Triggerpunkte: Mein Vortragserlebnis an der Uni Basel

Triggerpunkte oder tief verletzte Erwartungen sind neuerdings auch in der politischen Schweiz in aller Leute Munde. In Deutschland ist eben eine umfassende theoretisch inspirierte empirische Studie erschienen. Steffen Mau, einer der drei Autoren, hielt gestern an der Uni Basel einen Gastvortrag, der mich zu folgender Zusammenfassung mit kleinem Test führte.

Der Vortrag
“Konflikte werden hergestellt – sie werden entfacht, getriggert und angespitzt. Damit sind sie kein sozialer Faktor, der einfach nur gegeben ist. Dass wir die Gesellschaft konfliktreich erleben, hat damit zu tun, wie Meinungsverschiedenheiten aufbereitet und kommuniziert werden.”
So umschreibt das neue Buch “Triggerpunkte”, das die Berliner Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser verfasst haben, dieses Jahr erschienen ist und seither auf der Spiegel-Bestenliste figuriert.
Steffen Mau hielt gestern an der Uni Basel einen Gastvortrag dazu und wurde noch etwas deutlicher: “Polarisierung wird politisch und medial erzeugt!”. Sie ist nicht als sozialstrukturelles Substrat vorhanden.

Was mir mein Rucksack sagt
Während meiner Ausbildung als (Nebenfach)Soziologe habe ich das Umgekehrt gelernt. Westliche Gesellschaften seien strukturell und kulturell gespalten, lehrten die beiden Cleavage-Theoretiker Seymour Lipset und Stein Rokkan Ende der 1960er Jahre. Konflikte wie Zentrum/Peripherie, Staat/Kirche, Stadt/Land und Arbeit/Kapital liessen sich historisch herleiten und hätten zu fundamentalen Spaltungen der Gesellschaften geführt. Ueberwunden worden seien sie durch typische Elitenkooperationen, die zu nationalen politischen Systemen führten. Im 20. Jahrhundert wurde der Gegensatz von Arbeit und Kapital dominant.
Seit einiger Zeit zweifelt man an der Vorherrschaft des Konfliktes zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er wurde im 20. Jahrhundert sozialpartnerschaftlich geregelt. Vielmehr versucht die Sozialwissenschaft neue Konflikte als “postmaterialistisch” oder als “grün-alternativ-libertär” zu erfassen, oder als Gegensätze zwischen “some- und anywhere”, “Kosmopolitismus und Kommunitarismus” oder “Universalismus oder Partikularismus” zu beschreiben.

Die neue These
Mau vertritt dazu eine Gegenthese. In vielen Fragen seien heutige Gesellschaften gar nicht so stark gespalten wie wahrgenommen. Es herrsche ein Minimalkonsens bei der Bewältigung von Klassenkonflikten, in Inklusionsfragen, in der Geschlechterfrage oder in der Oekologiefrage. Zentrale Forderungen erreichten immer wieder Regelungen mit mehrheitlicher Zustimmung. Das entspricht dem gesellschaftlichen Konsens bei zentralen Herausforderungen. Allerdings fokussiere die Oeffentlichkeit, so Mau (und zahlreich andere KritikerInnen), meist nur auf die Ränder, die sich wechselseitig radikalisierten.
Um diese für die Gegenwartsgesellschaft differenziert genug erfassen zu können, schlagen die Berliner Soziologen deshalb eine neue Heuristik von “Arenen der Ungleichheit” vor: jene der Oben/Unten-, der Innen/Aussen-, der Wir/Sie- und der Heute/Morgen Ungleichheiten. Da gehe es um Klassen-, Nationen-, Gruppen und Generationenfragen. Typisch sei deshalb eine Nebeneinander von Verteilungs-, Grenz-, Identitäts- und Klimakonflikten. Politisiert werden so der Wohlfahrtsstaat, die Migrations-, die Anerkennungs- und Umweltpolitik. Zur Disposition stehen Ressourcenverteilungen, Inklusionsmassnahmen, Gleichstellungsprogramme und Nachhaltigkeit.
Ein Ersatz für die Analyse grundlegender Spaltungen ist das wohl nicht. Aber ein nützliches Instrument, um das medial vermittelte Bewusstsein von Spaltungen zu verstehen.

Empirische Befunde für Deutschland
In seinem Basler Vortrag trug Mau zunächst die Ergebnisse vor, welche eine gross angelegte empirische Studie zur Gegenwartsgesellschaft Deutschlands ergab. Die Oben-Unten-Ungleichheit differenziert zwischen Arbeitgeber und Kleinunternehmern einerseits, kulturellen Experten (z.B. LehrerInnen) und Dienstleistungsarbeitern (z. B. VerkäuferInnen) andererseits. Bei den drei anderen Arenen bilden die Produktions- und Dienstleisungsarbeiter (Maurer resp. Verkäuferinnen) gemeinsam mit dem Kleinunternehmern den einen Pol, die kulturellen und technischen Experten (z.B. ArchitketInnen) den anderen.
Auch politisch gesehen wird eine Zweiteilung der vier Konfliktmuster nahegelegt. In der Oben-Unten-Arena stehen sich Wählende der FDP und der Grünen gegenüber, bei den drei anderen jeweils die der AfD und der Grünen. Die politische Polarisierung erscheint dabei akzentuierter als die gesellschaftliche. Entscheidend sind aber nicht alle Parteien, sondern die Grünen, die AfD und die FDP.

