Wie aus WutbürgerInnen Citoyen(ne)s werden

Er ist der optimistischste Politikwissenschafter, den ich kenne. Seine Karriere begann mit einer Habilitation über das gütliche Einvernehmen in der Schweizer Politik. Dass es damit nicht mehr weit her ist, bestreitet der emeritierte Berner Professor nicht. Doch sucht Jürg Steiner via deliberativer Politik nach einen Ausweg Richtung mehr Verständigung.

Wenn es Sommer wird und ich nach dem klingelnden Telefon greife, ahne ich, was kommt: “Claude, das esch dr Jürg”, heisst es in akzentreiem Berndeutsch. Was auch immer für eine Geschichte danach folgt, sie endet mit einer Einladung zum Mittagessen. Letzte Woche war es wieder soweit. Wir trafen uns im Della Casa, einem Berner Traditionsrestaurant.

Jürg Steiner lebt in Thun, wenn er nicht auf Achse ist. Einmal, als er mich am Bahnhof seiner Heimatstadt abholte, fragte er: “Was ist schöner als Thun?” – “Nichts t(h)un”, antwortete er gleich selber – und lachte über den gelungenen Witz.

Dass Steiner in seinem Forscherleben nichts getan hätte, kann man wahrlich nicht behaupten: Seine Habilitation in Mannheim widmete er der Konkordanzkultur der Schweiz nach der Einführung des Zauberformel für die Wahl des Bundesrates. Es war die hohe Zeit des gütlichen Einvernehmens, der Verständigung politisch unterschiedlicher Kreise untereinander. Seit es keine Einigkeit mehr gibt, wie der Bundesrat richtigerweise zusammengesetzt sein soll, ja, seit die Polarisierung die politisch-mediale Szenarie beherrscht, ist es damit nicht mehr weit her. Es herrscht, auch in der Schweiz, meist der Machtkampf, bis klar ist, wer in der Mehr- und wer in der Minderheit ist!

Das ist auch Jürg Steiner, der zwischenzeitlich Professor in Chapel Hill und Florenz war, nicht entgangen. Dennoch hat er nicht aufgegeben: In den letzten Jahren hat er sich ganz dem Projekt der deliberativen Demokratie gewidmet. Gemeint ist damit, dass Demokratie vom Diskurs über politischen Themen lebt, den möglichst viele BürgerInnen ganz im Sinne der partizipatorischen Demokratie miteinander führen. Und genau darin sieht Steiner neue Chancen, den Blockierungen durch das Schwarz-Weiss in der Mediendemokratie etwas gegenüberstellen zu können.

Bei all seinen Treffen in der Schweiz weibelte Steiner für sein neues Buch zur deliberativen Demokratie, das Ende Juni im Cambridge-Verlag erscheint. Vor dem Essen mit mir, war er bei der NZZ-Gruppe – und das nicht ohne Erfolg: Die NZZ am Sonntag widmete zu Pfingsten mit einem grossen Artikel Steiners Thema.

“Weisst Du”, sagte mir Jürg, “auf der ganzen Welt interessiert man sich für Deliberation. Die EU fördert sie mit viel Geld, und selbst die Kommunistischen Partei Chinas experimentiert damit. Nur in der Schweiz bleibt sie ein Unding”. Hauptgrund hierfür sieht der weltgewandte Berner Politologe in der Konzentration auf die hiesige direkte Demokratie, gemeinhin als Spezialfall verstande, der auf dem Globus Seinesgleichen sucht. Dabei übersehe man, dass gerade die Verlagerung der direkten Demokratie von der Versammlungs- zur Abstimmungsdemokratie Vor- und Nachteile habe, ist Steiners Credo: So sei es möglich, dass 5 Millionen Stimmberechtigte gemeinsam kommunizieren und entscheiden können; doch könne man nicht verhindern, dass mit der Medialisierung der Politik eine neue Logik Einzug halte.

Wenn zufällig ausgewählte BürgerInnen wieder in kleinen Gruppen in einem offenen Prozess miteinander diskutieren und einen gemeinsamen Entscheid fällen sollten, verschwinde der Kampf, kehre das Gespräch zurück, würden aus den WutbürgerInnen wieder Citoyen(ne)s.

Es ist eine bemerkenswerte These, die Jürg Steiner mit sich herumträgt. Er weiss sie mir Verve zu vertreten, und er ist nicht um Argumente verlegen, was auch in der Schweiz besser werden müsste. Der unermüdliche Debattierer mit gut 70 Lenzen empfiehlt Deliberation als Gegengewicht nicht nur zu Entscheidungen, die durch Abstimmungskämpfe bestimmt würden, nein, er sieht sie auch als Erweiterung der behördlichen Willensbildung, die zunehmend durch Lobbyismus bestimmt werde.

Forderungen nach mehr Partizipation waren immer das Gegenstück zu Technokratie, bleibt mir in Erinnerung, als wir uns verabschieden. Bis in einem Jahr … Und wer solange nicht warten mag, lese den Artikel der “Aus Wutbürgern werden Citoyens”, den Wissenschef und Physiker Andreas Hirstein in der NZZaSo publiziert hat, derweil fast alle hiesigen PolitologInnen rund um den prominenten Zeitgenossen aus Thun nichtstun, um die Welt zu verbessern.

Claude Longchamp

Die Wirkungen von Volksinitiativen – neu beurteilt

Dieses Buch muss man einfach loben! Denn es erweitert das Kleinklein über (Miss)Erfolge von Volksinitiativen durch einen bisher unbekannten Weitblick in Geschichte und Jurisprudenz. Eine Neubewertung des innovativsten Volksrechts der Schweiz ist angezeigt.

