Was man zur Finanzmarktkrise lesen sollte

Hat sich die Oekonomie seit der Finanzmarktkrise bewegt? Eine gute Frage, und Versuche guter Antworten.

ie Pleite von Lehman Brothers löste eine global beispielslose Finanzmarktkrise aus, die wiederum die Weltwirtschaft durcheinander wirbelte und die Politik der USA und der EU erschütterte. All das hat namentlich die viel gescholtenen Oekonomen aufgerüttelt, über ihr Wissen und dessen Grundlagen nachzudenken. Die NZZ am Sonntag listete einige der Werke auf, die zu lesen sich lohnt. Gerne gebe ich die weiter, von denen ich das auch sagen kann.

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Wider die Ignoranz …

Andrew Ross Sorkin: Die Unfehlbaren, Spiegel-Verlag 2010
Die typische Spiegel-Reportage mit 200 Beteiligten, im Genre eines Krimis verfasst

Nouriel Roubini, Stephan Mihm: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. Campus-Verlag, Frankfurt 2010
Dr. Doom der Finanzmarktkrise, weil er sie der Bedeutung der Schrottpapiere für das Schrottsystem vorhersah

Paul Krugman: Die neue Weltwirtschaftskrise, Campus-Verlag, Frankfurt 2009
Einflussreicher Wirtschaftsberater und Kritiker des Schattenbanksystems das neu reguliert werden sollte

Joseph Stiglitz: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft, Siedler, München 2010

US-Nobelpreisträger und Gegner freier Märkte, die ohne staatliche Rahmenbedingungen nicht funktionieren

George A. Akerlof. Robert J. Shiller: Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Campus, Frankfurt 2009
Rational-choice-Analyse missinterpretieren das reale Wirtschaftsverhalten, das viel instinktiver ist und Impulsen folgt

Carmen Reinhard, Kenneth Rogoff: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen. Finanzbuchverlag 2010

800 Jahre Finanzkrisen zwischen zwei Buchdeckeln analysiert, um den regelmässigen Zusammenhang von Verschuldung und Krise auszuloten

Niall Ferguson: Der Aufstieg des Geldes. Die harte Währung der Geschichte. Econ-Verlag, Berlin 2009
Reagierte 2008 sofort, unverbesserlicher Optimist, gemäss dem wir trotz kleinen Ausschläge in der besten aller Wirtschaftszeiten leben; lässt sich auch als Gegenprogramm lesen

Ein Buch, das mit als Ganzes gut gefallen hat, findet sich nicht auf der Liste der Sonntagszeitung. Es ist das schmale, aber gehaltvolle Bändchen von Roger de Weck mit seinen Schlussfolgerungen für ein sinnvolles Handeln in Zukunft.

Roger de Weck: Nach der Krise? Gibt es einen anderen Kapitalismus? Nagel&Kimche, 2010

Wer also noch einige Tage frei hat, kann sie auch nutzen, um sich in einer relevanten Frage weiter zu bilden.

Claude Longchamp

Ratlosigkeit, Angst und Zorn

Ralf Dahrendorf ist der Altmeister der Gegenwartsanalyse. Letzte Woche las ich von ihm unter dem Titel “Die Revolution bleibt aus!” eine Kolumne, die mir angesichts der ersten Ergebnisse zur Wahl ins Europäische Parlament unweigerlich wieder in den Sinn kommt.

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Ralph Dahrendorf, vormals EU-Kommissar, Soziologe, analysierte letzte Woche die Stimmungslage in Europa treffend

Die Grundstimmung beschrieb der liberal eingestellte, in der Oeffentlichkeit sehr präsente Soziologe so: Die Welt wird durch die Wirtschaftskrise geschüttelt. Doch steckt sie nicht in einer revolutionären Situation. Es gibt keine Energie der Veränderung. Denn es überwiegt die Ratlosigkeit. Sie ist gepaart mit Angst. Und diese verbindet sich mit Zorn.

Diese Mischung, sagt der Professor für sozialen und politische Theorie, kann jederzeit explodieren, wo auch immer. Das soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die realen Aussichten für die meisten BürgerInnen nicht rosig sind. Und das nicht nur für den Moment.

