischen Komparatistik am meisten Gemeinsamkeiten mit Luxemburg (und mit Finnland) kennt und zu keinem Typ passt.

Der grosse Vorteil des übersichtlich gemachten Buches ist, die vergleichende politische Kulturforschung recht systematisch erfasst und ein Stück weit auch vorangetrieben zu haben. Die Länderkapitel können sowohl für die länderspezifische Forschung nützlich werden, wie auch den internationalen Vergleich befruchten. Am innovativsten ist sicher auch die Synthese, die auf den insgesamt 14 Indikatoren beruht, die national und europäisch sinnvoll erscheinen, inskünftig zum Kern der politischen Kulturmessungen gezählt zu werden. Wohl noch am wenigsten eingelöst wurde der Anspruch zu klären, wie politischen Strukturen und politischen Kulturen mehr als über ihre jeweilige Geschichte in ihrer Entstehung zusammenhängen.

Claude Longchamp

Erhebliche Elite/Basis-Konflikte breit dokumentiert

Lohnexzesse und Bankenrettung polarisieren wie nichts anderes zwischen oben resp. unten und könnten Auswirkungen auf politische Institutionen wie den Bundesrat haben.

Wenige Elite/Basis-Vergleiche in der Schweiz
Umfragen in der Schweiz sind mitunter selber durch die politische Kultur geprägt. Denn sie beziehen sich meist auf alle, sprich die stimm- und wahlberechtigte Bevölkerung. Deren Denken muss bekannt gemacht werden. Das ist im Ausland bei weitem nicht im gleichen Masse der Fall, interessiert man sich doch gleichwertig auch für Einstellungen der Eliten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Befragungsserie SOPHIA, welche Marie-Hélène Miauton seit Jahren realisiert, bildet eine Ausnahme. Vielleicht hängt es mit dem Werdegang der Forscherin zusammen, die in Marokko geboren wurde und französisch-schweizerischer Abstammung ist. Die Publikation der Studie in den Medien der Tamedia-Gruppe arbeitet die spezifischen Erkenntnisse, die man aus dem Vergleich von Eliten und Basis herausarbeiten kann, wird textlich nicht spezifisch gewürdigt, datenmässig ist er aber breit möglich.

Die grössten Unterschiede

Die massivsten Differenzen in beiden Befragungen, welche diesen Frühling gemacht wurden, ergeben sich bei Einkommenslimiten für UnternehmenleiterInnen. Eine klare Mehrheit von 78 Prozent der Bevölkerung befürwortet diese; bei den befragten Leadergruppen sind die Meinungen geteilt, befürwortet wird die Forderung von 49 Prozent; 44 sind dagegen.

Damit einher geht eine diametrale Beurteilung der Gewerkschaften. 66 Prozent der Bevölkerung schenkt ihnen volles oder ziemliches Vertrauen. Innerhalb der Leader sind es gerade 30 Prozent. Aehnliches gilt für die KonsumentInnen-Organisationen; immerhin gilt der Befund nur abgeschwächt.

Polarisierend wirken die Banken. Doch sind die Verhältnisse hier genau umgekehrt. Das Vertrauen der Eliten ging mit den aktuellen Ereignissen massiv verloren: 65 Prozent der Leader sehen es bei sich sehr erschüttert; 69 Prozent sind analog mit der Rettung der UBS einverstanden. In der Bevölkerung reicht der starke Vertrauensverlust weniger weit (39%), und man hat mehr Mühe, zum Rettungsplan zu stehen (52%) dagegen.

In einem Punkt gibt es zwar nicht andere Mehrheiten, aber eine symptomatische Differenz. Sie betrifft die Volkswahl des Bundesrates, die von Eliten und Bevölkerung mehrheitlich nicht gewünscht wird. Bei den Leadergruppen sind die Meinungen hierzu eindeutig negativ. 85 Prozent sind hier dagegen. Bei der Bevölkerung sind es nur noch 30 Prozent.