Gabriela Rohner, heute am Aarauer Zentrum für Demokratie tätig, hat einen überwältigenden Ueberblick über die Wirksamkeit von Volksinitiativen vorgelegt. Ihr Zeithorizont ist so umfassend wie nur möglich: Für 162 Jahre Schweizer Bundesstaatsgeschichte ist sie den vielfältigen Wirkungen von Volksinitiativen auf die Rechtssetzung nachgegangen.

Die Standardantwort zur aufgeworfenen Fragestellung lautete (auch in meinen Vorträgen): Rund 10 Prozent der Volksinitiativen werden in der Volksabstimmung angenommen. Der Rest scheitert, führt im besten Fall zu einem Gegenvorschlag, ohne dass man eine gesicherte Uebersicht über Erfolgswerte hätte.

Genau damit hat sich die Juristin Rohner nun beschäftigt, und sie legt, nach qualitativen Fallstudien, eine quantifizierende Uebersicht vor. Ihre neue Antwort ist: In 14 Prozent der Volksinitiativen führt ihre Einreichung zu einem direkten Gegenvorschlag. In weiteren 39 Prozent kommt es zu einem indirekten Vorschlägen. Zusammen sind das die Hälfte aller Fälle. Bei der Hälfte dieser Hälfte führte Verhandlung zwischen Behörden und InitiantInnen zum Rückzug der Volksinitiative – und damit (möglicherweise) zu gar keine Abstimmung.

Rohner nimmt dieses Ergebnis zum Anlass einer weit positiveren Würdigung der Wirkungen von Volksinitiativen als das bisher üblich war: „Diese Zahlen belegen, dass der Dialog mit den Initianten – soweit vertretbar – gesucht wurde mit dem Ziel, eine für alle Parteien akzeptable Lösung zu finden. Die Volksinitiative ist somit ein wichtiges Verhandlungspfand und stelle damit verbunden ein bedeutsames politisches Instrument zur Konfliktlösung dar. Die Kompromissbereitschaft hat massgebend damit zu tun, dass sich der Ausgang einer Volksabstimmung nie definitive voraussagen lässt.“

Die revidierte Lehrmeinung untermauert Rohner mit einer neuartigen Typologie der inhaltlichen Wirkungen der Volkinitiativen, die legislatorisch etwas ausgelöst haben. In einem knappen Drittel spricht sie von einem weitgehenden Erfolg der Initianten, in gut einem Drittel von einem mittleren und im letzten Drittel von einem kleinen Erfolg. Beispiele dafür zitiert sie zuhauf.

Natürlich, fast alles von dem, was hier wiederholt wird, hängt von den Kategorienbildung ab. Die Autorin selber sagt, eine gereifte Methode dafür gibt es (noch) nicht. Ihr ist aber zu Gute zu halten, dass sie die bisher aufwendigste Datenbeschaffung vorgenommen und eher konservative Kriterien verwendet hat. Damit schützt sie ihr optimistisches Urteil vor Einwänden. Ihr Schluss ist nicht das Ergebnis einer subjektiven Wertung; vielmehr kommt er zustande, weil die bisherige Optik, von Wirkungen auf Verfahren in der Abstimmungsdemokratie ergänzt wird durch einen tiefen Einblick in die Gesetzgebung.

Vielleicht ist eine ihrer Begründungen für Politikwissenschafter etwas blauäugig. Denn Rohner glaubt, das Parlament verhandle nur, weil es nicht wisse, wie allfällige Abstimmungen ausgingen. Das weiss das letztlich niemand genau, Annahmen hierzu werden aber sehr wohl ins Positionierungskalkül zu Volksinitiativen miteinbezogen. Dafür ist Politik letztlich auch zuständig.

Dennoch: Nicht nur die 300 Textseiten der Dissertation, die von Andreas Auer betreut wurde, lohnen sich. Es kommt ein fast 100seitiger Anhang hinzu, der bestehende Uebersichten wie bei Swissvotes erhellend erweitert. Da steckt nicht nur unheimlicher Fleiss dahinter, auch Unvoreingenommenheit, die miteinander kombiniert ein neues Bild des Funktionierens der direkten Demokratie erscheinen lässt. Wünschenswert wäre eigentlich nur, das alles wäre via Internet elektronisch verfügbar.

Claude Longchamp

Perspektiven 2025: Bilanz für die Schweiz ein Jahr nach der Veröffentlichung

Vor genau einem Jahr legte der Bund den Bericht Perspektiven 2025 vor. Was dann sein wird, wissen auch die AutorInnen aus der Bundesverwaltung nicht. Deshalb haben sie eine Trendanalyse vorgenommen und mit Szenarien weitergedacht. Hier resümiere ich, was davon das Politsystem betrifft – und frage, welche der Aussichten heute plausibler resp. unplausibler denn je erscheinen.

Die Trendanalyse für die Schweiz ist treffend. Das politishe System und dessen Umweld werde zunehmend komplexer, schreiben die Autoren des Berichts Perspektive 2025. Damit einher gehe eine Entwicklung Richtung sinkender Handlungsfähigkeit des Staates, gekoppelt mit einer sinkenden Leistungsfähigkeit des Politsystems. Gründe dafür werden vielerorts gesehen: im Einfluss internationaler Trends, in der zunehmenden Verschränkung von Innen- und Aussenpolitik, in der steigenden Verflechtung von Politik und Wirtschaft durch das Lobbying, via die Individualisierung, verbunden mit einer wachsenden Mobilität, in der wachsenden Aufgabenlast des Staates, der zunehmend schwierigeren Finanzierung seiner Tätigkeit und dem Druck der Oeffetnlichkeit, der von immer kritischeren Medien ausgeht.

Im politischen System am meisten gefordert sehen die amtlichen Berichterstatter das Milizsystem, die Governance der Verwaltung und den Föderalismus, was den Ruf nach institutionellen Reformen vermehren wird.