Dahrendorf, vormals EU-Kommissar für Deutschland, verglich in der Kolumne die jetzige Stimmungslage mit der der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts Mustergültig erarbeitet worden seien die Reaktionsweisen der Arbeiterschaft nicht durch Karl Marx, sondern durch Marie Jahoda. Wer galubte, es folge die Zeit des Aufbruchs, liege falasch. Denn damals wie heute überwog und überwiegt die Resignation. Und die ist keine politisch gestaltende Kraft. Maximal eine der Abrechnung.

Die Resultate zur Wahlbeteiligung, mit 43 Prozent ein historischer Tiefstwert (und gar noch tiefer als bei schweizerischen Parlamentswahlen!), aber auch die Ausschläge bei den Parteien lassen kaum einen anderen Schluss zu.

Claude Longchamp

Eigenverantwortung statt Eigennutzen

Die kulturkritische Debatte zu den zukünftigen Werten der Führungskräfte in den Unternehmen wird auch in der Schweiz immer deutlicher. Symptom hierfür ist die jüngste Sonderbeilage “Weiterbildung und Karriere” der Neuen Zürcher Zeitung.

“Eigenverantwortung statt Eigennutzen”, das könnte man als Titel über den Extrabund in der heutigen NZZ setzen. Das wird angesichts der öffentlichen Kritik am Shareholder-Value-Denken und -Handeln insbesondere in Banken bald schon zum Programm.

Einleitend zur Beilage kritisieren Doris Aebi und René Kuehni den erfolgten Kulturwandel insbesondere in der Finanzbranche. Ursache der Krise sei eine vom angelsächsischen Investment Banking beeinflusste, auf kurzfristigen Erfolg und persönliche Gewinnmaximierung ausgerichtete Mentalität. Das dichte Netz an Informationstechnologie haben dieser Veränderung global gefördert und die Bedeutung nationaler Regulatoren relativiert.

Jetzt, wo die sich selbst erzeugende Blase geplatzt sei, suche die Wirtschaft, von wütenden Kunden, enttäuschten Aktionären und verunischerten ArbeitnehmerInnen getrieben, nach einem neuen Aufbruch. Denn die Führungskräfte der Zukunft müssen einen radikale Erneuerung, die kulturelle Gegenrevolution bringen.

Dialog, Exzellenz und Aufmüpfigkeit werden als neue Leitwerte in der Ausbildung von Führungskräften empfohlen. Die Manager der Zukunft müssten eine Kultur des Vertrauens entwickeln, Gestaltungsfreiräume ermöglichen und Entwicklungsmöglichkeiten zulassen, um von der Dominanz monetärer Anreize wegzukommen.

Die beiden InhaberInnen eines Unternehmensberatungsbüros in Zürich fordern, dass Firmen Leute an ihre Spitze berufen, die Eigenverantwortung von Eigennutzen setzten, nicht der nun bekannten Gier, sondern dem unternehmerischen Interesse folgten und damit die langfristige gedeihliche Entwicklung von Unternehmen ermöglichten.

Der Aufruf aus einer liberalen, wenn auch erneuerten Sicht leuchtet durchaus ein!

Claude Longchamp

“animal spirits” statt “rational choice”.

“Um zu verstehen, wie die moderne Weltwirtschaft in die Sackgasse geraten ist, müssen wir unser Wissen erneuern”, fordert der Nobelpreisträger von 2001 George Akerlof mit seinem Kollegen Bestsellerautor Robert Shiller. Wie andere Grössen ihres Faches, haben sie mit kritischer Distanz zum Geschehen herauszufinden versucht, was angesicht der Weltwirtschaftskrise schief gelaufen ist und ihre Folgerungen in einem nun auch auf Deutsch erschienenen Buch präsentiert.

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Unter den Lösungen Akerlofs und Shillers fällt eine besonders auf: Der kühl-rational handelnden “homo oeconomicus” soll durch ein realistischeres Modell ersetzt werden. Denn die prominenten Autoren sind überzeugt, dass Volkswirtschaften zu Hysterien neigen, die in Exzesse, Manien und Paniken auarten, wenn sie sich selbst überlassen werden. Begründet sehen sie das in der ökonomischen Theorie, die in iher dogmatischen Form die Nutzenfunktionen gesellschaftlicher Normen ganz vernachlässige.

Ursachen der jüngsten Instabilitäten seien die “animal spiritis”, die Urinstinkte, die je nach dem in eine euphorische oder abgelöschte Grundstimmung verfallen können, schreiben die Oekonomen. Der Herdentrieb, der von der Börse ausgehe, verstärke danach den wirtschaftlichen Auf- oder Abschwung, – im Guten wie im Schlechten.