Was Triggerpunkte sind
Um die Entstehung dieser Polarisierungen zu verstehen, führte Mau (endlich) seine Triggerpunkte ein: Das sind verletzte Erwartungen der Gleichheit, der Normalität, der Identität oder Autonomie. Entzündet werden sie meist durch medial ausgetragenen Kontroversen zur Aktualität, die hochemotional geführt werden und so unversöhnliche Pole sichtbar machen.
Dank der Aufmerksamkeitsökonomie der Medien erreichen sie einen ausgesprochen hohen Stellenwert, der das Konflikthafte der Gegenwartsgesellschaft überschätzen lässt. Denn bei weitem nicht allen Gesellschaftsgruppen werden so adäquat erfasst, weil sie vor allem den breiten Gesellschaftlichen Konsens in zahlreich ausgeblendeten Fragen teilen, die durch Triggerpunkte nur beschränkt beeinflusst werden.

Der kleine Test
Selber bin ich mit der Liste der Triggermomente aus dem zurückliegenden Wahlbarometer nach Basel gereist, welche das Wahlbarometer im Herbst 2023 aufzeigte. Sie wurden verwendet, um den Auslöser von Parteiwechseln zu bestimmen. An oberster Stelle steht die “wokeness oder Gender-Debatte”, gleichauf mit der Polarisierungskritik. Es folgen die Reaktionen auf die Klimakleber und den Prämienschock bei den Krankenkassen.
Mau würde wohl sagen: typische Identitätsfragen (wokeness), Nachhaltigkeitsfragen (Klimakleber) und Verteilungsfragen (Prämienschock). Und über allem die geradezu symbolisch die Polarisierungsthematik. Sie haben den Wechsel zur SVP (wokeness), oder Mitte (Polarisierung) ausgelöst resp. den beiden grünen Parteien (Klimakleber) geschadet. Sie erklären bis zum einen Drittel der Wählenden-Gewinne bei SVP und Mitte und bis zu einem Viertel der -Verluste der beiden grünen Parteien.
Bingo! Die Heuristik hilft auch hier für die Gegenwartsdiagnose, selbst wenn sie nicht alles erklärt. Denn bei der SP waren die Triggerpunkte 2023 weder für die Zu- noch Abwanderung entscheidend. Vielmehr profilierte die Kaufkraftverluste mindestens die Zuwanderung.

Mein Fazit
Was mir auch bleibt: Die neue Heuristik hilft, die etwas allgemeinen gehalten “kulturellen Konflikte” in der Wahl- resp. Gesellschaftsanalyse zu differenzieren. Denn die Berliner Soziologen unterscheiden da treffend Grenzkonflikte (zwischen Innen- und Aussen), Identitätskonflikte (zwischen Wir und Sie) und Nachhaltigkeitskonflikte zwischen Heute und Morgen. Mau präzisierte im Basler Vortrag, allenfalls entsteht bei Letzteren sogar ein neuer Klassenkonflikt zwischen den Generationen.
Triggerpunkte helfen dabei, die medial wichtigen Momente zu sortieren, allenfalls Wählenden-Bewegungen zu bestimmen, aber nicht, die Grundstrukturen etwa des Parteiensystems zu analysieren. Die werden durch parteispezifische Einstellungen und Interessen bestimmt, die an den Rändern unter dem Eindruck von Wahlkämpfen ausfransen.
Danke, der Vortrag hat meine Gedanken sortiert. Ich werde das Buch trotz gut 500 Seiten gespannt lesen!

Claude Longchamp

Vor der SP-Nomination der Kandidat:innen für den Bundesrat: Favoriten, Verfolger und Aussenseiter

Drei explizite Prognosen zu den Wahlchancen der sechs SP-Bundesratsanwärter liegen vor. Sie sehen Jon Pult und Evi Allemann an der Spitze. Beat Jans und Daniel Jositsch bilden die Verfolgergruppe, Roger Nordmann und Matthias Aebischer sind die Aussenseiter.

Die drei Vorhersagen
Die Nomination in der neuen SP-Fraktion findet an diesem Samstag statt.
Erstellt wurden die Prognosen hierzu von Adrian Vatter, Politologie-Professor an der Uni Bern, sowie von den Wahlbörsen «50plus1» von Prof. Oliver Strijbis (Franklin Uni Lugano) und Wahlfieber, einem Wettkollektiv mit Sitz in Wien (A) und Kiel (D).
Vatter stützt sich auf seine Typologie der Bundesrät:innen. Sie hat den Vorteil, auch qualitative Beurteilungen zu liefern. So zählt er Pult zu den «Populären», Nordmann und Jositsch wären «Intellektuelle», Jans ein zielstrebiger «Regent» und Allemann resp. Aebischer gut vermittelbare «KonkordanzpolitikerInnen».
Die Wahlbörsen haben weniger hohe Absichten. Sie wollen nur ermitteln, was die Erwartungshaltungen (bei MeinungsführerInnen) sind.

Die Stärken und Schwächen der SP-Interessierten
Das Ergebnis ist nicht einheitlich, letztlich aber eindeutig: Aebischer und Nordmann wird eine Wahl am wenigsten zugetraut, vor allem wegen ihrer Herkunft. Mit Albert Rösti (BE) und Guy Parmelin (VD) sind bereits je ein Mitglied aus ihrem Herkunftskanton im Bundesrat.
Jositsch und Jans wurden vor allem zu Beginn des Auswahlverfahrens als Favoriten bezeichnet. Bei Jans zählte der Posten als Regierungspräsident aus Basel, bei Jositsch seine wiederholt brillante Wahl als Zürcher Ständerat. Zwischenzeitlich sieht man aber auch Grenzen: Jans sei nicht mehr im Parlament und damit weniger gut vernetzt. Jositsch habe mit seinem Vorpreschen vor Jahresfrist bei der Nachfolge von Simonetta Sommaruga seine parteiinternen Chance vermindert.
Bleiben die beiden Favorit:innen in den Prognosetools: Evi Allemann, die einzige Frau unter den Interessierte mit einem soliden Leistungsausweis als Legislativ- und Exekutivpolitikerin, sowie Jon Pult, dem Draufgänger aus Graubünden, dem Kommunikationstalent mit Naturverbundenheit. Beide verkörpern bei allen Unterschieden die nachrückende SP-Generation.
Die Vorentscheidung fällt am Samstag die SP-Fraktion. Für sie locken die Chancen, mit Evi Allemann die Frauen im Bundesrat in die Mehrheit zu versetzen resp. mit Jon Pult eine energische Identifikationsfigur anzubieten.