Eine kurze Würdigung
All die Themen, die hier erwähnt wurden, können im gegenwärtigen Krisengefühl zum Spielball zwischen Volk und Taktgebern werden. Mediendemokratie kann da rasch von der Vermittlung zwischen den Pol hin zur Klagemauer gerade zwischen BürgerInnen und Behörden oder Leaderfiguren werden.

Die klarste Polarität resultiert bei der Lohnspirale, die oben und unten verschieden dreht, und genau so gelesen wird. Deshalb will man ob von Gewerkschaften nichts wissen, unten ortientiert man sich immer mehr danach.

Latent kann sich ein solches Klima auch auf die Banken auswirken; ebenso auf den Bundesrat: Denn die Rettung der UBS wird in der Bevölkerung nicht einfach geschluckt, und die Aussenorientierung des Bundesrates kann ihn als Volksferne angekreidet werden. In beiden Fällen halten die Eliten dagegen, und machen hier noch die Mehrheitsmeinung aus.

All jene, denen rationale Lösungen in einem emotional aufgewühlten Krisenumfeld wichtig ist, kann nur geraten werden, sich diesen Fallstricken der Politik genau anzunehmen. Denn die Kluft zwischen oben und unten gehört nicht nur in der Forschung zu den unterschätzten Themen. Auch die Politik beschäftigt sich mit dem Hinweise auf “Populismus” nicht gerne damit.

Vom starren Konsens zum beweglichen Diskurs

In seiner Gegenwartsdiagnose dem (Zu)Stand der Schweiz kommt der Zürcher Politphilosoph Georg Kohler zu einem Schluss, der meinem von gestern zum Zusammenhang von polit-kulturellem Wandel und Mediengesellschaft gleicht.

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Ausgangspunkt der kürzlich erschienen Gegenwartsanalyse ist die spürbar härter gewordene Auseinandersetzung in der helvetischen Politik, die zu einem Bruch mit dem Grundsatz geführt hat, gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Kohler sieht das nicht nur, aber auch als Resultat der “Mediendemokratie” mit der Verlagerung der massgeblichen Auseinandersetzungen von den klassischen Arenen wie Parlament, Meinungspresse und Debattierclubs hin in Räume der Medienindustrie. Diese funktionieren konsequent nach dem Schema der Simplifizierung des Geschehens in Form von Skandalen, was zu einer hysterischen Themenbehandlung führt, um Aufmerksamkeit zu generieren.

Sein Befund: “Den herkömmlichen Regularitäten der schweizerischen politischen Kultur widerspricht dieses System diametral; es bevorzugt die Propagandamächtigen der Entweder/Oder-Programme, die mit Popularisierungen operieren und verdrängt so die vermittelnde Problemlösungsdebatte.”

Doch würde man Kohlers Diagnose nicht gerecht, sähe man die Mediendemokratie nur negativ. Denn er erwähnt auch die positiven Seiten: “Politik, die spannend genug erscheint, um die Leute emotional herauszufordern, ist nicht einfach schlechte Politik; und im Land der (halb-)direkten Demokratie ist die Beteiligung breiter Schichte an den Prozessen der staatlich-politischen Entscheidfindung ohnehin so wesentlich wie bejahenswert.”

Kohler interessiert die Wirkungen auf dem Gemeinsinn, das heisst, die Bereitschaft, die Perspektive des Andern mitzubedenken – die Sicht des politischen Gegners also – mit dem man sich irgendwann einigen muss.

Der Philosoph zieht folgenden Schluss: Nach wie vor braucht es bei allen Beteiligten eine überwölbende Idee und Praxis des vernünftigen common sense, den er in Anlehnung an ein grosses Wort von Jean-Jacques Rousseau den esprit général tauft. Der sei aber nicht mehr im starren Konsens herstellbar, nur noch im beweglichen Diskurs. Und der wiederum müsse verbindlicher bleiben als der reine politische Streit, der nur wegen einem Systemwechsel betrieben werde.