Die Banken hätten aus kurzsichtigem Eigenintresse heraus gehandelt, als sie Kredite für Hauskäufe an zahlungsunfähig mittel- und Unterschichten vergaben. “Es mag zwar sein, dass ein solches Vorgehen nicht illegal ist, doch in unseren Augen kann man die besonders marktschreierischen Geldhäuser durchaus als korrupt bezeichnen”, halten Akerlof und Shiller unmissverständlich fest.

Aus ihrer Sicht ist das Vorgehen dann ökonomisch sinnvoll, wenn klar definierte Eigentumsrechte und transparenten Informationen gegeben sind. Doch genau das sei mit der Entwicklung neuer Finanzinstrumente nicht gegeben gewesen und systematisch negiert worden. Und: “Wenn diese Bedingungen nicht garantiert werden können, entwickeln sich Märkte dysfunktional.”

Das haben in der Schweiz auch die Grossbanken erlebt, bei denen die Abschreibungen 2007 und 2008 drei Viertel des Eigenkapitals vernichteten, schreibt die “NZZ am Sonntag” heute. Der Analyse der beiden hier genannten Oekonomie-Professoren stimmt sie zu. Die Massnahmen, die auf ein weises, vom Staat geprägtes Laissez-faire hinaus laufe, hält sie jedoch für zu vage.

Claude Longchamp

George A. Akerlof, Robert J. Shiller: Animal Spirits. Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Campus Verlag 2009.

Die unvernünftige Vernunft

Die Krise auf den Finanzmärkte zwingt Investoren zu Lernprozessen und die Wirtschaftswissenschaft zur Hinterfragung ihrer Entscheidungstheorien. Das täte beispielsweise auch der Wahlforschung gut, die im Schwang der unkritischen Gedankenlosigkeit mitgegangen ist.

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Daniel Kahneman, Professor für Psychologie an der Princeton Universität, 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.

“Die weitaus schwächste Aktie der Welt ist jene der Logik AG, denn ihre Gesetze werden von der Börse nie verfolgt”, wetterte einst der Börsenguru André Kostolany. Mehr als der Vernunft folge die Börse der Erwartung, und in die mische sich der Herdentrieb.

Daniel Kahneman, der israelisch-amerikanische Psychologe, der 2002 als Nicht-Fachmann den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, hat sich solchen Fragen angenommen und den rational handelnden Akteur, von dem die Oekonomie so gerne ausgeht, durch ein psychologisch determiniertes Subjekt ersetzt.

Ausgangspunkt von Kahnemans Ueberlegungen ist, dass sich die meisten Menschen für gute Autolenker halten, ihr Handeln rationalisieren und sich so überschätzen. Bei Männern kommt das typischerweise mehr vor als bei Frauen.

Das trifft auch auf Investoren zu. Zu deren grossen Fehlern gehört die Ueberreaktion im Moment. Kurzfristiger Aktivismus sei, sagt Dahneman, gerade in Zeiten der Unsicherheit, kein guter Ratgeber. Denn er wird durch Angst und Ueberreaktion bestimmt. Diese wiederum seine nicht unerheblich, weil soziale Ansteckung die Börse reagiere, wie der Herdentrieb in der Wissenschaft genannt wird.

Institutionelle Anleger sind, so die Forschung, von diesen Probleme etwas weniger befallen als private. Das hat mit ihrem gegenüber privaten Anlegern erhöht strategischen Verhalten zu tun, müssen sie doch ihre Entscheidung stärker begründen, und sind sie, wegen der Ausdrücklichkeit und Schriftlichkeit von Entscheidungen, kritisierbarer. Damit wächst die Chance von effektiven Lernprozessen statt nachträglichen Rationalisierungen.

Diese Einsicht in der empirischen Wirtschaftsforschung ist so gut, dass man sie auch in der Wahlforschung anwenden sollte. Denn da hat (dank dem Herdentrieb?) der rational-choice-Ansatz zwischenzeitlich eine zentrale Stellung inne. Unverkennbar sind seine Verdienste bei der Analyse individualistischer Entscheidungen; problematisch ist aber, wenn das tel quel mit vernünftigem Entscheiden gleichgesetzt wird, handelt es sich doch nicht um nicht mehr als wissenschaftliche Rationalisierungen.