Die Entscheidung der Fraktion und der Bundesversammlung
Offen ist noch, ob es ein Zwei- oder ein Dreierticket gibt. Normal ist ein Doppelvorschlag. Doch mit einem Dreifach-Vorschlag könnten auch weitere starke Bewerbung eine Chance erhalten.
Denn die finale Entscheidung fällen die Fraktionen und die Bundesversammlung. Da treten auch die Grünen gegen die FDP an, und man spekuliert auch über eine Mitte-Bewerbung gegen die FDP.
Namentlich von SVP-Fraktionspräsident Aeschi ist bekannt, dass er sich gegen ehemalige Juso-Politiker:innen ausgesprochen hat, was Allemann und Pult betreffen würde. Das kann auch als Kampfansage für Bewerbungen ausserhalb des Ticket gesehen werden.
Die FDP wiederum dürfte damit beschäftigen sein, ihre beiden Mitglied bestätigen zu können, während die Mitte am schwersten einzustufen ist, welche Zeichen sie setzen wird. Von der SVP hört man aber, wenn sie angreife, müsse man darüber diskutieren.
Das Ergebnis der Wahl entscheidet die Mehrheit der National- und Ständerät:innen am 13. Dezember 2023. Für alle SP-Kandidierende gilt: Sie kommen in einer potenziell turbulenten Bundesratswahlen als letzte dran, müssen sich also auf überraschende Einflüsse aus den Wahlgängen davor gefasst machen.

Claude Longchamp

Vatter’s Typologie der BundesrätInnen:
https://magazin.nzz.ch/hintergrund/so-sieht-der-perfekte-bundesrat-aus-ld.1588186

Wer schafft es auf SP-Ticket für den Bundesrat?

Sechs PolitikerInnen der SP bewerben sich für die Nachfolge von Alain Berset. Es sind dies Evi Allemann, Matthias Aebischer, Beat Jans, Daniel Jositsch, Roger Nordmann und Jon Pult. Wer wird nominiert?


Tabelle anclicken, um sie zu vergrössern

Die SP nominiert in aller Regel zwei Personen: Das garantiert Auswahl, ohne den Prozess ganz aus der Hand zu geben. Die meisten Fraktionen verfahren so.
Spannender ist die Frage, ob die SP bei einem Zweier-Ticket die geschlechtsspezifische Frage offen lässt oder eine paritätische Liste favorisiert. Dann ist Evi Allemann gesetzt. Und die fünf Männer balgen sich um den zweiten Platz.
Ohne Grund wäre Allemann nicht auf dem Ticket. Sie ist Berner Regierungsrätin, war 15 Jahre lang Nationalrätin, und das mit heute 45 Jahren. Sie gehört dem rechten Flügel an, was Wahlchancen in der Bundesversammlung erhöht. Fachlich wäre sie mehrfach einsetzbar. Doch ist mit Albert Rösti bereits ein Berner im Bundesrat.
Bei den Männern gibt es meines Erachtens drei Favoriten und zwei Aussenseiter.
Unter den Favoriten hat Daniel Jositsch wohl die grössten Wahlchancen in der Bundesversammlung. Fraglich ist aber, ob er es aufs Ticket schafft. Denn vor Jahresfrist verärgerte er viele Frauen, als der den Vorrang des Geschlechts nicht akzeptieren wollte. Zwischenzeitlich zeigt er Reue, und er hat die Nomination seiner Kantonalpartei im Sack. Ob die Frauenmehrheit in der SP-Fraktion gleich tickt, bleibt aber offen. 2009 scheiterte er als Regierungsrat, doch 2023 erreichte er von allen Gewählten die höchste Stimmenzahl.
Für ihn spricht, dass der Zürcher Ständerat seit 16 Jahren im eidg. Parlament ist, aktuelle in fünf Kommissionen sitzt und als Vize der Fraktion amtet. Auch er gehört dem rechten Flügel an. Würde er nominiert und gewählt, wäre er ein designierter Justizminister.
Für Beat Jans sprechen sein Kanton Baselstadt, sein Amt als dortiger Regierungspräsident, seine Zeit im Nationalrat, seine Aemter, die er da inne hatte, und sein früheres Vizepräsidium der SP Schweiz. Jans wäre ein aussichtsreicher Aussenminister. Hinderlich ist allenfalls, dass er seit drei Jahre nicht mehr im Bundesparlament ist. Jans ist ein vielseitiger Politiker und in der Partei zentriert.
Jon Pult kann sein noch fast jugendliches Alter in die Waagschale werfen. Er ist aktuell Vizepräsident der SPS, und er präsidiert die wichtige KVF, obwohl er erst 2019 ins Parlament gewählt wurde. Zudem ist er der einzige Kandidat, der viersprachig ist. Er gilt als Favorit der Parteileitung, denn er könne im Bundesrat ein fachlicher eigentliches Gegengewicht zu Rösti werden, egal welches Departement er erhält. Doch war er nie in einer Kantonsregierung.
Auch Nordmann und Aebischer könnten in diese Rolle schlüpfen. Doch “ihr” Departement ist vergeben. Sie haben aber auch andere Handicaps zu überwinden, um überhaupt nominiert zu werden. Nordmann ist Waadtländer und würde die Ueberzahl Romands zementieren, und Aebischer gilt in der Fraktion nicht als Schwergewicht. Sie dürften deshalb nicht mehr als Aussenseiter-Chancen haben.
Nun müssen die Hearings mit der SP-Basis Aufschluss geben, wer im Wahlkampf am meisten Schub entwickeln und damit die Nominationschancen positiv beeinflussen kann.
Ich denke, momentan Allemann ist für das Ticket gesetzt, Jans, Pult und Jositsch haben alle ihre Chance, sie zu begleiten.