Was tun?

Eine Antwort gibt es nicht, denn es gibt nicht nur die schweizerische Antwort auf die Herausforderungen. Sie müssen, so der Perspektiven-Bericht, auf die Entwicklung des internationalen Umfeld abgestimmt sein. Da wird zwischen regionalen (sprich: europäischen) und globalen (ebene weltweiten) Veränderungen unterschieden. Kombiniert gibt das vier (logisch) denkbare Szenarien, die zu je einem Motto für das kommende staatlichen Handeln führen.

. die globale wie regionale Integration mit dem Motto “Globalität und Mobilität”
. die globale Integration mit regionaler Fragmentierung mit dem Leitspruch “Wiedergeburt asiens”
. die globale Fragmentierung mit regionaler Integration, angeleitet durch “Europa als Gestaltungsmacht” und
. die globale wie regionale Fragmentierung, mit der Handlungsanweisung: Rückbesinnung auf Schweizer Traditionen”.

Im ersten Szenario stehen alle politischen Lampen auf grün. Die Weltordnung ist multipolar, Grossmächte agieren friedlich nebeneinander und das Konfliktpotenzial ist gering. Entsprechend sind die Internationalen Institutionen relevant, und sie werden von der Schweiz aktiv genutzt.
Im zweiten Szenario erstarkt nur Asien, die USA stagniert, die EU schwächelt. Die regionale Blockbildung nimmt zu, das Konflitkpotenzial bleibt aber beschränkt. Internationale Organisationen können sich nur auf einer veränderten Basis konsolidieren; ein Prozess, der von der Schweiz nicht mitbestimmt werden kann.
Im dritten Szenario wird das Schweizer Umfeld unipolar. Nur die EU ist sicher und stark, während die USA und Asien zu ferne Bezugspunkte darstellen. Die internationalen Verhältnisse sind fragil, das Konfliktpotenzial entsprechend hoch Das alles blockiert internationale Institutionen. an der EU führt kein Weg mehr vorbei.
Im vierten und letzten Szenario sind die globalen Machtverhältnisses unklar. Das Konlfiktpotenzial ist rundherum gross. Es bilden sich ad-hoc Allianzen, was die internationalen Organisationen alt aussehen lässt.

An dieser Stelle interessiert sich der Perspektiven-Bericht für die Folgen für Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Wer davon mehr wissen möchte, kann sich den Bericht runterladen oder bestellen.

Mich interessiert im Moment vor allem die Frage, welche der vier Szenarien, genau ein Jahr nach der Veröffentlichung des Bericht, an Plausibilität gewonnen resp. verloren haben?

Antworten sind erbeten, denn nur eine Bestimmung der Entwicklungen auch ausserhalb der Schweiz macht einen Entscheid über die Ausrichtung im Innern rational!

Claude Longchamp

Hinweise auf erhellende politische Bücher

“Das beste Buch über Politik: Welches Werk, das Sie jüngst gelesen haben, hat Ihren Horizont in Sachen Politik am meisten erweitert?”


auch ein gutes Buch …

Genau das wollte ich gestern von meinen neuen Twitter-Followern wissen. Spontan geantwortet haben mir:

@hp_rubi: Walter Wittmann und Stéphane Hessel
@DBinswanger: Pierre Rosanvallon, La société des égaux
@def_izit: schwer zu sagen – halte “Colin Crouch, Postdemokratie, dt.-edition suhrkamp” nach wie vor als höchst aktuell
@ArminWolf: Drew Westen: Political Brain / Daniel Kahnemann: Thinking Fast and Slow (mehr Ökonomie, trotzdem)
@belzig: Asterix der Gallier
@MadMenNa: Götz Aly: “Warum die Deutschen? Warum die Juden?” Interessanter Zus.-hang zw. (fehlendem) Liberalismus und Antisemitismus.

Zunächst habe ich hab zu danken! Denn beileibe nicht alle vorgeschlagenen Bücher habe ich bereits gekannt. Klar, Asterix und die Gallier habe ich schon als Jugendlicher gelesen – und einigermassen memoriert. Wittmann und Hessel habe ich auch in meiner Bibliothek – sie sind mir, ehrlich gesagt, aber zu grobe Vereinfacher.

Crouch wiederum habe ich auf diesem Blog schon besprochen, und ich habe es in einem Workshop zum Thema “Wer regiert die Welt?” zur Diskussion gestellt. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich; geblieben ist mir ein Vorschlag, in der heutigen Zeit besser von der “Postdiktatur” zu sprechen. Kahnemanns schnelles und langsames Denken bin ich grad am Lesen – mehr dazu später! Denn vorschnell sollte man ihn nicht beurteilen …

Nicht wirklich gekannt habe ich die drei andern Bücher. Die kurze Recherche zeigt mir, dass sich alle irgendwie mit Demokratie beschäftigen, den Ursachen ihres Versagens, den bedrohlichen Herausforderungen und den Notwendigkeiten der bürgerzentrierten Ansprache.

Zum Pariser Historiker Rosanvallon, dem es um Ungleichheit als Bedrohung der Demokratie geht, halte ich vorerst fest: “Depuis la naissance de l’idée démocratique, les conditions de la pérennité du régime occupent les esprits. Une démocratie ne survit que si un minimum d’égalité se maintient entre les individus qui la constituent. Comme l’écrivait Rousseau, qu’un homme ne puisse en acheter un autre, voilà la moindre des exigences. Il n’est pas envisageable, pour les révolutionnaires français et américains, que les inégalités économiques puissent ternir l’éclat de l’égalité postulée entre les hommes. Celle-ci “était considérée comme une qualité démocratique, et pas seulement comme une mesure de redistribution des richesses”, précise l’historien. Les belles pages qu’il consacre à l’égalité comme valeur matricielle des révolutions, de part et d’autre de l’Atlantique, sont précieuses (et même piquantes quand on apprend qu’en 1789, la démocratie vibre à “l’électricité morale” produite par la prise de conscience d’un lien nouveau entre les hommes). Surtout, elles nous éclairent, en miroir, sur ce moment particulier que nous vivons, qu’on peut qualifier d’une formule : la panne de l’égalité (et de la gauche, par voie de conséquence).”