Claude Longchamp

Verantwortungsethik statt Eigennutzenmaximierung

Mit einem Satz über das “fehlende Unrechtsbewusstsein” der Schweiz in Sachen Bankgeheimnis hat er die wohl grösste Kontroverse über Wissenschaft und Politik, die in letzter Zeit in der Schweiz stattgefunden hat, ausgelöst. PolitikerInnen, Professorinnen, Rektoren und JournalistInnen handelten den Fall ab. Jetzt äussert sich Ulrich Thielemann, Wirtschaftsethiker an der Universität St. Gallen, über das Grundsätzliche an der Debatte.

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Die Erschaffung der “Göttin DS” wäre nur nach ökonomischen Gesichtspunkte nie geschehen, kritisiert der St. Galler Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann die vorherrschende Sichtweise in den Wirtschaftswissenschaften und der Ausbildung von ManagerInnen.

In einem längeren Interview im “Magazin” definiert sich Thielemann als Aufklärer, der seit längerem Forschung zur Wirtschaftsethik betreibe, sie auch im Praktischen anwende, wei sie nicht l’art pour l’art bleiben solle.

Sinnbildlich dafür ist seine Interpretation der Entstehung der französischen DS, denn als die Firma Citroën daran ging, einen Nachfolger für den Traction Avant zu finden, habe man den Ingenieuren gesagt, ihr habt alle Freiheiten, macht, was ihr wollt. Heraus kam das bekannte, flunderartige Fahrzeug, die Göttin “Deesse”, voll von mehr oder minder nützlichen Innovationen, bei denen sich die Ingenieure austoben konnten. Das Kunstwerk sei nur möglich, weil der ökonomische Gesichtspunkt nicht der Einzige war.

Die Ursache der gegenwärtige Krise, so der Wirtschaftsethiker, sei die Entfesselung der Gier im Namen der Marktgläubigkeit. Entstanden sei sie mit der Gewinnmaximierung zugunsten von Investoren als einzige legitime Anspruchsgruppe. Doch dazu gebe es heute eine Gegenbewegung, die im Theoretischen beginne. Denn was man als Gier bezeichne, habe in der in der Oekonomie lange als rational gegolten. Grund dafür sei, dass die Wirtschaftswissenschaft zur Wissenskirche verkommen, keine Wissenschaft mehr senn. Denn anders als in der Psychologie oder Soziologie, sei der Pluralismus widerstreitender Denkschulen in der Oekonomie weitgehend verschwunden.

Gelernt werden müsse heute wieder, was Integrität heisse, denn das eigene Erfolgsstreben hänge von der Legitimierbarkeit ab. Verantwortung müsse an den Universitäten wieder gelehrt und gelernt werden.

Verantwortungsethik alleine werden jedoch nicht genügen. Wichtiger noch sei die Ordnungsethik, die verantwortungsvolles Handeln stütze. Damit seien in erster Linie die Gesetze des Rechtsstaats gemeint, die als institutionelle Rückenstützen wirken würden. Denn ohne Ordnungsethik sei der Verantwortungsbewusste rasch der Dumme. Das zu verhindern, sei die Aufgabe der Politik.

Thielemann gibt sich ungern prognostisch, glaubt aber, wir seien mit der gegenwärtigen Krise in eine neue Zeit unterwegs. Die Marktgläubigkeit sei als allein selig machendes Paradigma gescheitert. Der Markt brauche auf allen Stufen Begrenzungen. Das sei nur in der Theorie etwas neues. Denn das Menschenbild des Homo œconomicus, der Mensch also, der alles zu seinem Eigennutzen maximiert, sei nicht nur moralisch nicht rechtfertigungsfähig, sondern entspreche auch nicht dem Selbstverständnis eines normal sozialisierten Menschen.

Oder noch deutlicher: Der Kern des Problems ist das entgrenzte Erfolgstreben, doziert Thielemann. Denn das verletze den kategorischen Imperativ. Im «Reich der Zwecke», in der humanen Gesellschaft also, hat alles «entweder einen Preis — oder Würde», formulierte dies Immanuel Kant.

Claude Longchamp

Die Zukunft Chimerikas

Er ist der Optimist unter allen Analytikern der USA in der Zeit nach der Finanzkrise: Niall Ferguson, 45, britischer Historiker an der amerikanischen Harvard University. Der begnadeste Geschichtsprofessor seiner Generation, publizistisch vor allem im Fernsehen und mit Artikeln und Büchern dazu aktiv, erfand (mit Moritz Schularik) auch den Begriff “Chimerika”, ein Schachtelwort aus China und Amerika, weil die Oekonomien beider Länder engstens miteinander verhängt seien.

