Wer wird neue(r) BundesrätIn?

Seit einige Tagen gibt es in Bundesbern nur noch eine Frage: Wer wird am 22. September 2010 neue Bundesrätin oder neuer Bundesrat? Wo es eine solche Erwartungshaltung gibt, wachsen auch die Angebote. Nicht in jedem Fall zum Vorteil der Information.

Umfragen
Auf Newsnetz fand während Tagen eine LeserInnen-Befragung statt. An der Spitze standen am Schluss Sominetta Sommaruga, gefolgt von Karin Keller-Sutter, Johannes Schneider-Ammann und Jacqueline Fehr. Damit rangierten die beiden offiziellen SP- resp. FDP-KandidatInnen vorne. Jean-Francois Rime von der SVP lag an fünfter Stelle, und die Grüne Brigit Wyss belegte den sechsten Platz. – Das Ergebnis ist nicht unplausibel. Es entspricht zwei etwas älteren Repräsentativ-Befragungen, wonach aus Bevölkerungssicht Sommaruga die gewünschte Leuenberger-Nachfolgerin ist, und Keller-Sutter auf Merz folgen soll. Die online Erhebung hat aber Schwächen: Sie unterschlägt, dass es am 22. September zwei Wahlen geben wird, und nicht alle 6 KandidatInnen in beiden Umgängen antreten werden. Zudem haben sie die übliche Schwäche von Mitmach-Umfragen: Interessierte können mehrfach abstimmen, um ihren Favoriten zu helfen, verfälschen aber damit das Bild der unterstellten Volkswahl.

Wahlbörsen
Auf der Wahlseite von SF findet sich neuerdings eine Wahlbörse. Wiederum führt hier Sommaruga, allerdings hier vor Rime und Fehr. Keller-Sutter ist vierte, etwas von Schneider-Ammann, und Wyss befindet sich wieder an sechster Stelle. Wahlbörsen basieren darauf, dass man mit eigenem Geld Aktien der KandidatInnen kauft, die man virtuell handelt. So stellt sich für jede Person ein Marktwert ein, der den Wahlchancen gleich gesetzt wird. – Was theoretisch als Prognoseinstrument Sinn macht, kennt in der Praxis Probleme: Gibt es zu wenige Trader, ist der Einfluss der Einzelnen zu gross. Dann kann es auch sein, dass eine Gruppe den Handel manipuliert, und genaus das ist der Wahlbörsen Tod! Im aktuellen Beispiel kann man das vermuten: Denn auf der ganzen Welt wetteten bisher gerade mal 23 Börsianer auf unsere BundesratskandidatInnen.

Pferderennen
Noch einfacher machen es sich gewisse JournalistInnen, die Bundesratswahlen mit Pferderennen gleichsetzen. Im “Blick” geht es dabei gar nicht mehr darum, wer vorne und hinten liegt. Dafür werden die Gewinne und Verluste in jeder Runde, sprich an jedem Tag, bilanziert. Worauf diese Stimmungsmache basiert, erfährt man als KonsumentIn nicht. Das ist bei Meinungsmachern in den Medien etwas besser, auch wenn die Argumente vor lautem Taktieren irritieren. So kritisiert Roger Schawinski in der Sonntagszeitung (nicht auf dem web), Sommaruga sei perfekt und populär, wohl wissend, dass beide Attribute unter den bürgerlichen ParlamentarInnen damit die Wahlchancen der Berner Ständerätin vermindern. Dreist war die Argumentation von Patrik Müller, Chef des Sonntags, gestern in der “Arena”. Er warb für Rime, damit Blocher 2011 nicht Bundesrat werde.

Simulation mit sauberem Tableau
Uneingeschränktes Lob verdient in dieser Sache erneut Bernhard Kislig von der BernerZeitung, der in der heutigen Ausgabe als Erster ein sauberes Tableau zu beiden Wahlen, mit den wahrscheinlichen KandidatInnen, ihren Chancen in den Wahlgängen und einem möglichen Ausgang erstellt hat. Das ist dem Verfahren bei Schweizer Bundesratswahl angemessen, und seine Kommentare lassen erkennen, wer wann welche Weichen stellt. Vielleicht hätte man noch etwas konsequenter mit Szenarien arbeiten können. Doch kommt er zu einem klaren Schluss: Beim Ausscheiden von Rime werden 66 Stimmen frei, die sich dann auf die FinalistInnen verteilen. Auf eine der Personen gerichtet, ist das entscheidend. So kommt es wohl darauf an, wer bei der SVP durchkommt oder durchfällt.

Claude Longchamp