Aly, dem deutschen Politikwissenschafter, geht es um das spezielle Verhältnis von Deutschen und Juden. Gemerkt habe ich mir vorerst die These: “Warum die Juden? Warum die Deutschen? Diese beiden Fragen harren seit 1945 einer Antwort. Götz Aly gelangt in seinem neuen Buch zu verstörenden Einsichten. Er beschreibt Fortschrittsscheu, Bildungsmangel und Freiheitsangst so vieler christlicher Deutscher während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dagegen begeisterten sich die deutschen Juden für das Stadtleben, für höhere Bildung; sie wussten die Chancen der Moderne zu nutzen. Die trägen Nicht-Juden sahen ihnen mit Neid und Missgunst hinterher. Aus Schwäche erwuchsen zuerst Sehnsucht nach kollektiver Stärke, dann Rassendünkel und am Ende mörderischer Antisemitismus. Götz Aly ermöglicht es, den Holocaust als Teil der deutschen Geschichte zu verstehen.”

Schliesslich habe ich auch zum amerikanischen Psychiater Westen, der sich mit politischer Kommunikation in demokratischer Absicht, beschäftigt, einen Merksatz: “In politics, when reason and emotion collide, emotion invariably wins. Elections are decided in the marketplace of emotions, a marketplace filled with values, images, analogies, moral sentiments, and moving oratory, in which logic plays only a supporting role. Westen shows, through a whistle-stop journey through the evolution of the passionate brain and a bravura tour through fifty years of American presidential and national elections, why campaigns succeed and fail. The evidence is overwhelming that three things determine how people vote, in this order: their feelings toward the parties and their principles, their feelings toward the candidates, and, if they haven’t decided by then, their feelings toward the candidates’ policy positions.”

Gerne nehme ich die Anregungen zu guten Büchern über Politik auf – und die Zeit dazu werde ich mir gönnen!

Claude Longchamp

PS: Ach ja, die Liste kann jederzeit fortgesetzt werden!

Der cleverste Papagei der Wahlprognosen

Vorteil Obama, sagt Polly der Papagei, der 2004 und 2008 äusserst erfolgreich die amerikanischen Präsidentschaftswahlen vorausgesagt hat. Mat Romney würde mit 48:52 dem amtierenden Präsidenten unterliegen, ist sein Urteil.

Polly ist nicht einfach irgend ein Papagei. Er ist so etwas wie der Star unter den Vögeln, die über Wahlen zwitschern.

Genau genommen, ist er nur ein symbolischer Papagei, den er spricht nur nach, was ihm die besten Wahlprognostiker, die ich kenne, vorhersagen.


Quelle: PollyVote

Andreas Graefe aus Bayern, Scott Armstrong aus Pennsylvania, Randall Jones aus Oklahoma und Alfred Cuzan aus Florida haben letztes Jahr am Kongress der amerikanischen Politikwissenschafter ein Paper vorgelegt, das ihre Forecasting-Methode detailliert beschreibt.

Keine Theorie ist präzise genug, um zu sagen, wie man Wahlen vorhersagen kann, sind die Spezialisten überzeugt. Und kein Instrument kann für sich beanspruchen, fehlerfrei zu sein, fügen sie bei. Entsprechend ist ihr Vorgehen pragmatisch: Für gute Wahlprognosen verwende man, was plausibel ist und sich bewährt hat. Nach Auffassung des Spezialisten-Teams sind das

• Wahlumfragen
• Wahlbörsen
• Makro-ökonomische Modelle
• Index-Methoden und
• Expertenurteile

Die systematisch umgerechneten amerikanischen Wahlumfragen ergeben (reduziert auf die Zwei-Kandidaten-Wahl) 52,4 Prozent für Obama. Die Iowa Wahlbörse steht bei 52,9 Prozent. Besser noch steht es für den Amtsinhaber bei der Index-Methode, selber ein Mix aus Merkmalen der Kandidaten, der grossen Themen der zugeschriebenen Kompetenz der Bewerber, damit umzugehen, und der Konstellationen der Wahl. Das alles spricht zu 54,6 Prozent für Obama. Schlechter sieht es für ihn aus, wenn man auf die bewährten makro-ökonomischen und makro-politischen Merkmale abstellt, denn da kommt der jetzige Präsident nur auf 49.9 Prozent Wahrscheinlichkeit, wiedergewählt zu werden.

Zu diesen vier berechneten Werte für den Wahlausgang kommen Expertenurteile hinzu. 16 Fachleute geben hierzu monatlich einmal ihre Einschätzung ab, die dann zu einem gemittelten Wert führt. Aktuell liegt der bei 51,6 Prozent für den Demokraten.

Lange fackelt PollyVote nicht mehr, wenn die fünf Werte beisammen sind, denn dann bildet das Team, das für die Gesamtprognose zuständig ist, ganz einfach einen Mittelwert.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2004 und 2008 ist man mit diesem Verfahren, das noch weniger elaboriert war, sehr gut gefahren. Die Vorhersagen zum Wahlausgang waren nicht nur richtig; sie waren auch sehr präzise.

