Die Referenzabstimmungen sind eine Referenz für unsere Umfragen.

Zugegeben, bei der Minarett-Abstimmung gibt es Zweifel an der Vorbefragungen zu Volksabstimmungen unseres Instituts für die SRG. Aus dem Einzelfall eine Regel zu konstruieren, ist allerdings unzulässig. Der sog. Minarett-Effekt wiederholte sich seither nie mehr.

Nimmt man alle Umfragen zu den denkbaren Referenzabstimmungen bei der Volksinitiative ‘Gegen Masseneinwanderung’, erweisen sie der Demoskopie durchaus eine Referenz.

Beispiel 1: Bei der ’18-Prozent-Initiative’, die im Jahre 2000 eine obere Begrenzung des Ausländeranteils forderte, zeigte die letzte Umfrage vor der Abstimmung 48 Prozent Gegnerschaft und 40 Prozent Zustimmung. 12 Prozent waren unentschieden. Der Trend verwies ins Nein. Endergebnis: 36 Prozent dafür. Treffer-

Beispiel 2: Bei der ‘Ausschaffungsinitiative’, die 2010 verlangte, dass kriminelle AusländerInnen die Schweiz verlassen müssen, zeigte die letzte Umfrage vor der Abstimmung 54 Prozent Ja-Stimmende an und 43 Prozent Nein-SagerInnen. Trend: leicht Richtung Nein. Die Vorlage wurde mit 52 Prozent angenommen. Erneut Treffer.

Beispiel 3: Provisorische Einführung der Personenfreizügigkeit 2005, bei der die letzte Umfrage ein Ja-Nein-Verhältnis von 50:39 nahelegte, mit wachsenden Trends auf beiden Seiten: Resultat: 55 Prozent dafür. Nochmals Treffer.

Beispiel 4: Die definitive Einführung der Personenfreizügigkeit 2009, als die jüngste Vorumfrage vor der Abstimmung 50:43 ergab, ohne einen Trend aufzuzeigen. Das Ergebnis: 60 Prozent Zustimmung. Treffer, mit Abstrichen. Allerdings nicht zugunsten der Vorlage, sondern der Opponenten der Personenfreizügigkeit.

Fazit: In allen Fällen wurde die richtige Mehrheit erkannt. Wo es Trends gab, stimmten sie und halfen, abzuschätzen was zwischen der zweiten Umfrage und dem Abstimmungssonntag geschehen kann. Bei Behördenvorlagen heisst dies im Regelfall, dass das Ja zunimmt, bei Initiative, dass das Nein wächst.

In der Tat ist die Lage bei der Volksinitiative ‘Gegen Masseneinwanderung’ “tricky”. Denn die Mehrheit ist im Nein, der Trend aber geht Richtung Ja. Diese Kombination ist für eine Volksinitiative untypisch und kommt in keiner der Referenzen vor. Hauptgrund: Die Mobilisierung, die durch den Abstimmungskampf ausgelöst worden ist und auf die Beteiligung von Proteststimmenden setzt. Der Ausgang ist diesmal etwas schwieriger einzuschätzen, vor allem wenn die Beteiligung nochmals steigen sollte.

Claude Longchamp

Das Nein zur SVP Initiative ist nicht in Stein gemeisselt

Vordergründig scheint alles klar: 37 Prozent der Teilnahmewilligen befürworteten zu Jahresbeginn die Volksinitiative der SVP ‘Gegen Masseneinwanderung’; 55 Prozent lehnten sie ab. 8 Prozent waren unschlüssig. Die SRG-Umfrage kommt damit zu einem ähnlichen Schluss wie die 2 Wochen zuvor publizierte Ergebung von Sonntagszeitung/LeTemps.

Wir haben über diese Kernbotschaft hinaus versucht, die Stimmabsichten in das Umfeld einzuordnen. Aus der mehrheitlichen Erfahrung mit Prozessen der Meinungsbildung bei Volksinitiativen würde man sagen, das diese Initiative am Abstimmungstag scheitert. Denn die lehrt, dass das Nein eher zu- und das ja eher abnimmt. Hauptgrund: Die Kritik am Lösungsvorschlag einer Initiative übertüncht meist den Problemdruck. Die Abstimmung über die ‘SVP-Familieninitiative’ steht mustergültig hierfür.

Nun gibt es auch eine minderheitliche Erfahrung, wonach genau das Gegenteil geschieht. Das ist namentlich dann der Fall, wenn die Beteiligungsabsichten mit dem Abstimmungskampf aus der Opposition heraus ansteigen und überdurchschnittlich werden respektive wenn, trotz aufwendiger Nein-Kampagnen, das Problem, auf das die Initiative abstellen kann, alles dominiert. Die ‘Abzockerinitiative’ war das letzte Beispiel hierfür.

Was nun ist die Volksinitiative ‘Gegen Masseneinwanderung’? – Erhellend ist der Argumententest in der SRG-Umfrage:

  • Bei der Problemdefinition gibt es Vorteile für die InitiantInnen – was neu ist. Denn für 61 Prozent der Teilnahmewilligen sind mit der Aussage einverstanden, die unkontrollierte Zuwanderung habe zu Lohndruck, Wohnungs- und Verkehrsproblemen geführt; nur 57 Prozent folgen der Auffassung, die Personenfreizügigkeit ein wichtiger Pfeiler für den aktuellen Wirtschaftserfolg.
  • Beim Lösungsansatz gibt es ein Patt: 64 Prozent möchten, dass wir die Einwanderung wieder selber steuern können; für 66 Prozent führt das Kontingentsystem zu Bürokratie und Kosten.
  • Schliesslich, die Erwartungen von Konsequenzen bei einem allfälligen Ja: 57 Prozent sehen die Personenfreizügigkeit als Teil der Bilateralen gefährdet, nur 46 Prozent sind bereit, die bilaterale Beziehung aufs Spiel zu setzen.