Stellt man sich die Wirtschaft beider Länder als die eines einzigen vor, kommt dieses Chimerika auf 13 Prozent der Landmasse, stellt ein Viertel der Erdbevölkerung, kommt auf etwa ein Drittel des Bruttosozialprodukts und auf circa die Hälfte des globalen Wirtschaftswachstums der letzten sechs Jahre.

Sehr einfach ausgedrückt, besorgte die eine Hälfte, die Westchimeriker, das Sparen und die andere, die Ostchimeriker, das Ausgeben. Die USA erzeugten Wachstum durch Bauen mit Schulden, während die Chinesen mit höher Produktion zu tiefen Löhnen Kredite vergaben. Doch dann enthüllte eine Welle geplatzter Hypotheken an Kreditnehmer mit schlechter Bonität, wie instabil Chimerika war.

“Wie immer bei Blasen”, sagt der Wirtschaftshistoriker, “ging schnelles Geld mit einer laxen Kreditvergabe und glattem Betrug einher.” Der Kollaps am Immobilienmarkt habe deshalb so verheerend gewirkt, weil die Banken die ursprünglichen Kredite gebündelt, in Scheibchen geschnitten und durcheinander gewürfelt und sie an Investoren in aller Welt verkauft hätten. Die Rating-Agenturen ihrerseits hätten die Premium-Etage dieser Produkte als AAA eingestuft: Quintessenz der Finanz-Alchemie. Als sich das vermeintliche Gold erst in Blei und dann in Giftmüll zurückverwandelt habe, waren die Folgen fatal.

Eine unausweichliche Konsequenz der Kreditkrise ist, dass die Vereinigten Staaten in absehbarer Zeit langsamer wachsen werden: eher ein als zwei Prozent pro Jahr statt der drei oder vier Prozent wie bisher. Dagegen kann Chinas Semi-Planwirtschaft, angetrieben von staatlich verordneten Investitionen in die Infrastruktur und wachsender Nachfrage der Konsumenten, auch weiterhin bequem um acht Prozent jährlich wachsen.

Mit einem von Amerika abgekoppelten China scheint das Ende Chimerikas nahe. Und mit dem Ende Chimerikas muss sich das globale Machtgleichgewicht verschieben, prognostiziert der Historiker. China kann andere Sphären globaler Einflussnahme erkunden, zum Beispiel im rohstoffreichen Afrika.

“Jedoch”, bilanziert Ferguson, “die Geschichte hat einen Dreh. Kommentatoren sollten, bevor sie Niedergang und Fall der Vereinigten Staaten prophezeien, immer zögern, sagt der Optimist. Die USA haben schon mehr als eine katastrophale Finanzkrise überlebt und sind jeweils geopolitisch gestärkt aus ihr hervorgegangen, galubt Ferguson aus der Geschichte herauslesen zu können. Der Grund dafür ist, dass solche Krisen, so schlimm sie daheim auch scheinen mögen, Amerikas Rivalen offenbar noch härter treffen.”

Ferguson ist für seine publizistischen Offensiven zugunsten der amerikanischen Finanzwelt ist in Fachkreisen vielfach kritisiert worden. Ein Teil der Kritik betrifft die mediale Präsenz, der andere die Nähe zur Propagnada für den Turbokapitalismus. Der Vorwurf, Halbwahrheiten mit phantasievollen Spekulationen, akademisch gekleidet, aber nur spärlich belegt zu veröffentlichen, hat dem Tausendsassa der gegenwärtig Historikerzunft nicht geschadet. 2010 kehrt er nach Grossbritannien zurück, um an der LSA über die Finanzgeschichte der Welt zu forschen und zu lehren.

Claude Longchamp

Niall Ferguson: The Ascent of Money: A Financial History of the World, Penguin Books 2008 (dt. Der Aufstieg des Geldes. Die Währung der Geschichte, Berlin 2009)

Diagnosen für die Welt nach dem amerikanischen Zeitalter

Wie entwickelt sich die Welt? Ueber die Wirtschaftskrise hinaus, stellt sich die Frage, welche Rolle die USA inskünftig einnehmen werden. Denn allgemein rechnet man mit dem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Asiens. Weniger eindeutig sind die Haltungen dagegen, wenn es um die Frage geht, wie sich die führende, aber angeschlagene Weltmacht hierzu stellen wird. Zwei typische Beispiele hierzu.