Das hat PollyVote Selbstvertrauen gestärkt. Denn ihre Prognosen finden, ziemlich transparent und frei zugänglich, fast täglich auf ihrer Website statt. Ein wenig mehr davon in der bisweilen aufgeregten Wahlberichterstattung der Medien über Primaries der Republikaner und die Politik des demokratischen Präsidenten wäre sichernlich angeziegt!

Vor einem muss ich allerdings warnen. Ganz stabil sind die vorhergesagten Werte nicht. Am 7. Mai 2011, unmittelbar nachdem Osama bin Laden niedergestreckt wurde, war Obama rund 54,1 Prozent auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Wahlchancen. Tiefpunkt war der 4. November, als Polly, der cleverste Papagei unter den Wahlprognostikern, ihm noch 50,4 Prozent der Voten vorhersagte.

Immerhin, Mehrheit ist Mehrheit!

Claude Longchamp

Twittprognosis ?????????????

Am Sonntag schon bin ich auf Twittprognosis gestossen; darüber zu bloggen getraute ich mich am 1. April nicht, weshalb ich das heute nachhole. Mit der Frage an die Weisheit der Viele: Wer und was steckt hinter dieser Weise der …

Die neueste Grafik ist spektakulär: Eine Prognose für die Piratenpartei in jedem deutschen Bundesland. Mit 13 Prozent ist Berlin Rekordhalter, während in der neueste Spross in der deutschen Parteienlandschaft in Baden-Württemberg auf 2,5 Prozent kommt.

Vertrieben wird die Darstellung von “twittprognosis”. Genauso wie viele andere, höchst interessante Vorhersagen.
Nur, was twittprognosis ist erfährt man kaum; die kürzeste Selbstdarstellung lautet: “Scientificly ascertained prognoses for elections worldwide based on CATI, Online-Panel, Prognosis, Online-Polls, Face-To-Face-Interviews and Election Results.”
Eine Homepage ausserhalb von Twitter gibt es nicht; selbst google findet hierzu nicht. Auf wikipedia eine grosse Leere, einzig irgendwo versteckt ein Kommentar, der twitter-Dienst suche sich einzunisten, ohne dass man erfahre, was gemacht werden; Fazit, gut geraten sei auch geraten.

An sich finde ich die Weisheit der Viele etwas höchst Interessantes. Hier bleibt die Frage, ist es die Weisheit einiger weniger? Vielleicht hilft mir die Weisheit der Vielen, die mir folgen, weiter, um zu klären, wer und was Twittprognosis ist?

Claude Longchamp

Allianzbildung im neuen Nationalrat: Das Zentrum gibt den Takt vor, braucht aber einen Verbündeten

Die Fraktionen im Nationalrat haben ihre Positionen bezogen und stimmten bisher genau so wahlverwandt wie ihre Wählerschaften. Das zeigt eine Analyse von Christian Bolliger und Samuel Kullmann von Berner Büro Vatter AG, die der heutige Sonntagsblick präsentiert.

Nach einigem Schwanken war kurz vor- und nach den Wahlen alles klar: Das letzte Wahlbarometer, aber auch die Wahltagsbefragung legten auf der Rechts/Links-Achse die Reihung SVP, FDP, BDP, CVP, EVP, GLP nahe, während SP und GPS praktisch identisch positioniert waren. Dabei bildete die linke Wählerschaft, jene von SP und GPS, einen recht homogenen Block, während die Mitte-WählerInnen, jene GLP, EVP, CVP und BDP, das neue Zentrum umfassten. Klar rechts davon stand die SVP-Wählerschaft, am ehesten Mitte/Rechts das Elektorat der FDP.


Verwandtschaften zwischen den Fraktionen: Anteil identischer Stellungnahmen im Paarvergleich

Das Büro Vatter in Bern wertete nun die ersten 507 Namensabstimmung im neu gewählten Nationalrat aus. Zuerst ging es darum, ob die Fraktionen mehrheitlich dafür oder dagegen gestimmt hatte; dann ermittelte man die Verwandtschaften der Fraktionen. Und siehe da: Die Ergebnisse sind praktisch deckungsgleich.

Hier die Lager:

Wiederum haben SP und GPS die höchste Uebereinstimmung untereinander. In 95 Prozent der Abstimmungen standen sie bei den Namensabstimmungen auf der gleichen Seite.
Zu 84 Prozent identisch waren die Mehrheiten von CVP/EVP und BDP. Sie bildeten, weitgehend gemeinsam, den Kern der neuen Mitte. Dazu zählt auch die GLP, die mit der CVP/EVP zu 81, mit der BDP zu 80 Prozent übereinstimmt.
Die SVP steht auch im Nationalrat weitgehend für sich; am ehesten noch gibt es eine Konkgruenz mit der FDP, doch bleibt diese bei 65 Prozent stehen.
Auch hier fällt die Einordnung der FDP am schwierigsten aus. Am ehesten zählt sie im Nationalrat aber zum Zentrum, mit dem sie sich in mehr als drei Viertel der Fälle gleich entscheidet. Das ist einiges mehr als vis-à-vis der SVP.


Allianzbildung im neuen Nationalrat: Häufigkeiten der Formationen

Die häufigste Allianz im Nationalrat ist denn auch die Polarisierung “Alle gegen die SVP” (24%), gefolgt von Mitte/Rechts gegen die SP und GPS (19%). Dann kommen die einstimmigen Entscheidungen (13%), die noch etwas häufiger vorkommen als Allianzen von Mitte/Links gegen die vereinigten SVP und FDP (8%). In 5 Prozent gesellt sich die BDP zum rechten Pol resp. in weiteren 6 Prozent tun diese BDP und GLP. Das macht es danm schwer vorherzusehen, wie der Ausgang der Abstimmungen ausfällt.