Claude Longchamp

Meine Einsätze bei und nach den Wahlen

Die Eidg. Wahlen 2023 stehen vor der Türe. Am Sonntag sind die National- und Ständeratswahlen. Mitte Dezember sind dann die Bundesratswahlen. Ich freue mich, nochmals im Einsatz zu sein. Das sind meine Auftritte und Termine.

22.10. BlickTV: Kommentierung Parlamentswahlen
23.10. Wahlanalyse Generationentandem UND, Thun
24.10. Schwedische Botschaft: Konferenz der nordischen Staaten
25.10. Wahlanalyse Mitte Kt. Bern, Lyss
27.10. ZHAW: Was machen wissenschaftliche Dienstleister bei Wahlen
1.11 Wahlanalyse SP Kanton Bern, Bern
7.11. Business Lunch: “Fois gras” and other cultural cleavages in Switzerland, Lausanne
7.11. Wahlanalyse für VCS, virtuell
21.11. Wahlanalyse für Berner Fachhochschule, Bern
13.12. BlickTV: Bundesratswahlen

Claude Longchamp

#Frischgebloggt: Bilanz der Umfragen und Wahlbörsen

Drei Umfrageserien und zwei Wahlbörsen zu den Parteistärken sind in den letzten Tag auf den neuesten Stand gebracht worden. Was besagen sie?


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Umfragen werden keine mehr erscheinen, denn 10 Tage vor einer eidg. Wahl ist die Veröffentlichung neuer Ergebnisse nicht mehr erlaubt. Wahlbörsen können weiterhin aufdatiert werden, haben aber so kurz vor Schluss kaum mehr prognostischen Wert. Deshalb verzichte ich hier bis zum Wahltag auf ein weiteres update.
Die nachstehende Grafik zeigt die Ergebnisse einzeln, in der Zwischenzusammenfassung nach Tool-Arten und im Endergebnis.

Ergebnisse einzeln
Beginnen wir mit dem Allgemeinsten: Ich verwende das Kombinationsverfahren, um Ausschläge in einzelnen Tools auszugleichen. Das ist ein verbreitetes Vorgehen bei Prognosen.
. Alles zusammen sieht man die SVP weiterhin vor der SP, Mitte und FDP dahinter, aber praktisch gleichauf. Nochmals zurück folgenden die beiden grünen Parteien, vorab die GPS vor der GLP. Die FDP wollte ursprünglich die SP überholen und die Grünen wollten drittstärkste Partei werden. Beides wird wohl ausbleiben.
Gegenüber 2019 werden Gewinne vor allem bei der SVP erwartet, eingeschränkter auch bei der SP und der Mitte. Verluste im gleichen Zeitraum dürfte es am ehesten bei der GPS geben, gefolgt von der FDP und der GLP. Alle vorausgesagten Gewinne zusammen betragen gerade mal 4 Prozentpunkte. Die aggregierten Verluste belaufen sich auf 4.2 Prozentpunkte. Das spricht ganz im Gegensatz zu 2019 für eine ziemlich stabile Wahl.
. Die beiden Toolarten liegen sehr nahe beieinander. Die grössten Differenzen gibt es bei den Grünen und bei der SVP mit je 4 Promillen Abweichung. Dabei sind die Börsen leicht freundlicher gegenüber den Grünen, die Umfragen etwas vorteilhafter für die SVP.
. Vergleicht man die Umfragen untereinander, gibt es einen Einfluss aufgrund des Termins. Die Erhebung von 50plus1 für «bluewin» ist die älteste. Sie fällt am positivsten für die SVP, Mitte und GLP aus. Das letzte «SRG-Wahlbarometer» ist bei der SP und der FDP vergleichsweise höher. Dafür schneiden hier die grünen Parteien schlechter ab. Die «Tamedia»-Umfrage sieht vor allem die Mitte tiefer als die anderen. Dennoch sei es geschrieben: Die Unterschiede auch zwischen den Umfragen sind gering.
Sie sind alle richtig oder alle falsch!

Bilanz
Erstens, es gibt einen Mainstream in den Erwartungen. 2023 wird eine re-stabilisierte Wahl. Rechts legt leicht zu, aber nur wegen der SVP, nicht wegen der FDP. Das Zentrum bleibt fast gleich stark, und links verliert leicht, vor allem wegen den Grünen, nicht wegen der SP.
Zweitens, vier der hier besprochenen Parteien haben einen Gegentrend zu 2019. Die Grünen stehen vor einem Rückgang. SVP, SP und Mitte könnten erstarken. Die Ausschläge sind ausser bei der Mitte kleiner als 2019. Man kann von einer Korrekturwahl sprechen.
Drittens, fortsetzen dürfte sich der Trend von 2019 nur bei der FDP. Das allerdings könnte zum Platzwechsel mit der Mitte führen.