Ob das gelingt oder scheitert, weiss auch Georg Kohler nicht. Fast schon ein wenig zeittypisch bietet er seinen LeserInnen eine Wette an. Der liberale Optimist in ihm neigt dazu, auf Ersteres zu setzen.

Rechtsradikale Parteien in Europa und der Schweiz: Wer zählt dazu?

In seiner Doktorarbeit schlägt der Fribourger Historiker Damir Skenderovic eine Typologie zur Bestimmung rechtsradikaler Parteien vor. Sie hat erhebliche Konsequenzen auf die Bestimmung der entsprechenden Wähleranteile in europäischen Demokratien – auch in der Schweiz.

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Die neue Typologie …

Die wichtigsten unter rechtsradikalen Parteien sind nach der neuen Definition von Damir Skenderovic die rechtspopulistischen. Ihnen sind drei Eigenschaften gemein: der Bezug auf das “Volk”, das verraten worden sei und von neuen Parteien vertreten werden müsse, die Hochhaltung der kulturellen Differenzen zwischen der Eigengruppe und den Fremdgruppen, und die Anbindung an die Demokratie, insbesondere an ihre direkten Aktionsmöglichkeiten. Ohne Zweifel zählt die Schweizerische Volkspartei (SVP) hierzu.

Die zweitwichtigste ist für Skenderovic die neue Rechte. Anders als die populistischen Parteien ist sie elitär, wird sie von rechtskonservativen Intellektuellen getragen. Sie entwickeln und fördern insbesondere den Diskurs der kulturellen Differenz. In der Schweiz gibt es keine Partei, die dazu passt. In Frankreich sind es die Anhänger von Alain de Benoist.

Und an dritter Stelle rangiert nach Skenderovic die extreme Rechte, klar antidemokratisch, rassistisch und gewaltbereit. Auch dieser Typ rechtsradikaler Partei gibt es in der Schweiz nicht. In Deutschland zählt die NPD hinzu, in Ungarn Jobbik.

Gemäss dieser Einteilung hat die Schweiz den höchsten Anteil Wähler rechtsradikaler Parteien in der Schweiz. Sie resultieren aus dem Ergebnis der SVP. Es folgen die Niederlande und Ungarn mit je 17 Prozent, Belgien und Dänemark mit je 15 Prozent und Oesterreich mit 13 Prozent.

… und ihre Kritik

Mir widerstrebt die Zuordnung aller rechspopulistischer Parteien und deren Wähler zum Rechtsradikalismus. Sie SVP bezeichne sich stilistisch zwar meist auch so, inhaltlich aber überwiegend nationalkonservativ. Das zeigt sich in ihrem Gesellschafts- und Wirtschaftsverständnis, in ihrer europa- und weltpolitischen Programmtik, und ihren Vorstellungen zur Ausländerfrage. Für mich ist die Bindung der SVP an die direkte Demokratie der klarste Beleg, sie nicht tel quel in der rechtsradikalen Parteienfamilie einzuordnen.

Wenn man das so sieht, ist die obenstehende Karte erheblich irreführend. Die Schweiz, das führende europäische Land der Rechtsradikalen, würde wieder weiss eingefärbt werden. Genauer als Wähleranteile, in denen sich auch unterschiedliche Formen des Wahlrechts spiegeln, wären deshalb europaweite Befragungen zu politischen, kulturellen und institutionellen Verständnissen, wenn es gilt, das rechtsradikale potenzial zu bestimmen. Wohl würde man da auch besser sehen, dass zwischen rechtsextrem und neuer Rechte einerseits, und zahlreichen rechts-, national oder auch liberalkonservativen Strömung in den Wählerschaften klare Unterschiede bestehen.

Damir Skenderovic: The radical right in Switerland. Continuity and Chance, 1945-2000, Berghahn Books 2009.