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“Der Aufstieg der Andern. Das postamerikanische Zeitalter” heisst der Bestseller von Fareed Zakarias, der im Sommer 2008 in den Staaten, anfang 2009 auch in der deutschen Uebersetzung von Thorsten Schmidt erschien, und seither so etwas die Basis der Analyse in einer multipolaren Welt gilt.

»Goodbye, America«, lautet der etwas bittere Refrain von Fareed Zakaria, dem in indischen Bombay geborenen Politikwissenschafter der Harvad University. Dennoch bleibt der Chefredaktor von Newsweek International und regelmässige Kommentator auf CNN zuversichtlich.

Für ihn ist zwar klar, dass eine epochalen Machtverschiebung stattfindet. Nach dem Siegeszug der westlichen Rationalität zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert und dem kometenhaften Aufstieg Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert durchläuft die Welt gerade eine dritte Phase. Sie erlebt das Ende der amerikanischen Vorherrschaft und den »rise of the rest«, den Aufstieg der übrigen Mächte.

“The Post-American World” heisst das Buch im Amerikanischen, das bewusst das Wort vom Niedergang vermeidet, denn es will dem offensichtlichen Machtverlust der USA eine Pointe abgewinnen: »Globalisierung der Welt – das war die amerikanische Vision«, und davon hhaben andere Länder profitiert und den Anschluss geschafft, vor allem China und Indien.

Fareed Zakaria hat offensichtlich Sympathien für die Demokraten von Barack Obama. Er ist überzeugt, Amerika werde seine Krise meistern, sobald es die Spaltung der Gesellschaft überwunden habe. Aussenpolitisch gibt er Obama den Rat, sich um die »Einbeziehung der aufsteigenden Länder« kümmern und die neuen Großmächte China und Indien so weit integrieren, bis diese aus eigenem Interesse die globale Ordnung tatkräftig unterstützten.

Härter mit den Amerikanern ins Gericht geht Parag Khanna, ebenfalls aus Indien stammend und Politikwissenschafter in den USA und Grossbritannien. In seinem Buch “Der Kampf um die Zweite Welt” tritt Amerika nämlich als gerupfter Riese auf, von einem entfesselten Kapitalismus verunsicherte, im Irakkrieg blamierte Supermacht, die ihren Machtverlust noch gar nicht begriffen hat. Selbst wenn das Land unverändert die konkurrenzfähigste Volkswirtschaft der Welt habe, schreibt Khanna, sei die politische Macht längst neu verteilt worden: Asien wird – mit oder ohne Amerika – das 21. Jahrhundert gestalten.

Folgt man Khanna, wird die Welt künftig von drei Imperien beherrscht werden, von den Vereinigten Staaten, von China und von der Europäischen Union, während Russland keine entscheidende Rolle spiele, weil dessen Volkswirtschaft nichts Nennenswertes zustande bringe. Auf Khannas Landkarte gehört Russland deshalb zur Zweiten Welt, genauso wie der Nahe Osten, Lateinamerika und Afrika. Hier, in der Zweiten Welt, tobt nach Khanna der Kampf um Einflusszonen, und hier entscheide sich, wie viel Macht die geopolitischen Machtsphären in die Waagschale werfen können.

Die beiden Thesen sind hilfreich, das aktuelle Verhalten der Grossmächte zu analysieren. Nützlich sind hierfür auch die beiden Bücher, welche die generelle Sichtweise ausführen. Ihre Lektüre sei empfohlen, nicht zuletzt auch, um den Wandel der politikwissenschaftlichen Perspektiven, die unter der Bush-Administration und dem Schlagwort des Kampfes der Kulturen galten, zu realisieren.

Claude Longchamp

Fareed Zakaria: Der Aufstieg der Anderen. Das postamerikanische Zeitalter, München 2009
Parag Khanna: Der Kampf um die zweite Welt. Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung, Berlin 2008

Historischer Moment für die Weltwirtschaft – und für die Schweiz?

Gastgeber, Grossbritanniens Ministerpräsident Gordon Brown, sprach am G-20-Gipfel vom Durchbruch zur neuen Weltordnung. Die meisten Kommentatoren waren sich einig, einen historischen Moment erlebt zu haben, selbst wenn in einzelnen Ländern wie der Schweiz die Ernüchterung überwiegt. Was wird unser Land für Schlüsse daraus ziehen?