So eindeutig zugunsten eines Volksbegehrens, wie das bei der ‘Minderinitiative’ 2003 der Fall war, ist das alles nicht. Doch ist es auch nicht mehr so klar, wie bei früheren Volksentscheidungen zu den Bilateralen. Mit anderen Worten: Die Personenfreizügigkeit ist umstrittener. Den unbestrittenen ökonomischen Hauptwirkungen stehen ebenso unbestrittene gesellschaftliche Nebenwirkungen gegenüber.

Die beteiligungsbereiten WählerInnen links der Mitte gewichten den Nutzen insgesamt höher, die Basis der SVP macht das pure Gegenteil. Mehrheitsbildend sind in solchen Situationen die WählerInnen der bürgerlichen Parteien und die Parteiungebundenen.

Es kommt hinzu, dass es an der Basis fast aller Parteien Minderheiten gibt, die gegen die offizielle Parteiposition sind, vorerst aber schweigen.

Nun war auch die ‘Ausschaffungsinitiative’ eine Parteiinitiative der SVP und mit dem jetzigen Begehren vergleichbar. Anders als etwa die Volkswahl des Bundesrats behandelte es kein staatspolitisches Thema, sondern nahm es ein gesellschaftliches Problem auf. Und wurde (trotz offiziellem) Gegenvorschlag angenommen.

In der ersten SRG-Befragung startete dieses SVP-Anliegen allerdings deutlich besser als das jetzige. 58 Prozent waren damals bestimmt oder eher dafür; am Abstimmungstag waren es 52 Prozent. Davon sind wir gegenwärtig einiges entfernt. Damit es zu einem vergleichbaren Ergebnis käme, müssten die Mehrheiten der Parteiungebundenen und der FDP.Die Liberalen-AnhängerInnen bei der jetzigen SVP-Initiative kippen und auch bei der CVP müsste einiges ins Rutschen kommen. Darauf wird man im anstehenden Teil des Abstimmungskampfes besonders achten müssen!

Denn der Meinungswandel zugunsten der Volksinitiative ‘Gegen Masseneinwanderung’ ist nicht das Hauptszenario, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, denn die Ablehnung der SVP-Initiative ist angesichts der Problemdrucks diesmal nicht in Stein gemeisselt.

Claude Longchamp

Im gegenwärtigen Abstimmungskampf legen die Gegner aller Vorlagen zu

Harte Zeiten für InitiantInnen und Behörden. Denn im laufenden Abstimmungskampf legen die Gegner aller drei Vorlage teils kräftig zu.

Bei Volksinitiativen überrascht der negative Trend nicht wirklich. Es ist eine bekannte Regel, dass sie gut starten und schlechter enden. Stets nimmt der Nein-Anteil in Umfragen zu und der Ja-Anteil meist insbesondere bei jenen ab, die eher dafür waren. Hauptgrund ist der Szenenwechsel: Am Anfang eines Meinungsbildungsprozesses beurteilt man vor allem das mit der Initiative angesprochene Problem, am Schluss die mit dem Begehren vorgeschlagene Lösung.
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Bei der 1:12 Initiative heisst das: Zuerst dominierte die Problematik der aufgegangenen Lohnschere, quantitativ, aber auch ethisch. Entsprechend führten die InitiantInnen einen Diskurs zur Lohngerechtigkeit. Je länger die Kampagne dauert, umso mehr spricht man über die Schwächen der Initiative: die Regelung der Löhne durch den Staat und die Folgen für Steuern und Sozialversicherung. Die Befragung zeigt, dass sich die Meinungsbildung genau in diesem Dreieck von ersterem zu letzteren verlagerte und so auch die Stimmabsichten von rechts bis über die Mitte hinaus veränderte.
Bei der Familieninitiative kann das allgemeine Gesetz wie folgt ausgedeutscht werden: Begünstigungen bestimmter Familienmodell durch den Staat sind den Stimmberechtigten ein Dorn im Auge. Mit genau diesem Anker ist die Initiative gestartet, und sie hatte breite Sympathien. Seither holt die Gegnerschaft auf: Mit den Steuerausfällen für Bund und Kantone, aber auch mit der Nebenwirkung der Initiative auf die gewollte Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das begründet den Meinungswandel namentlich bei (links)liberalen Wählerschichten vom anfänglichen Ja ins heutige Nein.
Bei der Autobahnvignette überraschen die Befragungsergebnisse jedoch. Denn der Normalfall bei einer Behördenvorlage besteht darin, dass sich die Unschlüssigen (in einem offenen Verhältnis) auf beide Seiten verteilen. Wäre das geschehen, hätte der Ja-Anteil mindestens leicht ansteigen müssen und die Vignetten-Vorlage wäre wohl angenommen worden. Angesichts der jetzigen Umfragewerte muss genau das offen bleiben. Denn auch hier nahm die Ablehnungsbereitschaft zu, und es verringerte sich die Zustimmungstendenz.
Erster Grund dafür sind Elite/Basis-Konflikte. Für die Zunahme der Opposition ist der Trend in der FDP relevant: Als Partei befürwortet sie die Vorlage; ihre Wählerschaft konnte sie aber mehrheitlich nicht überzeugen. Zweitens: Von der Nein-Botschaften mitgenommen werden auch die parteipolitsche Ungebundenen. Hier vergrösserte sich nicht nur der Nein-Anteil überdurchschnittlich, es nimmt auch die Teilnahmebereitschaft gerade dieser Bevölkerungsgruppe zu. Drittens, die Betroffenheit als AutofahrerInnen wirkt sich in der Meinungsbildung zugunsten der Opponenten aus. Je mehr Autos man hat, desto eher ist man dagegen.
Damit ist die SVP, welche das Referendum lancierte, nicht mehr allein; vielmehr tragen weite Teile der rechtsbürgerlich gesinnten StimmbürgerInnen und AutofahrerInnen die generelle Kritik an Gebühren und Abgaben. Etabliert hat sich so ein Diskurs, der von jenem im Parlament und der federführenden Bundesrätin abweicht. Die Behördenposition prägte somit auch den Medientenor und thematisierte primär die Sicherheit auf den Strassen. Dieser Diskurs rechtfertigte die einmalige Erhöhung des Vignettenpreises nach fast 20 Jahren Stillstand.
Claude Longchamp