Alles in allem ist die CVP/EVP mit 90 Prozent am häufigsten bei der Mehrheit, gefolgt von der BDP mit 87 Prozent und der FDP mit 84 Prozent, die noch vor die GLP (80%) zu liegen kommt. SP und GPS stimmen je zu 63 Prozent wie der Nationalrat, während dieser Wert bei der SVP bei 56 Prozent liegt.


Positionierung mit der Mehrheit/entscheidend für die Mehrheit

Hier ist die Studie von Christian Bolliger und Samuel Kullmann innovativ. Denn sie bestimmt zu den bekannten Mehrheitszugehörigkeiten auch die Abstimmungen, bei denen der ein umgekehrter Fraktionsentscheid eine andere Mehrheit bewirkt hätte. Da schwingt dann die SP oben aus, die in 40 Prozent der Entscheidungen die Mehrheiten beschafft, gefolgt von der SVP mit 38 Prozent und der CVP/EVP mit 30 Prozent. Das sind, genau genommen, auch die grössten Abordnungen im Nationalrat.

Das Dossier im Sobli ist vielleicht etwas zahlenlastig. Immerhin, es synthetisiert die ersten Positionsbezüge der Fraktionen nach einem halben Jahr Arbeit. Die Ergebnisse zeichnen aber ein gesichert-differenziertes Bild der Lage im Nationalrat: Ein durchgängiges bürgerliches Lager gibt es nicht mehr, nicht zuletzt weil sich die SVP isoliert hat, mehr auf Eigenprofilierung setzt als auf Zusammenarbeit. Mitte/Links bestimmt die Entscheidungen der grossen Kammer aber ebenso wenig regelmässig; dafür sind SP und GPS zu weit weg vom Zentrum. Am ehesten setzt sich im Nationalrat das Zentrum rund um CVP/BDP, gefolgt von GLP, durch, mit dem die FDP noch etwas Mühe bekundet, faktisch aber dazu gehört.

Numerisch reicht das in der Regel nicht für eine sichere Mehrheit, sodass das Powerplay der Polparteien beginnen kann, wenn nicht einer der beiden Parlamentsflügel frühzeitig eingebunden wird. Da haben sich SP und GPS bisher etwas geschickter verhalten als die SVP und ihre Stimmkraft im entscheidenden Moment in die politische Waagschale geworfen.

Claude Longchamp

Politiker als Eisverkäufer …

Am Dienstag staunte ich nicht schlecht, denn der Blick am Abend behandelte das Medianwählermodell ebenso ausführlich, wie ich es für meine Wochenvorlesung an der Uni Zürich vorgenommen hatte. Anders als ich glauben die Blick-Leute jedoch, damit das taktische Verhalten von Parteien verstehen zu können, während ich die Theorie nur für die strategische Analyse gelten lasse.

Der Ausgangspunkt ist einfach: Ein Strand von beispielsweise 10 m Breite und 100 m Länge sei im Osten und Westen durch Felsen begrenzt, im Norden durch das Meer und im Süden durch eine Uferpromenade. An diesem Strand gibt es genau zwei Eisverkäufer mit je einem mobilen Eisverkaufsstand, der aber nur längs der Uferpromenade bewegt werden kann, nicht im Sand. Der Strand ist gleichmäßig mit Badegästen gefüllt. Beide Eisverkäufer bieten das gleiche Eis zum gleichen Preis an. Gesucht ist die optimale Position beider Eisverkäufer.

Sprechen sich die beiden Eisverkäufer ab, teilen sie den Strand in zwei gleich grosse Rayons auf. Beide bekommen einen Bezirk exklusiv, wenn sie auf die andern verzichten. Ihr idealer Standort ist jeweils in der Mitte ihres Sektors. Stehen sie jedoch in Konkurrenz zueinander, werden sie sich in die Mitte des gesamten Strandes bewegen, und zwar wechselseitig, weil sie da die grösste Chance haben, alle Besucher anzusprechen. Indes, sie müssen sich bei identischem Eis mit tieferen Preise bekämpfen oder aber die neue Glaces anbieten, auf die möglichst viele Strandbesucher stehen.
Auf die Politik übertragen heisst das: Zwei Parteien sprechen sich entweder untereinander ab, wer welche Wahlkreise bekommt, oder sie wetteifern untereinander in allen Wahlkreisen, wobei, in einem Zweiparteiensystem die Partei gewinnt, welche die Präferenzen der WählerInnen in der Mitte, die Medianwähler eben, besser abbildet.

Das so skizzierte Modell ist ebenso häufig kritisiert wie zitiert worden. Weil Parteien nicht einfach Eisverkäufer sind, die x-beliebig dem Volk folgen. Vielmehr sind sie gewachsene Gebilde, die Teile der Bürger in regionaler, werte- oder interessenmässiger Hinsicht vertreten. Ihren einmal eigenommen Standort können sie nicht einfach ändern, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Anders als am Strand, wo die Leute für einige ausserordentliche Tage hingehen, sie die WählerInnen mehr oder minder permanent da.

Dennoch, die Annahme, dass die Zahl, die Position und das Verhalten der Parteien einen Einfluss hat auf ihre Wahlchancen hat, ist auch politikwissenschaftlich berechtigt.