Schluss
Festgehalten sei zudem: Das sind konsolidierte Erwartungen 10 Tage vor der Wahl, nicht die Endergebnisse! 2019 wichen die Umfragen im Mittel der Parteien 1.2 Prozentpunkte ab. Das war für die letzten12 Jahre der höchste Werte. Er resultierte wegen dem unterschätzen Aufschwung namentlich der GPS.

Claude Longchamp

Mein (vorläufiges) Wahlprogramm 2023

Die eidg. Wahlen 2023 stehen an. Es sind meine 10. Parlamentswahlen meiner Premiere 1987.

Diesmal werde ich Parlaments- und Regierungswahlen für #BlickTV kommentieren. Anschliessend mache ich noch einige Nachanalysen für Parteien, Verbände und politische Organisationen. Das können auch noch mehr werden, denn es sind einige Anfrage noch offen.
Allerdings ist danach Schluss! Ich pausiere ab Mitte Dezember für längere Zeit und melde mich im Frühjahr 2024 wieder, wenn ich weiss, was ich neu mache.

9.10. Wahlprognose für Nau_Live
22.10. BlickTV: Kommentierung Parlamentswahlen
23.10. Wahlanalyse Generationentandem UND, Thun
25.10. Wahlanalyse Mitte Kanton Bern, Lyss
7.11. Wahlanalyse für VCS
21.11. Wahlanalyse für Berner Fachhochschule

13.12. BlickTV: Bundesratswahlen

Claude Longchamp

Warum man das Ergebnis der Ständeratswahlen 2023 noch nicht kennen kann

Wie die Ständeratswahlen ausgehen könnten, beschäftigt die mediale Oeffentlichkeit gegenwärtig stark. Bereits sind vier Sitzprognosen erschienen. Meines Erachtens kann man heute jedoch nur die Ausgangslagen für die erste Runde bestimmen. Was in der zweiten Runde geschieht, muss noch offen bleiben.

Mediale Sitzprognosen als Basis
Drei vollständige Sitzprognosen und eine weitere zu bestimmten Kantonen erhellen das etwas unsichere Feld der Ständeratswahlen. Der Tagesanzeiger und SRF-News haben die Ausgangslage in allen Kantonen journalistisch analysiert. Verschiedene Lokalmedien oder Regionalredaktionen haben Opinionplus mit spezifischen Umfragen beauftragt. Schliesslich hat Watson eine Wahlbörse zu allen Ständeratswahlen präsentiert. Was kann man daraus lernen?


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Wo es Rücktritte gibt
Handfestestes Kriterium für einen offenen Wahlausgang ist ein Rücktritt. Sieben Kantone erfüllen dieses Kriterium. In der Waadt treten die beiden KantonsvertreterInnen gleichzeitig zurück. In Zürich, Bern, Aargau, Solothurn, Tessin und Schwyz gibt es je eine Vakanz.
Die SP hat drei Rücktritte (BE, SO, TI) zu verkraften. Je zwei sind es bei FDP (VD, ZH) und SVP (AG, SZ). Einen Abgang gibt es zudem bei den Grünen (VD).

Wer welche Aussichten hat
Sofern sie sich äussern, zeigen die vier Tools eine Reihe gemeinsamer Erwartungen. In der Waadt wird einheitlich damit gerechnet, dass FDP (Broulis) und SP (Maillard) zu Lasten der Grünen die Sitze halten oder übernehmen. Die FDP behält ihren.
In den allen anderen Wahlkreisen mit Rücktritten gibt es keine so klare FavoritInnen.
. In Zürich kommen gemäss Tools Bewerbungen von FDP (Sauter) und SVP (Rutz), allenfalls Mitte (Kutter) in Frage.
. In Bern konzentriert sich die Aufmerksamkeit vorerst auf SP (Wasserfallen) und Grüne (Pulver).
. Im Aargau sind es SVP (Giezendanner) und Mitte (Binder), allenfalls auch SP (Suter).
. In Solothurn richtet sich das Augenmerk auf FDP (Ankli) und SP (Roth).
. Im Tessin erscheinen FDP (Farinelli) und Mitte (Regazzi) möglich.
. Und in Schwyz gibt es eine offene Konkurrenzsituation. zwischen SVP (Schwander) und FDP (Gössi).
Damit kommt es im Tessin zu einem sehr wahrscheinlichen Parteiwechsel. Der Rest ist offen.

Was die Wahlforschung weiss
Die Wahlforschung zeigt, wer bei Ständeratswahlen erhöhte Chancen hat. Vorteile hat die Partei oder Allianz der/s AmtsinhaberIn. Es kommt aber auch die Geschlossenheit in den Lagern und ihre Mobilisierungsfähigkeit hinzu. RegierungsrätInnen (Bekanntheit) und herausragende NationalrätInnen (politisches Profil) haben ebenfalls höhere Chancen. Bisweilen wirkt sich zudem der regionale Ausgleich (Stadt/Land) aus. Neuerdings kommt auch das Geschlecht (Frauensolidarität) als Kriterium hinzu.
Ein dominantes Kriterium, das alles entscheiden würde, gibt es im Wettbewerb aber nicht.
Wahrscheinlich wird da überall ein zweiter Wahlgang nötig werden, bei dem neu aufgemischt wird.