Aufgrund der Genfer Stimmbeteiligung zeichnet sich am 3. März 2013 eine leicht über- durchschnittliche Stimmbeteiligung ab

Nirgends weiss man so viel über aktuelle Stimmbeteiligungen wie im Kanton Genf. Denn an jedem Wochentag publiziert die Staatskanzlei der Zwischenstand der brieflich eingegangenen Stimmzettel. Der Vergleich der täglichen Teilnahmewerte lässt Schätzungen zu, was am 3. März 2013 in Genf und in der Schweiz in Sachen Beteiligung sein könnte.

Kanton Genf: Eingegangene Stimmzettel in Prozent der Stimmberechtigten nach Tagen

Quelle: Kanton Genf, eigene Darstellung
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Eines ist jetzt schon klar: Die Genfer Stimmbeteiligung zu Abzocker-Initiative, Familienartikel und Raumplanungsgesetz wird kein Extremfall. Weder ist sie so hoch wie bei Ausschaffungs- und Steuergerechtigkeitsinitiative (28.11.2010), noch so tief wie beim Tierseuchengesetz (25.11.2012). Vielmehr liegt sie, höchstwahrscheinlich dazwischen.

Aktuell haben 23 Prozent der Stimmberechtigten abgestimmt. Das jedenfalls vermeldete die Genfer Staatskanzlei gestern Abend. Das ist, auf den Vergleichstag bezogen, genau gleich viel wie bei der BVG-Entscheidung im Frühling 2010. Der Schlusswert für die Genfer Beteiligung lag damals bei 49 Prozent.

Eine punktgenaue Prognose ist das nicht, denn die Dynamik in den Tageswerten hängt auch von den Themenbehandlung im Abstimmungskampf ab. Atypisch war namentlich die Abstimmung über die Biometrischen Pässe 2010, die (zumindest in Genf) eine starke Schlussmobilisierung kannte.

Dennoch, ein starker Hinweis auf das, was in Genf am 3. März 2013 sein dürfte, ist der Zwischenstand bei der Stimmbeteiigung schon. Qualifizieren kann man die sich abzeichnende Mobilisierung im westlichsten Kanton der Schweiz als mindestens im „mittel“.
Nun liegt die Genfer Beteiligung meist über der der Schweiz. Ein direkter Rückschluss auf den eidgenössischen Teilnahmewert ist deshalb nicht zulässig. Im Referenzfall lag dieser schliesslich bei 46 Prozent – einem ebenfalls leicht überdurchschnittlicher Wert. Das deckt sich übrigens exakt mit dem, was die zweite SRG-Befragung vor Wochenfrist für die damalige Mobilisierung festhielt.

Spekulationen, die exemplarische Behandlung der Entschädigung für Daniel Vasella in den Medien mobilisiere ausserordentlich, finden damit (wenigstens vorerst) keine Nahrung. Wenn dem so bliebe, würde das nur die These bestätigen, dass Massenmedien aufgrund des Newswertes von Prominenz auf entsprechende Ereignisse übermässig stark reagieren.

Claude Longchamp

Kampagneneffekte oder Zeitenwandel? Der Vergleich der Entscheidungen zum Familienartikel und Familienzulagengesetz

2006 sagten die Stimmenden Ja zum heute geltenden Familiezulagengesetz. Kampagnenanalysen und Vorbefragungen legten schon früh eine Verhältnis von zwei zu eins nahe. Das galt beim Familienartikel, bevor der Abstimmungskampf begann. Doch seither ist alles anders. alles wegen dem Extrablatt oder wegen des Zeitenwandels?

Das wenig umstrittene Familienzulagengesetz
Hans Hirter, erfahrener Abstimmungsanalytiker, kommentierte in der VOX-Analyse die Volksentscheidung vom 28. November 2006 zum Familienzulagengesetz wie folgt: „Überdurchschnittlich oft mit Ja stimmten Personen, die grundsätzlich einen zentralistischen Staat dem Föderalismus vorziehen. Aber auch die Anhänger des Föderalismus gaben den Anliegen ihre Zustimmung zu einer Bundeslösung.” Hauptgrund sei gewesen, die kantonalen Familienzulagen zu harmonieren. Darin bestand weitgehend Einigkeit.

Bei einer Stimmbeteiligung von 45 Prozent, votierten 68 Prozent für die Vorlage. Soziale und ökonomische Merkmale der Stimmenden spielten eine nur untergeordnete Rolle, wie die Nachanalyse zeigte; viel wichtiger war die starke Prägung der Entscheidung über das Gesetz vom Links/Rechts-Gegensatz. Das zeichnete sich schon in der Kampagne ab. SP und CVP waren dafür, SVP und FDP dagegen. Die Basis folgte den Parteien mehrheitlich, wenn auch mit einer Ausnahme: Die FDP drang mit ihrem Nein selbst bei der eigenen Wählerschaft nicht durch. Zudem stimmten auch die Ungebundenen klar für das Familienzulagengesetz.