Bis 1991 funktionierten Schweizer Wahlen weitgehend nach dem Konkordanzmuster, samt Gebietsabsprachen. Dann positionierte sich die SVP neu, als Partei gegen die EU, und liess ihre früheren Hemmungen fallen, zum Beispiel in Gebieten anzugreifen, die der CVP gehörten. Die Folge kennen wir: Die SVP stieg von der 4. Zur Wählerstärksten Partei der Schweiz. Auch die Grünen legten seit den 80er Jahren schrittweise zu, weil sie sich den ökologischen Themen annahmen und so vor allem einen Teil der linken Wählerschaft für sich gewinnen konnten. Aufgelöst wurde so der Zwang der Parteien, sich gegen die Mitte zu bewegen und die Konkurrenz als Partner zu akzeptieren. Zuerst gab es im linken, dann im rechten Lager politischen Wettbewerb. Die Chancen neuer oder neupositionierter Parteien erhöhen sich, gerade in der Schweiz, wenn es ihnen gelingt bisherige Nicht-WählerInnen zu mobilisieren. Die findet man vor allem an den Polen der neuen Konfliktlinie am ehesten: also klar gegen Autos, klar gegen EU. Ihr Erfolg nimmt zu, wenn sie auf diesem Weg auch unzufriedene WählerInnen der bisherigen Parteien für sich gewinnen können.

Einiges spricht dafür, dass sich die Parteienlandschaft der Schweiz seit den 90er Jahren so entwickelt hat. Neuerdings scheinen die Potenziale, welche die Veränderungen bewirkt haben, jedoch ausgereizt. Denn es verlieren heute nicht nur die traditionellen Mitte-Parteien, auch die Polparteien wachsen elektoral nicht mehr. Vielmehr kennen Schweizer Wahlen mit der BDP und GLP zwei neue Angebote. Entstanden sind beide Parteien als Abspaltungen von Polparteien, die sich zu einseitig positioniert haben: die GLP weil die GPS mit ihrem Etatismus nicht mehr alle ökologischen WählerInnen abdeckte, und die BDP, weil die SVP mit ihrer Oppositionsneigung nach der Abwahl Blochers aus dem Bundesrat gemässigte Konservative mit Vertrauen in den Staat bei sich halten konnte. Auch hier gilt: Es sind die nur die Abgespaltenen, die zählen, es werden auch die Neu- und WechselwählerInnen von Belang.

Meines Erachtens ist die Medianwählertheorie gut und schlecht zugleich. Schlecht ist sie, wenn sie, wie vom Blick zitiert, zur Analyse von taktischen Positionsbezügen verwendet wird. Denn wer sich als bestandene Partei positioniert, setzt sich dem Vorwurf aus, opportunistisch zu sein. Gut ist sie hingegen, wenn sie für die strategische (Um)Positionierung von Parteien eingesetzt wird. Das heisst auch, dass es nicht um den Tageserfolg der Eisverkäufer geht, sondern um die mittel- und langfristige Profilierung von Parteien geht. Dabei darf sie sich zwangsläufig nicht auf das Publikum stützen, dass an einem Wochenende die Strände bevölkert, sondern muss sich an den Generationen ausrichtigen, die in 10 bis 20 Jahren die Politik ausmachen werden. Zudem, und da endet die Analogie zum Konsumismus ganz: Es geht in der Politik auch um adäquate Antworten einer Gesellschaft auf neue Herausforderungen, die durch den Parteienwettbewerb entwickelt und durch die WählerInnen-Entscheidungen bewertet werden.

Oder noch klarer: Die einfachen und kurzfristigen Interessen der Strandbesucher und Eisverkäufer erklären und die Politik nicht; es kommt darauf an, sie in einem gegebenen Politsystem, angesichts vorherrschender Demokratiemuster und unter Einbezug des Beteiligungsverhalten und der Generationenfolge zu bestimmen. Denn erst dann wird das Verhalten neuer Parteien oder eines veränderter Auftritt bis Parteien von Belang. Und nur dann machen Wahlanalysen mit Theorie wie der hier beschrieben Sinn, um zu verstehen, was bei einer Wahl geht.

Claude Longchamp

Von der Lüge als gerechtfertigtes Mittel der Aussenpolitik

Ein Prominenter unter den amerikanischen Politikwissenschaftern rechtfertigt die Lüge als Mittel der Aussenpolitik – genau das, was George W. Bush tat, um den Irak-Krieg zu beginnen. Nun regt sich Widerspruch unter den Kollegen.

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„Mearsheimer gilt als Begründer des sogenannten offensiven Neorealismus. Meines Erachtens ist diese nationalegoistische Staatsräson-Ideologie einer moralfreien utilitaristischen Erfolgsethik für Frieden und Gerechtigkeit auf Erden verheerend.“

Der das schreibt, ist kein billiger Amerika-Feind. Auch kein Postmodernist wider das Wissenschaftliche. Vielmehr ist es Alois Riklin, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen, der sich hier pointiert äussert.

Abgesehen hat es Riklin auf das neueste Buch von John J. Mearsheimer, mit „Lüge“ betitelt, was sich immer gut macht, indessen, ein Werk, das sich mit dem nachgeschobenen Untertitel „Vom Wert der Unwahrheit“, von Beginn an auf Provokation aus ist.

Riklin ist in der Besprechung des Buches nicht unfair. Er zitiert, als innovative Leistung, die fünf herausgearbeiteten Hauptarten staatlicher Lügen:
. die zwischenstaatliche Lüge (wie Bismarcks Frisierung der Emser Depesche)
. die Angstmache (wie die Lüge der Bush-Administration zur Begründung des Irak-Krieges)
. die strategische Vertuschung (wie jenes Verschweigen von US-Atomwaffen-Lagerungen 1969 in japanischen Häfen)
. die nationalistische Lüge (wie die Vertreibung von Palästinensern aus Israel 1948, die als Flucht dargestellt wurde)
. die Völkerrechtslüge (wie das Verschweigen der zivilen Opfer als Folge der Wirtschaftssanktionen gegen den Irak nach 1990).

Immerhin, der Emeritus aus der Klosterstadt in der Ostschweiz, wirft dem Autor vor, bei nicht alle bekannten Lügen der Staaten (wie die Verstrickungen der Nixon-Administration in der Allende-Affäre 1970 oder den Meineide in der Iran-Contra-affäre 1984-6) beigezogen zu haben. Nicht einmal die, welche die Harvard Universität dokumentiert hat, fänden sich im Buch von Maersheimer wieder.