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Abwahl Bisheriger?
Speziell ist die Ausgangslage in den Kantonen Jura und Neuenburg, die ihre StänderätInnen nach dem Proporzverfahren bestimmen.
In Jura ist die jetzige SP-Vertreterin (Crevoisier Crelier) erst letztes Jahr für Baume-Schneider, die in den Bundesrat gewählt wurde, nachgerückt. Sowohl SP (Barthoulot) wie auch FDP (Gerber) fordern sie mit heraus. Massgeblich sind zuerst die Parteistärken, dann die Personenstimmen. Das macht die SP-Regierungsrätin zur Favoritin.
In Neuenburg konkurrenziert die SP (Hurni) die grüne Ständerätin (Vara), was angesichts der ausgeglichenen Parteistärken zu einem unsicheren Ausgang führen könnte.
Spekuliert wird darüber hinaus, im Wallis (Maret, Mitte), in Genf (Sommaruga, SP) in Freiburg (Gapany, FDP) und Glarus (Zopfi, Grüne) auch ein(e) AmtsinhaberIn gefährdet sein. Allfällige Nutzniesser kämen aus der FDP (Nantermond, VS), vom MCG (Poggia), von den Grünen (Andrey, FR) resp. von der SVP (Rothlin, GL).
Die Wahrscheinlichkeit erscheint aber gering: Bisherige haben ohne Skandale im Majorzverfahren einen klaren Bonus. Alle anderen Spekulationen, die hie und da geäussert werden, halte ich aus heutiger Sicht für ganz unwahrscheinlicher.


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Erste Bilanzen
Trotz zahlreicher Unsicherheiten wagen der Tagesanzeiger, Watson und SRF bereits eine finale Sitzprognose, wenn auch mit Unsicherheitsbereichen. Der Tagesanzeiger und SRV sehen die FDP als Wahlgewinnerin. Watson ist da zurückhaltender. Mittelt man die Erwartungen kommen Mitte und FDP neu auf 14 Sitze. Die SVP bleibt auf 7 Sitzen. SP und Grüne verlieren je einen. Das würde eine moderate Verschiebung nach rechts bedeuten.
Mitte und FDP dürften im neuen Ständerat zusammen eine klare Mehrheit, und keine andere Zwei-Partei-Allianz wird das für sich beanspruchen. SVP und SP bleiben damit in der primären Konsensbildung aussen vor.
Ich werde diese Uebersicht in der Woche nach der ersten Runde sicher aufdatieren.

Claude Longchamp

#Fritschgebloggt: Wahlbörsen zu den Nationalratswahlen 2023

Weitgehend bestätigte Trends aus den Wahlumfragen durch Wahlbörsen. Das ist das erste Fazit zu den beiden Wahlbörsen vor den Nationalratswahlen 2023.


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Wahlbörsen haben sich als Erweiterung von Wahlumfragen etabliert. Sie basieren nicht auf Befragungen der Wahlberechtigten, sondern auf Einschätzungen von ExpertInnen, die auf Parteistärken wetten. Gemittelte Erwartungen sind ähnlich gut wie aggregierte Wahlabsichten.
Wahlbörsen haben Vorteile: Sie liefern virtuell permanent Werte für Parteistärken. Zudem können sie auf alle Parteien angewendet werden. Beides ist bei Befragungen aus Aufwandgründen meistens nicht der Fall.
Ihre Nachteile: Vieles hängt von der Qualifikation der Wettenden ab. Wählbörsen, die langfristige am Prognosemarkt sind, versuchen das durch Kontrollen der Teilnehmenden hoch zu halten. Das macht eingeführte Marken zuverlässiger.
Unabhängig von Wahlumfragen sind Wahlbörsen aber nicht. Meist folgen sie deren Trends, zeigen aber an, ob Fachleute diese für zuverlässig halten oder nicht.

Aussagen zu den Nationalratswahlen 2023
Mit Blick auf die Schweizer Wahlen 2023 gibt es zwei qualifizierte Wahlbörsen; je eine von @50plus1ch resp. von @Wahlfieber. Diese wird seit den Wahlen 2007 erstellt, jene seit 2015. @Wahlfieber ist offen und kann via Internet verfolgt werden. @50plus1ch wird exklusiv für @watson_news gemacht und muss so gefiltert beobachtet werden.
Im Detail sind die Ergebnisse leicht unterschiedlich: @Wahlfieber zeigt eine etwas stärker polarisierte Parteienlandschaft zwischen SVP und SP, @50plus1ch bewertet Mitte und Grüne etwas besser.
Kombiniert man beide Tools, wird ein weitgehend bekanntes Bild ersichtlich: SVP und SP könnten zulegen, GPS und FDP dürften verlieren. Stabilität wäre für Mitte und GLP das wichtigste Stichwort.
@Wahlfieber hat den Vorteil, auch die kleinen Parteien explizit auszuweisen. Für die neuen Bewegungsparteien @mass_voll und @Aufrecht kommt das Tool auf 1.5% schweizerweit. Damit liegen sie vor der EDU, aber hinter der EVP.
Dieses Instrument deklariert zudem alle vorläufigen Werte als Zwischenstände, nicht als Prognosen. Die folgen erst gegen den Schluss des Serie. @50plus1ch lässt diese Frage offen.

Claude Longchamp

“Viele Probleme, kaum einfache Lösungen.”

Interview mit Anna Kappeler für watson. 23.9.23

Herr Longchamp, in einem Monat wird gewählt. Täuscht der Eindruck oder kommen diese Wahlen nicht richtig in Schwung?
Claude Longchamp: Mein Eindruck ist es nicht. Die Parteien sind werberisch stark unterwegs, die Ständeratskandidierenden bestreiten viele Podien und die Medien berichten fleissig.

Doch kommt der Wahlkampf bis zu den Wählern?
Der grosse Unterschied zu 2019: Es gibt kein überragendes Thema, das die politische Grosswetterlage prägt und breit diskutiert wird. Sondern Baustellen, für die wir teilweise keine Lösungen finden.