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Unsere Vorbefragungen für die SRG handelten die Entscheidung im gleichen Tenor ab. Die Meinungsbildung bei Behördenvorlagen mit mehrheitlich positiver Prädisponierung und nur schwachem Abstimmungskmapf gab den Interpretationsrahmen ab. In der Tat, acht Wochen vor dem Abstimmungstag waren 69 Prozent dafür, 3 Woche davor 70 Prozent. Das bekundete Nein lag bei 21 resp. 19. Prozent. Beide Male war die Polarisierung entlang der Parteibindungen am stärksten. Viel Bewegung brachte der Prozess der Meinungsbildung ausser bei der CVP nicht. Bei ihren SympathisantInnen aber erhöhte sich mit der Ja-Kampagen die Zustimmung.

Argumentativ stand die Vision im Vordergrung, eine gut ausgebildete Jugend zu fördern. Diese sollte nicht von kantonalen Unterschieden beeinträchtigt sein. Bei der Gegnerschaft wirkte die Überzeugung, durch die Hintertür werde ein neues Sozialwerk geschaffen, dass zu Staatskindern führe. Beides aber war nicht mehrheitsfähig, genauso wie das Nein zur Vorlage in der Minderheit blieb.


Der umstrittenere Familienartikel

Der Vergleich mit dem Wissen, das wir jetzt schon zur Meinungsbildung haben, die zum neuen Bundesverfassungsartikel in Sachen Familienpolitik läuft, weist neben gewissen Gemeinsamkeiten gewichtige Unterschiede auf.


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Die wichtigste Differenz besteht darin, dass mit dem Abstimmungskampf Bewegung in die Stimmabsichten gekommen ist. Sie begannen, mit 66 Prozent Zustimmungsbereitschaft fast am gleichen Ort wie man gut sechs Jahre zuvor startete. Doch anders als damals hielt das nicht, sondern erodierte in markantem Masse. Die Gegnerschaft holte um zwölf Prozentpunkte auf, liegt nun bei 35 Prozent, derweil die Befürwortung um elf Prozentpunkte auf 55 sank.

Auch diesmal ist die parteipolitische Aufladung wichtiger als gesellschaftliche Trennlinien. Anders als damals, zeigen die Parolen erhebliche Wirkungen. Bei der SVP sank die Zustimmung von anfänglichen 47 auf 31 Prozent, bei der FDP von 59 auf 44 Prozent. Drastischer noch sind die Auswirkungen auf die parteipolitisch ungebundenen BürgerInnen, bei denen die Zustimmungstendenz von 80 auf 48 verringerte. Von dieser Bewegung nicht erfasst wurde auch diesmal das Mitte/Links-Lager.

In der französischsprachigen Schweiz stellt man von diesem Meinungswandel kaum etwas fest. Deutlicher schon kommt er in der italienischsprachigen Schweiz zum Ausdruck, die stärkste Bewegung stellte die SRG-Umfrage aber in der deutschsprachigen Schweiz fest. Das spricht für ein Ost/West-Gefälle in den Ansichten zum Familienartikel.

Wenig weiss man diesmal über die Argumente, was mit dem Abstimmungskampf zu tun hat: Von einer Ja-Kampagne kann man nicht wirklich sprechen. Ganz anders die Nein-Seite. Die Opposition in der Sache kann auf erhebliche Mittel zählen, die in Politmarketing investiert werden.

So ist, anders als damals, keine positive Vision entwickelt worden, die den Familienartikel beflügeln würde. Eher noch wird mit den unmittelbaren Vorteilen argumentiert, welche mehr Krippen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bringen würden. Genau das wird von der Nein-Seite heftig bestritten. Aufbauend auf dem konservativen Familienbild werden die Argumente von 2006 wiederholt.

Die Ursachen
Um das alles zu erklären, kann man auf zwei verschiedene (vielleicht auch komplementäre) Hypothesen zurückgreifen.


Extrablatt der SVP – Hauptwerbemittel im Abstimmungskampf
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Die erste besagt, der Umschwung ist eine reine Folge von Kampagnen. Würde es zweimal genau die gleiche gegeben haben, wäre zweimal das gleiche geschehen. Damit ist das Extrablatt die Ursache des Extrawandels.


Psychologisches Klima der Schweiz – Demoscope
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Die zweite geht davon aus, dass in der Mitte der 00er Jahre des 21. Jahrhunderts das politischen Klima gekippt ist, von einer eher progressiven zu einer eher konservativen Grundstimmung, in der rechtskonservatives Gedankengut nicht mehr nur in der SVP, sondern einiges darüber hinaus beheimatet ist. Was wir an bildungspolitischen Debatten gesehen haben, wiederholt sich bei familienpolitischen.

Claude Longchamp

Der aktuelle Forschungsbericht zum Familienartikel

Die 3 eidg. Volksabstimmung vom 3. März 2013 zeigen verschiedenartige Links/Rechts-Profile

Bei allen drei eidgenössischen Abstimmungsvorlagen vom 3. März zeichnet sich eine Links/Rechts-Polarisierung ab, allerdings in unterschiedlicher Stärke und mit unterschiedlichen Ausprägungen. Eine Uebersicht.

Wie bei vielen Abstimmungen findet sich bei allen drei Vorlagen, über die am 3. März 2013 entschieden wird, eine Links/Rechts-Polarisierung. Das lässt sich anhand der Fraktionspositionen im Nationalrat zeigen, es wiederholt sich im Parolenspiegel, und auch Umfrageergebnisse können danach befragt und bewertet werden.