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Botschaft aus London an die Schweiz: Aus der Isolation herausfinden, in die das Land mit dem Bankgeheimnis geraten ist. (Quelle: Chapatte/LeTemps)

Vier Massnahmen beschloss der mit Spannung erwartete Gipfel der mächtigsten Staaten und Organisationen in London, welche die neue Weltordnung begründen sollen: ein gigantisches finanzielles Stützungsprogramm in der Höhe von 1,1 Billionen Franken, das Ende des Bankgeheimnisses, Auflagen für Bonuszahlungen in Banken und Versicherungen und strengere Kontrolle für Hedge-Fonds und Rating-Agenturen.

Stabilität, Wachstum und Arbeit verspricht man sich durch die Massnahmen. Erwartet wird, dass man damit die globale Wirtschaftskrise mildern kann, vor allem aber, dass man eine Wiederholung der Ursachen für die aktuelle Weltwirtschaftskrise inskünftig verhindert kann.

Allgemein wurde der Gipfel als Erfolg gewertet. Die zentralen Industrienationen und Schwellenländer zeigten einen ausgleichenden Handlungswillen, der den Protest auf der Strasse beschränkte. Denn mit der neuen Weltordnung soll die Entwicklung der Weltwirtschaft in berechenbare Bahnen gelenkt werden. Nach den Erfahrungen der letzten Monate ist das letztlich zum Wohle aller, wenn auch im Einzelfall mit Nachteilen verbunden.

Entsprechend fällt die Bewertung in der Schweiz aus. Ihr gelang es nicht, sich unter die Mitglieder der G-20 einzureihen und die Themen resp. Inhalte mitzuentscheiden. Vielmehr fand sie sich wegen ihrer Steuerpolitik in der Isolation. Die Schwarze Liste der Steueroasen konnte zwar abgewendet werden, weil die Schweiz die bisherigen Vorbehalte gegen die OECD-Richtlinien zum Bankgeheimnis aufgab. Dennoch bleibt der Druck, symbolisch mit der Präsenz auf der grauen Liste, bestehen, da man nicht rechtzeitig 12 Doppelbesteuerungsabkommen vorweisen konnte, die den Tatwillen zur Umsetzung belegen. Daran wird die nationale Politik rasch arbeiten müssen, um aus der Defensive heraus zu kommen, in der die Schweiz mit dem G-20-Gipfel geraten ist.

Claude Longchamp

Grosse Börsenchrashs im Vergleich

Das Blog “dshort.com” erstellt regelmässig Uebersichten über die Entwicklung der Aktienmärkte während Wirtschaftskrisen. Das gibt zwar noch keine Prognosen, wie sich die jetzige entwickeln wird, doch kann man ihren bisherigen Verlauf in die zyklischen Einbrüche der jüngeren Börsengeschichte einordnen.

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Unverändert war der Börsencrash von 1929 mit der nachfolgenden Grossen Depression als der einschneidendste Moment in der Wirtschaftsgeschichte. Die Krise dauerte mit 34 Monaten bis zum Umschwung fast drei Jahre, und der Dow Jones Index verringerte sich in dieser Zeit um fast 89 Prozent. Der zweitgrösste Einbruch war im Jahre 2000, als die Dotcom-Blase platzte. Es braucht 30 Monate bis sich die Aktienwerte, welche um 49 Prozent gesunken waren, wieder zu erholen begannen. Die Erdölkrise 1973 wirkte sich fast so stark aus (48 % Rückgang), kannte aber mit 21 Monaten bis zur Wende eine vergleichsweise kurze Zeit des Rückgangs.

Die jetzige Krise auf den amerikanische Aktienmärkten, sichtbar seit September 2008, geht genau genommen schon in den 17. Monat des Abschwungs an der Börse. Das Ausmass der Verluste übertrifft gemäss “dshort” mit 53 Prozent jetzt schon jenes der Erdöl- oder Dotcom-Krise bis zu deren Wende.

Wie nachhaltig der gegenwärtige Einbruch ist, könne noch nicht beurteilt werden, meint Doug Short, der Autor des Blogs, in den 80er Jahren Porfessor für Computerwissenschaft an der University of North Carolina war danach Berater von IBM wirkte. Immrhin zählt er ihn zu den vier grossen der Wirtschaftsgeschichte der letzten 140 Jahre, die er mit seinem Blog statistisch analysiert und grafisch präsentiert.

Claude Longchamp