Müssten Sie diesen Wahlkampf labeln, womit?
Ich sehe eine politische Sättigung durch die Pandemie, in deren Gefolge aber zahlreiche Baustellen deutlich geworden sind. Doch dominiert keine. Hektik nach der Pandemie trifft das Momentane am meisten. Man könnte von einer Korrekturwahl sprechen, welche die für die Schweiz unüblichen Veränderungen von 2019 etwas korrigiert.

Krankenkassen und Klimawandel treiben die Menschen laut SRG-Wahlbarometer am meisten um. Warum hebt keines dieser Themen richtig ab?
Beides sind keine Überraschungsthemen mehr, wie es 2019 die Klimafrage noch war. Deshalb gelingt es keiner Partei, das Thema zur treibenden Kraft im Wahlkampf zu machen. Bei den Krankenkassen haben wir viele Ideen von rechts bis links, ohne dass eine obenaus schwingt. Bei der Klimafrage hatten wir im Juni eine wichtige Volksabstimmung mit einer Allianz aus siegreichen Parteien. Auch da gibt es keinen Profiteur. Neu ist, dass wir Triggerthemen haben: Wokeismus, Gender-Stern und Wolfsabschuss.

Warum ziehen Triggerthemen so – geht es uns einfach zu gut?
Der Genderstern war ein Vorwahlkampf-Aufhänger der SVP, um emotional Stimmung zu machen. Solche Themen werden aus einer Vorwurfshaltung heraus bewirtschaftet. Sie emotionalisieren stark, haben aber nicht das Potenzial eines Sachthemas zur parteipolitischen Profilierung.

Sachpolitische Probleme gibt es genug: Sicherung der Sozialwerke, veränderte Sicherheitslage in Europa, steigende Mieten … Welche Partei hat den bisher besten Wahlkampf hingelegt?
Glaubt man den Umfragen, konnten fast alle ihre Positionen, die sie sich bis 2020 erarbeitet hatten, behalten. Drei weichen davon ab. Die SVP, die zulegt. Die Grünen, die verlieren. Und die Mitte, die vielleicht Gewinne dank der Fusion von CVP und BDP machen kann. Verglichen mit dem Ausland sind aber alle Veränderungen gering. Interessant: Zählt man die Gewinne oder Verluste, wie sie aktuell gehandelt werden, zusammen, sind diese kleiner als die Gewinne allein der Grünen 2019. Das spricht dafür, dass niemand stark mobilisieren kann. Ebenso wie auch niemand stark verliert.

Also keine Gewinnerin?
Keine grosse Gewinnerin. Wenn ich eine kleine herausheben soll, ist es die SVP. Mit der Migrationsfrage hat sie am ehesten das Potenzial, ein Grundklima zu definieren.

Auf Lampedusa landen gerade so viele Menschen wie selten. In der Schweiz leben erstmals über 9 Millionen Leute. Wird die Zuwanderung doch noch zum Thema?
Kann sein. Die SVP will es. Aber genau das macht die Schwierigkeit aus. 2019 wurden die Medien zumindest teilweise gerügt, das Thema Klima und damit Grüne begünstigt zu haben. 2023 will man das nicht wiederholen, egal, wem es nützen könnte. Darum favorisieren alle Medien einen thematisch gefächerten Wahlkampf.

Welche Partei legt den schlechtesten Wahlkampf hin?
Die Grünen finden sich überraschend in der Defensive. Sie machten in den Kantonen Sitze gut, spekulierten damit, drittstärkste Kraft zu werden und statt des zweiten FDP-Sitzes in den Bundesrat einzuziehen. Doch seit einem Jahr sind sie etwas ausser Tritt geraten. Sie verloren exemplarisch das Frontex-Referendum, wo es um die Mitfinanzierung der EU-Grenz- und Küstenwache Frontex ging. Und sie wurden durch den Rücktritt von SP-Bundesrätin Sommaruga überrascht. Im Kanton Zürich und auch in Genf verloren sie dann bei den Wahlen. Vor 10 Tagen verstand man ihr Nein zum beschleunigten Solarausbau im Wallis nicht. Aktuell versuchen sie sich zurück ins Geschehen zu katapultieren, aber es hat bisher keinen Befreiungsschlag gegeben. Es drohen Verluste in beiden Kammern.

Die Mitte dürfte die FDP überholen. Welche Folgen hätte das?
Der Siegeszug der Mitte ist die vielleicht spannendste Verschiebung dieses Wahlkampfes. Bei der Fusion der CVP und der serbelnden BDP war ich sehr skeptisch. Doch es hat sich für die Mitte gelohnt. Gerade die Junge Mitte und die Mitte-Frauen haben viel zur Erneuerung der Partei beigetragen. Trotzdem: Ein zweiter Bundesratssitz ist unrealistisch. Die Mitte wird einen solchen kaum anstreben. Die Differenz ist zu gering, um den Sitz dauerhaft halten zu können.

Die Parteien bleiben wie bisher im Bundesrat vertreten?
Das ist das Hauptszenario. Doch es gibt ein Nebenszenario: Sollte die SP wider Erwarten verlieren und die Grünen wider Erwarten halten oder gewinnen, könnten die Grünen zulasten der SP einen Bundesratssitz bekommen. Falls die Mitte dieses Spiel mitmacht und sich entsprechend als Königsmacherin positioniert. Die Mitte war es, die der SP 1959 zu zwei Sitzen verhalf. Sie könnte es auch sein, die das aufhebt.

Was hätte die Mitte davon?
Sie könnte die Polarisierung von links durchbrechen. Und so einen ersten Schritt einleiten gegen die Mehrheit von rechts. Lanciert werden könnte damit die GLP gegen die FDP im Bundesrat.