Verweisen alle drei Indikatoren (mehrheitlich) in die gleiche Richtung, kann man von einer (mehr oder minder) geschlossenen Parteiposition sprechen. Weichen insbesondere die Umfrageergebnisse von den Entscheidungen der Fraktion ab, kann man von einem (mehr oder minder ausgeprägten) Elite/Basis-Konflikt ausgehen. Kompliziert ist die Bewertung, wenn die Fraktions- und Parteispitzenposition nicht einheitlich ist.

Die Analyse nach Vorlage

Stellt man auf die eidg. Vorlagen vom 3. März 2012 ab, hat die Familienvorlage das klarste Links/Rechts-Profil. Geschlossen im Ja sind SP, GP und GLP, eine leicht gespaltene Befürwortung findet sich bei CVP und BDP, während die SVP leicht gespalten im Nein ist. Am schwierigsten noch ist die Positionierung der FDP: Die Fraktion war mehrheitlich dafür, die Parteispitze dagegen, ihr wird aber von der Frauen-Parteien in der FDP widersprochen. An der Basis überwiegt das Ja über das Nein. Allerdings gilt es festzuhalten, dass die 1. SRG-Befragung vor Einsetzen der Nein-Kampagne und der Parolenfassung auf nationaler Ebene war, sodass sich der Zustimmungswert auch in Negative entwickeln kann.


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Etwas konfliktreicher ist die Polarisierung, wie man sie beim revidierten Raumplanungsgesetz feststellen kann. Eine leicht gespaltene Befürwortung ergibt sich bei SP, GP und GLP. Dem steht eine leicht gespaltene Ablehnung bei SVP und FDP gegenüber. Nicht eindeutig klassierbar sind hier CVP und BDP. Bei letztere ist die Befragtenzahl zu gering, um eine eindeutige Qualifizierung abzugeben; bei der CVP fallt der Entscheid schwer, weil die Parteispitze im Ja ist, es aber auf Kantonsebene Abweichungen gibt und auch die Befragung zu Beginn des Abstimmungskampfes keine Zustimmungsmehrheit aufwies.


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Ziemlich kompliziert ist das Links/Rechts-Profil bei der Abzocker-Initiative. Vordergründig spricht einiges für ein bekanntes Muster: Die bürgerlichen Parteien sind dagegen, die linken dafür. Berücksichtigt man alle verfügbare Information, sind aber nur SP und GP geschlossen im Ja. Alles andere ist unsicher: Bei GLP und BDP verzichten wir angesichts der Fallzahlen in Befragungen auf eine Qualifizierung. Den klarsten Gegenpol zur Linken bildet die FDP; die Fraktion stimmte geschlossen gegen die Vorlage, die Partei empfiehlt, unwidersprochen, das Gleiche, doch gibt es, wenigstens in der ersten von zwei SRG-Befragungen einen tendenziellen Widerspruch an der Basis. Das ist bei CVP und SVP noch etwas komplizierter. Denn die CVP-NationlrätInnen stimmten in der Schlussabstimmung mehrheitlich vor die Vorlage – und auch die Basis tendiert gemäss Befragung ins Ja, derweil die Parteiparole „Nein“ lautet. Bei der SVP schliesslich stimmte die Deputation im Nationalrat mit einer Ausnahme gegen die Initiative, die Basis ist aber mehrheitlich dafür. Die Nein-Parole, welche die nationale SVP fasst wirkt stark löcherig, denn 10 Kantonalparteien haben das Gegenteil beschlossen.


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Sicher bleibt eines: Selbst die Links/Rechts-Polarisierung bei Volksabstimmungen ist in einem Parteiensystem, das durch relative Autonomie der Bundeshausfraktionen einerseits, der Kantonalparteien anderseits gekennzeichnet ist, gar nicht so einfach. Die klare Polarisierung zwischen bürgerlich und links, funktioniert kaum mehr, partiell gibt es eine Polarisierung zwischen mitte/links und rechtsbürgerlich, doch kann man auch unheilige Allianzen von links und rechts gegen das (liberale) Zentrum nicht mehr ausschliessen.

Die Zwischenbilanz nach Vorlage

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Parlamentsentscheid in der Volksabstimmung wiederholt, ist bei der Familienvorlage am grössten. Ist das nicht der Fall, kommt es zu einer kaum vorhersehbaren Ablehnung, die aus der (beschränkten) Dynamik im Abstimmungskampf erklärt werden müsste.

Etwas offener ist die Situation bei der Raumplanung, denn insbesondere die CVP kennt einen Elite/Basis-Konflikt. Würde er angesichts der Meinungsbildung im Abstimmungskampf grösser werden, wäre auch ein Scheitern denkbar. Ohne das, dürfte die Vorlage aber in der Volksabstimmung passieren.

Bei der Abzocker-Initiative fällt es schwer, den Parlaments- und Volksentscheid zu vergleichen. Zwar resultierte im Nationalrat eine knappe Nein-Mehrheit zur Initiative, sodass sich die Volkskammer entschied, keine Empfehlung herauszugeben. Weil der Bundesrat keine davon abweichende Position vertreten darf, gibt es auch hier keine Empfehlung, selbst wenn man um die ablehnende Position der Bundesregierung weiss. Unterstellt man aber ein mehrheitliches Nein in den Behörden, ist hier ein gegensätzlicher Volksentscheid durchaus möglich. Der Hauptgrund besteht darin, dass die Ablehnung rechts, auf Elite- wie auch auf Basis-Ebene uneinheitlich ausfällt.

Mehr zu dieser Analyse wird man wissen, wenn die zweite SRG-Befragung vorliegen wird. Spätestens am kommenden Mittwoch wird es soweit sein, denn danach ist die Publikation von Befragungen in der Schweiz untersagt.

