“Die pluralistische Staatstheorie” – Hans Peter (“Mani”) Matter als Staatstheoretiker seiner Zeit

Kennen Sie den Staatstheoretiker Hans Peter Matter? Wohl nicht!
Kennen Sie Mani Matter, den Berner Chansonnier? Ziemlich sicher schon!

Was Sie vielleicht nicht bemerkt haben: Das ist zweimal dieselbe Person! Denn der beliebte Berner Liedermacher zur Wende der 60er zu den 70 Jahren im 20. Jahrhundert war eigentlich Jurist, städtischer Beamter in Bern und auf dem Weg ein Professor für Staatsrecht zu werden, als er 1972 bei einem Autounfall in der Nähe von Rapperswil tödlich verunglückte.

Morgen nun erscheint posthum das Fragment seiner Habilitationsschrift unter dem Titel “Pluralistische Staatstheorie” in Buchform. Editiert wurde das Manuskript im Besitz der Nachfahren Matters von Benjamin Schindler, Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen. Die Vernissage findet in der Berner Münstergass statt.

Matter, Oberassistent an der Uni Bern, liess sich 1967 für ein Jahr beurlauben, ohne je an die alma mater zurückzukehren. Gastrecht genossen er uns sein Familie in Studienjahr an wissenschaftlichen Institutionen in Cambridge. Dort wollte Matter die Schriften der Pluralisten erforschen, wie beispielsweise die von Harold Laski, im Zweiten Weltkrieg für kurze Zeit Präsident der britischen Labour Party, später Professor für Politikwissenschaft, der zu gutem Schluss Staatstheorie an der renommierten London School of Economics and Politics lehren sollte.

Neu und attraktiv erschien den damals führenden Schweizer Staatsrechtlern um Richard Bäumlin, den Staat nicht mehr absolut zu setzen, sondern als Ringen verschiedener Gruppen um Macht und Einflussnahme zu verstehen. Kein Souverän bestimmte mehr, was der Staat machte, aber auch keine unsichtbare Hand lenkte, was der der Staat entschied. Vielmehr war es eine Vielzahl von Interessen, in Gruppen organisiert, die im Staat aufeinander prallen und Politik und Recht gestalten.

Staatstheoretiker Matter fasste das in seinem Manuskript so zusammen: “Wir reden von der modernen pluralistischen Gesellschaft, in der eine Vielheit von Gruppen, in- und übereinander geschachtelt, eine Vielheit von sozialen Funktionen erfüllt und den Einzelnen gleichzeitig in mannigfaltigen Verbindungen und Abhängigkeiten stehen lässt. In einer solchen Gesellschaft sehen auch die Pluralisten den Staat als eine soziale Ordnung unter anderen mit einer spezifischen Funktion, von der her er zu verstehen ist. […] Er ist eine Vielheit von Individuen und Gruppen, denen die Einheit nur als Ziel gesetzt und gemeinsam aufgegeben ist.

Argumentativ ausbreitet wird diese These in Matters Habilitationsschrift mit einem Rundgang durch die Schriften unterschiedlichsten Zuschnitts. Zur Sprache kommen die Werke von Otto von Gierke, Emile Durkheim, William James, Léon Duguit, Hugo Krabbe und dem schon genannten Harold Laski. Die staatstheoretische Darstellung kreist dabei um die grundlegenden Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Recht, nach der staatlichen Souveränität und nach der Stellung von Individuum und Verbänden im und zum Staat, wie der Zytgloggenverlag schreibt, der das Buch nur einen Tag vor dem 40. Todestag Matters herausbringt.

“Pluralistische Staatstheorie” in Matters Worten tönt ein wenig wie “1968” – und es ist es auch! Der Staat als Unterdrücker, wie ihn Hobbs in seinem Leviathan konzipiert hatte, sollte vom Sockel gestossen werden. Aber auch der Staat als Ausdruck der Hegemonie herrschender Klasseninteressen, wie ihn Georg Hegel in seinen Schriften noch gefeiert hatte, unterlag damals heftigen Kritiken. Ein Hauch von Karl Marx lag in der Luft, aber auch die Ideen der undogmatischen Linken machten den Ton der zeitgenössischen Musik aus.

Die posthume Veröffentlichung der bisher unbekannten Schrift ist ein eindrückliches Zeitdokument. Den Stand der staatstheoretischen Vorstellungen repräsentiert es indessen nicht mehr. Denn die abstrakte Systemtheorie Niklas Luhmanns, die Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas haben genauso wie aktuelle Gerechtigkeitstheorien der Feministinnen, linke Demokratisierungstheorien und libertäre Staatskritik von rechts das Feld der modernen Vorstellungen vom Staat deutlich weiter aufgerissen, als es Matter kommen sah.

“Der Konsens zur Uneinigkeit” heisst der Untertitel des Bandes. Es entstammt dem letzten Zitat im Manuskript Matters. Der aber trifft, was ein knappes halbes Jahrhundert nach dem Tod des Liedermachers Mani und Staatstheoretikers Hans Peter Matter die Schweiz mehr oder minder zusammenhält.

Claude Longchamp