Nächste Woche gibt es zwei ausserordentliche Sessionen. Die SP will über «Wohnen und Mieten» sprechen, die SVP über «Zuwanderung und Asyl». Sind diese Debatten mehr als nur für die Galerie?
Das dürfte der Höhepunkt der Polarisierung zwischen links und rechts werden. Beide Parteien versuchen, Session und Wahlkampf so zu kombinieren und maximale Aufmerksamkeit im jeweiligen strategisch wichtigsten Thema zu erzielen. Und so den Schwung in die Schlussmobilisierung zu nehmen. Ob sie damit inhaltlich neue Impulse geben, wage ich zu bezweifeln.

Was müsste jetzt noch passieren, damit es die Leute an die Urnen treibt?
Einen neuen Schub könnten die Wahlen erhalten, wenn die Bundesratswahlen vom Dezember zum eigentlichen Renner im Wahlkampf würden. Die SP ist aber zufrieden so, wie es läuft, und ihre Widersacher wissen, dass ein Angriff der SP eher helfen könnte. Wahlen haben sich bei einer Beteiligung von 45 bis 50 Prozent eingependelt. Neuwählende sind kaum dabei. Zum Vergleich: Die Covid-Krise dagegen hat 2021 stark mobilisiert. Bei der zweiten Covid-Abstimmung gingen 65,7 Prozent abstimmen.

Warum sind so viele Menschen wahlverdrossen?
Das Wort ist mir zu hart. Ich nehme es nüchterner. Solange wir die Regierung nicht direkt wählen, wird es keine höhere Wahlbeteiligung geben. Wir steuern unser System – im Gegensatz zum Ausland – über Sachfragen. Das ist weniger sensationell. Aber richtig. Und wichtig.

Zur Person
Claude Longchamp ist Historiker und Politikwissenschaftler. Bis April 2017 war er Geschäftsführer des Forschungsinstituts gfs.bern. Der Mann mit der Fliege interpretiert Abstimmungen und Wahlen, früher lange Jahre als Experte bei SRF.

NR-Sitzprognosen den Medien sehen nur moderate Verschiebungen kommen

Nun kommen die journalistischen Sitzprognosen. Sie sehen die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat leicht gestärkt, die grünen Kärfte leicht geschwächt.

Innert weniger Tage sind zwei journalistisch gemachte Sitzprognosen zum neuen Nationalrat erschienen. Zurerst war CHMedia, dann kam Tamedia.


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Beide Vorschauen haben Gemeinsamkeiten. Sie gehen von einer leichten Verschiebung in der grossen Kammer nach rechts aus. Im Detail zeigen sich auch Unterschiede.

Aussagen
Verliererinnen sind beide Male die GPS und die GLP. Sie waren 2019 die grossen Gewinnerinnen. Nun kommt es zu einer moderaten Gegenbewegung. Beide Parteien dürften aber stärker als 2015 bleiben.
Gewinne gibt es in beiden Hochrechnungen für die bürgerlichen Parteien SVP, FDP und Mitte. Sie waren das letzte Mal die Verliererinnen. Auch das ist eine beschränkte Korrektur in die Gegenrichtung.
Etwas ungleich sind die Tools bei der SP. Tamedia nennt hier leichte Gewinne, CHMedia sieht ein Halten.
Die Hochrechnung von CHMedia ist insofern interessanter, dass die kleinen Parteien explizit ausgewiesen werden. Demnach legen EDU/Massvoll und die Lega je einen Sitz zu, derweil die EVP und die PdA/Sol. je einen einbüssen. Solidarité würde aus dem Parlament ausscheiden, Massvoll einziehen.
CHMedia bezeichnet die Mitte als Wahlsiegerin, Tamedia nennt da die SVP. In beiden Fällen gibt es vier Sitzgewinne. Eine grosser Sieger ist das nicht. Es es sind mehr Sitze als das letzte mal.

Machart
Sitzprognosen dieser Art reflektieren die konsolidierten Erwartungen der entsprechenden Medienredaktionen. In der Regel bilden die jüngsten Umfragen die wichtigste Referenz. Kantonale Wahlergebnisse kommen hinzu. Zudem werden die Auswirkungen von Listenverbindungen geprüft.
Gerechnet wird in der Regel von unten nach oben. Vor allem KorrespondentInnen in den Kantonen plausibilisieren und konkretisieren die Erwartungen, beispielsweise auch der ParteistrategInnen.
Beide Hochrechnungen sind meines Erachtens konservativ. Sie gehen von insgesamt geringen Verschiebungen aus. Bei CHMedia wandern 12 Sitze, bei Tamedia 7. Diese Prognose bezieht sich allerdings nur auf die 6 grösseren Parteien.

Bewertung
Entweder unterschätzen beide Vorschauen einen Monat vor der Wahl die Veränderungen, oder die Parteienlandschaft hat sich 2023 weitgehend stabilisiert.
Trifft letzteres ein, kann man die voraussichtlichen Sitzstärken der Tabelle entnehmen. Die SVP bleibt stärkste Partei, vor der SP, der Mitte und der FDP gleichauf, aber vor den Grünen. Die bürgerlichen Parteien kommen auf 117 Sitze und bauen damit ihre Mehrheit um 7 Sitze aus. An sich können sie auch ohne SP regieren oder GLP den Nationalrat bestimmen.
Mitte/Links bleibt in der Minderheit, die SP ist darin aber klarer die stärkste Partei.
Der Druck auf die Bundesratszusammensetzung dürfte geringer sein als 2019, denn die beiden grünen Parteien ausserhalb dürften geschwächt aus der Wahl hervorgehen. Zusammen dürften sie auf 36-37 statt 44 Sitze wie bisher kommen.

Claude Longchamp