Claude Longchamp

Neues Tierseuchengesetz vor der Annahme

Aufgrund der definitiven Resultate in und Hochrechnungen aus den Kantonen ist es sicher, selbst wenn da und dort noch gezählt wird: Das neue Tierseuchengesetz wird in der Volksabstimmung im Verhältnis von zirka 2:1 angenommen.

Bester Prädiktor für die Ablehnung des TSG: SVP-Wählenden-Anteil 2011

Die Grafik zeigt die heutige Ablehnung des Tierseuchengesetzes, gespiegelt durch den SVP-Wähleranteil bei den Nationalratswahlen 2011 (Grafik anclicken, um sie zu vergrössern)

Das vorerst beste Resultat erhielt das Tierseuchengesetz in der Waadt; knapp 89 Prozent stimmen ihm hier zu. Das Gegenteil findet sich in Uri, wo fast 58 Prozent dagegen votierten.
Das Referendum hatte eine ausserparlamentarische Gruppierung ergriffen, die von keiner Partei und keinem Verband Unterstützung erhielt. Sie sammelte bäuerliche Kreise, aber auch Impfgegner und GlobalisierungskritikerInnen. In der Folge schloss sich die SVP den Opponenten an, obwohl die Fraktion das Gesetz im Parlament noch einstimmig befürwortet hatte. Den Zug, der so hätte in Fahrt kommen können, stoppte der Schweizerische Bauernverband, der ein Ja zu neuen Gesetz empfahl.

Nun zeigt die Erstanalyse, dass der Wähleranteil der SVP bei den letzten eidgenössischen Wahlen tatsächlich der beste Prädiktor für die Ablehnung des Tierseuchengesetzes ist. Der Grad an Opposition folgt in erster Linie dem SVP-Wählenden-Anteil bei den letzten Wahlen. In Kantonen wie Waadt und Genf fällt er etwas geringer aus, in allen andere übertrifft er den Prozentwert der SVP bei den Nationalratswahlen 2011 sogar noch etwas.

Typisch für das Konfliktmuster ist auch das Aufschimmern eines Stadt/Land-Graben. Die Ablehnung des Tierseuchengesetzes korreliert positiv mit dem Anteil Personen, die in ländlichen Gebieten leben resp. im primären Erwerbssektor tätig sind. Beschränkt helfen auch die Sprachregionen, das Resultat zu erklären. Entscheidend ist dies aber nicht, da alle Sprachregionen mehrheitlich dafür votierten.
Man kann das auch so zusammenfassen: Gegen das Tierseuchengesetz mobilisiert wurden die bäuerliche Schweiz resp. die ländlichen Gebiete. Die Sammlung hierzu beförderte die SVP, leicht erweitert durch politische Kreise im nahen Umfeld.

Nicht übersehen werden darf jedoch die geringen Stimmbeteiligung. Sie dürfte unter 30 Prozent liegen. Mehr dazu später.

Claude Longchamp

Vor einer rekordverdächtigen Abstinenz bei der Volksabstimmung über das Tierseuchengesetz

Der Kanton Genf zählt als einziger Stand Tag für Tag die briefliche Stimmbeteiligung aus; er ist auch für die nationalen Teilnahmewerte zum eigentlichen Trendkanton geworden.

Heute nachmittag haben im Kanton Genf 27,5 Prozent der Stimmberechtigten ihre Stimme zur einzigen eidgenössischen Volksabstimmung abgegeben: ein ziemlich einmalig tiefer Wert. Die Extrapolation bei frühere Abstimmungen spricht für eine finale Stimmbeteiligung im Kanton Genf von rund 30 Prozent.
Nun sind die Teilnahmewerte im Kanton Genf fast konstant höher als gesamtschweizerisch. Langfristig beträgt die Differenz 4-5 Prozent, allerdings mit einer recht erheblichen Schwankung. Eine gesamtschweizerische Beteiligung von weniger als einem Drittel ist damit wahrscheinlich, ein von unter 30 Prozent möglich.

Die 10 fakultativen Referenden mit der tiefsten Stimmbeteiligung in der Schweizer Abstimmungsgeschichte

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Der bisherige Tiefstwert für die Teilnahme an einer eidg. Volksabstimmungen stammt aus dem Jahr 1972, als es um den Schutz der Währung und die Stabilisierung des Baumarktes ging. Er lag bei 26,7 Prozent. Begründen liess er sich mit der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts, die vorübergehend zu einer geringeren Beteiligung führte. Dafür spricht auch, dass gleich drei weitere rekordnahe Tiefstwerte in den ersten 4 Jahren nach der Erweiterung des Männer- auf das Erwachsenenstimm- und -wahlrechts fallen.
Im 21. Jahrhundert sind ganz so tiefe Beteiligungswerte etwas seltener geworden. Unter 30 Prozent waren sie insgesamt noch drei Mal: 2003 bei der Anpassung der kantonalen Beiträge an die Spitalbehandlungen, am gleichen Tag bei der Einführung der allgemeinen Volksinitiative und 2006 beim Bildungsartikel.

Keine dieser Vorlagen interessierte wirklich – keine wurde auch abgelehnt. Indes, mit Ausnahme der Spitalfinanzierung handelte es sich um Entscheidungen zu weitgehend unbestrittenen obligatorischen Referenden.
Stellt man auf die fakultativen Referenden (um das es sich beim Tierseuchengesetz handelt) ab, kommen ganz so tiefe Teilnahmewerte nicht vor. Das hat damit zu tun, dass es zu einer minimalen Polarisierung kommt, die sich entsprechend beschränkt vorteilhaft auf die Mobilisierung auswirkt.
Der Ausgang ist bei solchen Abstimmung in vergleichbarem Masse offen, wie bei allen fakultativen Referenden. Denn es gibt bei tiefer Beteiligung sehr wohl Fälle, die mangels Debatte glatt durchgingen; die Anpassung der kantonalen Beiträge an die Spitalfinanzierung aus dem Jahre 2003 stehen mit einem Ja-Anteil von 77,4 Prozent dafür. Ebenso existieren auch Beispiele, bei denen die Referendumsführer die Mehrheit hinter sich scharen konnten. So fiel das Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz 1996 bei 31 Prozent Beteiligung mit 61 Prozent Nein-Stimmen exemplarisch durch.

Für den morgigen Abstimmungssonntag lohnt es sich, sicherheitshalber von 2 Szenarien auszugehen: von einer Meinungsbildung, bei der sich Unentschiedene auf beide Seiten verteilen und das neue Tierseuchengesetz durchgehen dürfte, und von einem Kippmomente zugunsten der Opponenten, bei dem das Desinteresse in eine finale Ablehnung mündet.

Uebrigens, die SRG-Medien führen morgen keine Hochrechnung zur eidgenössischen Volksabstimmung durch; die Tagesschau von SRF berichtet um 16 Uhr in einer Spezialsendung über das Ergebnis zum neuen Tierseuchengesetz.

Claude Longchamp

Wahljahr 2011: Bisher unbekanntes Hoch für Volksinitiativen

VertreterInnen des Bundeskanzlei, der Wissenschaft, der Forschung, der Kampagnenführung und des Lobbyings gingen diese Woche an der NPO-Tagung zu Volksinitiativen mit zahlreichen Initiativkomitees in sich: um zu lernen, aber auch zu diskutieren, wo sinnvollerweise Grenzen der Volksrechte sein könnten.

Zum Beispiel Barbara Perriard. Sie ist die amtliche Hüterin der Volksrechte in der Schweiz. Die Basler Juristin leitet seit 2010 die Sektion Politische Rechte der Bundeskanzlei. An der NPO-Tagung zu Stolpersteinen und Erfolgsfaktoren von Volksinitiativen legte sie neue Statistik offen, welche den Gebrauch des Instruments im Wahlumfeld beleuchtet:

. Ergebnis 1: Nie zuvor wurden mit 23 Stück so viele Volksinitiative gestartet wie 2011. Bisheriger Rekordwert war 15.
. Ergebnis 2: Seit den Wahlen 1983 steigt die Zahl lancierter Volksinitiative im Wahljahr- und/oder Vorwahljahr markant an.
. Ergebnis 3: Mindestens seit 1995 gilt, dass die Zahl neulancierter Volksbegehren im Nachwahljahr deutlich sinkt.

Das alles kann man nur so interpretieren: Volksinitiativen sind (mitunter) zu Vehikel von Parteien (und weiteren Gruppierungen) geworden, die sich im Wahljahr profilieren wollen.

Mustergültig vorgeführt wurde dieses Konzept 2007 von der SVP. Symbolträchtig lancierte sie am Bundesfeiertag, dem 1. August des Wahljahres, die Volksinitiative zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen. Damit setzte sie im Wahlkampf eines der Hauptthemen, das sie werberisch für sich zu nutzen wusste. Wie kaum eine andere Affiche wurde das Schäfchen-Plakat zur Icon gegen Migration angesichts geöffneter Grenzen, mindestens im nationalkonservativen und rechtsextremen Umfeld. Damit nicht genug: Auch das Parlament stieg unter Führung der FDP auf die Problematik ein, und formulierte ein Gegenprojekt; 2010 kam es zur Volksabstimmung über beides; just ein Jahr vor der nächsten Nationalratswahl präferierten die Stimmenden die härtere Version in Form der Volksinitiative. Lanciert war damit der neuerliche Wahlkampf, der wohl ebenso Erfolg gehabt hätte wie jener vier Jahre zuvor, wäre da nicht der politischen Klimawandel gewesen, ausgelöst durch den Atom-Unfall in Fukushima und den hohen Frankenkurs im unmittelbaren Vorfeld des Parlamentswahlen.

Klar, bei weitem nicht alle im Wahlumfeld lancierten Volksinitiativen sind so wirksam, denn die wenigsten treffen den Zeitgeist so genau wie das bei der SVP-Ausschaffungsinitiative war. Dafür spricht auch, dass die Kopie des gleichen Konzepts 2011 mit der Masseneinwanderungsinitiative trotz grossem werberischen Aufwand versagte.

Betrachtet man die übrigen Initiativen, erkennt man zahlreiche weitere Gründe; zu ihnen zählen:

. Die aufgegriffene Thematik keine keinen wirklichen Problemdruck, der das Projekt befördert.
. Der Lösungsansatz, allenfalls die Trägerschaft sind zu umstritten, um eine genügend breite Masse zu mobilisieren.
. Die Unterschriftensammlung scheitert an der Zahl und Frist für die einreichung gültiger Unterschriften.
. Das Volksbegehren ist ungültig, oder es wird zurückgezogen.

Die Beobachtung legt nahe, dass vor allem deren Zahl rasch ansteigt, nicht zu letzt wegen der vermehrten Marketing-Ausrichtung verschiedener Parteien und Komitees vor Wahlen. Die erhöhte mediale Aufmerksamkeit, aber auch die gesteigerten BürgerInnen-Sensibilitäten sprechen dafür, sich mit Volksrechten ins Szene zu setzen. Nur, das Instrument ist eigentlich dafür gedacht gewesen, verfassungswürdigen Anliegen, welche Regierung und Parlament nicht teilen, Gehör zu verschaffen. Mit der aktuellen Entwicklung bewegen wir uns in Richtung tagesaktueller Probleme, die mit einem Instrument bewirtschaftet werden sollen, das sich dafür kaum eignet, aber als Plattform der Selbstdarstellung gebraucht werden kann.

Mehr noch, selbst die Ankündigung eines entsprechenden Volksbegehrens schafft es bisweil bis in die Top-Spalten der Medien, die nur auf Aufmerksamkeit aus sind, die Frage der Relevant indessen gar nicht mehr stellen. Die vermeintliche Lancierung einer Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe war der Höhepunkt dieser (unrühmlichen) Entwicklungen.

Im Vorfeld der Tagung habe ich versucht, mit einer Gratiszeitung, die jeden Abend erscheint und viele LeserInnen hat, zu besprechen. Erfolglos – man schnitt die Tagung!

Claude Longchamp

Ein politologisch erst- (und wohl ein)maliges Experiment

Was politisch als Zwängerei daher kommen mag, ist politologisch ein spannendes Experiment: Ein Vergleich der beiden Bauspar-Initiativen, über die die SchweizerInnen 2012 entscheiden.

Am 11. März 2012 entschieden die StimmbürgerInnen, die Volksinitiative “Für ein steuerlich begünstigtes Bausparen” abzulehnen. 43,4 Prozent betrug die Zustimmung bei Volksmehr. Damit war die Sache gescheitert. Am 17. Juni 2012 stimmen wir über die “Schwester-Initiative” ab; “Eigene vier Wände dank Bausparen” heisst das Projekt. Die Zielsetzungen beider Volksinitiativen sind gleich: Der Erwerb von Hauseigentum soll steuerlich begünstigt werden. Die Fördermittel sind verschieden: Die erste Bausparvorlage wollte die Kantone ermuntern, fiskalische Begünstigungen einzuführen, die zweite zwingt sie, das zu tun.

In vielen politisch motivierten Kommentaren wurde die zweifache Abstimmung innert dreier Monate kritisiert. Den Initiativkomitees wurde Eigenprofilierung vor Sachfrage vorgeworfen, und an die Adresse des Bundesrates ging die Klage, die direkte Demokratie zu stressen.

Was politisch als Zwängerei daher kommen mag, ist politologisch jedoch ein spannendes Experiment. Warum?

Am Abend des 17. Juni 2012 werden wir die Abstimmungsergebnisse vergleichen können: Wir werden generelle Präferenzen der Kanton zum Bausparen an sich kennen, und wir werden eine Abschätzung machen können, ob gemässigte oder radikalere Initiativen eine höhere Annahmechance haben.

Bereits heute können wir Meinungsbildungsprozesse vergleichen, denn es stehen erste vergleichbare Umfragen zur Verfügung, die jeweils rund 7 Wochen vor der Volksabstimmung erstellt wurden.

Einige findige JournalistInnen zeigen sich heute erstaunt, dass die momentane Zustimmungs zur anstehenden Initiative etwas höher sei als der Ja.-Anteil bei der abgelehnten Vorlage.

Das ist so nicht richtig. Denn man erkennt die Zustimmungsbereitschaft nur, wenn man Aepfel mit Aepfeln vergleicht – sprich Werte aus Vorbefragungen unter einander in Beziehung setzt. Und man darf dabei die variable Beteiligung(sbereitschaft) nicht unterschlagen. Dafür muss man die Ja- und Nein-Prozentwerte aus Vorbefragungen mit den Beteiligungsabsichten in eben diesen Erhebungen multiplizieren. Dann sieht das wie folgt aus:


SB: Stimmberechtigte, TW: Teilnahmewillige (Tabelle anklicken um sie zu vergrössern)

Mit anderen Worten: Geringer als vor drei Monaten sind im Umfragenvergleich

– die Teilnahmeabsichten
– die Zustimmungsbereitschaft und
– die Unschlüssigkeit

Grösser geworden ist dagegen die Ablehnungsbereitschaft. Verschwunden ist damit der scheinbare Widerspruch!

Nun dürfen auch die beiden Ausgangslagen nicht einfach fix auf das erwartete Abstimmungsergebnis vom 17. Juni 2012 übertragen werden, Denn es kommt zweimal auf die Richtung und das Ausmass des Meinungsbildungsprozesse an. Einfacher ist es, ersteres abzuschätzen: Nach aller Erfahrung steigt der Nein-Anteil, und sinkt der Ja-Anteil – jeweils unter den Teilnahmewilligen- Diese werden während eines Abstimmungskampfes etwas zahlreicher. Konkret: Zu erwarten ist, dass die Beteiligungsbereitschaften bis Mitte Juni leicht zunehmen, dass der ausgewiesene Nein-Anteil in den Umfragen stark wächst, und allenfalls auch der Ja-Anteil noch etwas sinkt. Damit ist das Szenario., dass auch die zweite Initiative angelehnt wird, wahrscheinlicher als das Umgekehrte.

Wie gross die Veränderungen sind, weiss man jedoch nicht. Denn sie hängen von den Kampagnen Pro und Kontra und der Mobilisierung durch die Gesamtheit der Abstimmungsthemen ab. Das kann schlicht niemand vorwegnehmen. Diese Beurteilung wird man erst am Abstimmungstag machen können.

Bis dann gilt: Zwei sehr ähnliche Abstimmungen in kürzester Zeit führen dazu, dass die Unschlüssigkeit unter den Teilnahmewilligen sinkt, und zwar Gunsten der Mehrheit in der ersten Abstimmung. In unserem konkreten Fall zugunsten der Ablehnungsbereitschaft. Das ist eigentlich genau das, was man erwarten konnte.

Am Abstimmungstag wird man auch eine Antwort haben, welche Vorlage mehr Ja resp. Nein bekam. Und damit sagen können, ob gemässigtere oder radikalere Volksinitiativen mehr Zustimmung bekommen.

So viel heute zum politologisch erst- und wohl auch einmaligen Experiment!

Claude Longchamp