Doch das ist gar der Punkt seiner ernsthaften Kritik. Vielmehr geht es ihm um die gebotene Rechtfertigung von Lügen. Gar nicht einverstanden ist Riklin mit Mearsheimer, Regierungen aller Art würden aussenpolitische Lügen (im Gegensatz zur innenpolitischen) als nützliche Mittel der Staatskunst betrachten. Denn das nationale Interesse sei keine vernünftige Grundlage, Lügen zu rechtfertigen. Nicht einmal ihr Erfolg mache sie erträglich. Konsequent zu Ende gedacht, mache, dann nur der Misserfolg Lügen (wie die zum Vietnam- oder Irakkrieg) unentschuldbar.

Das Problem, so der Kritiker, liege tiefer. Die Reduktion der Staatskunst auf das Ueberleben in einer feindlichen Umgebung negiere, das es so etwas wie eine weiterentwickelte Moral der Staaten gäbe – beispielsweise die, dass eine Demokratie keinen Krieg gegen eine andere führe.

Ich habe dem nichts mehr beizufügen.

Claude Longchamp

Kurzanalyse der GPS-Niederlage – für die GPS

Meine Analyse, wieso die Grünen bei den Wahlen zu wenig mobilisieren konnten, erstellt für Greenfo.

Am stärksten verloren haben bei den Wahlen 2011 die rechten Parteien SVP und FDP. Was bedeutet das für die Schweiz?

Zunächst ein Novum. Denn die SVP verlor in der Nachkriegszeit noch nie so viel von einer Nationalratswahl zur anderen – und das bei gleichzeitigen Rückgängen von FDP und CVP. SVP und FDP haben gesamtschweizerisch noch 42 Prozent WählerInnenanteil. Sie sind damit klarer denn je von einer Mehrheit unter den Wählenden entfernt. Das muss bei den Bundesratswahlen Konsequenzen haben. Eine Mehrheit der Bundesratssitze für die beiden Parteien, wie sie zwischen 2003 und 2007 bestand, darf es nicht mehr geben.

Weniger Polarisierung – mehr Mitte: Ist das wirklich ein politischer Trend in Richtung Lösungen oder ist es nur, weil es zwei junge und neue Parteien gibt?

Es ist ein Trend im Parteiensystem. Es haben sich zwei neue Parteien etablieren können. Zusammen machen sie 10 Prozent aus. Beide können auf Neuwählende und Unzufriedene bei den grösseren Parteien zählen. Vieles hängt jetzt davon ab, ob sich die neue Mitte sach- und machtpolitisch im Parlament formiert oder nicht. Wenn ja, ist meine Annahme, dass die Pole bei der Lancierung von Lösungen unwichtiger werden, sich häufiger die Frage stellen müssen, ob sie mit dem Zentrum kooperieren wollen oder nicht. Insgesamt wäre mit einer Deblockierung in verschiedenen Bereichen zu rechnen, wie das anhand der Kernenergiefrage schon im Wahljahr sichtbar wurde.

Die Grünen haben Stimmen und Sitze verloren. Wieso ist es ihnen nicht gelungen, mehr Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren?

Die «Grünen» haben weder Stimmen noch Sitze verloren. Verloren hat die GPS. Ihr Problem ist, dass sie mit dem Auftreten der GLP «die Grünen» nicht mehr alleine repräsentieren kann, weder mit ihren ökologischen Projekten noch mit ihren sozial-, wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellungen. Mit den Wahlen in Basel-Landschaft und Zürich wurde klar: Die Gewinnchancen Grüner PolitikerInnen stiegen nach dem Reaktorunfall in Fukushima, die der GPS jedoch nicht. 2007 mobilisierten die Grünen ausgehend von der globalen Kampagne von Al Gore auf ihrem Kernthema, der Forderung nach einer neuen Klimapolitik, und in der Schlussphase mit einer klaren Abgrenzung von Christoph Blocher. In beidem stachen sie die SP aus, und sie gewannen am meisten aufgrund Wählerwanderungen im linken Lager. Das war 2011 nicht mehr der Fall, ohne dass die GPS einen Ersatz dafür fand. Vor allem in der Hauptphase des Wahlkampfes, als der starke Franken, die Wirtschaftslage und die Sorge um die Arbeitsplätze an Bedeutung gewannen, konnte die GPS nicht mehr punkten. Die GPS muss wohl auch ihren Wahlkampf kritisch analysieren (lassen).

Wieso sind bei den Grünen fast nur Frauen abgewählt worden? Ist das Zufall?

Jede Serie geht einmal zu Ende. Die langfristigen Indikatoren zur Frauenrepräsentation im Parlament auf lokaler Ebene sprechen schon seit einigen Jahren von der generellen Trendumkehr. Hauptgrund ist, dass die «Nachhol»-Argumentation alleine nicht mehr zieht und das generelle Politklima konservativer geworden ist. Das alles müssen Parteien wie die GPS, die sich der Frauenförderung verschrieben haben, ernst nehmen. Darüber hinaus gibt es aber keine Hinweise, dass es eine Zwangsläufigkeit bei einer bestimmten Wahl in einem bestimmten Wahlkreis für eine bestimmte Partei gibt. 2007 trat die GPS bewusst mit Frauen im Wahlkampf auf, allen voran mit Ruth Genner. 2011 gab es das von aussen gesehen nicht mehr. Unglücklich war sicher auch der Auftritt der GPS bei den Bundesratswahlen 2010 – mit einer erfolglosen Frauenkandidatur.

In Zürich und Bern haben die Grünen 2 bzw. 3.4 Prozent Wähleranteil verloren, in Basel-Stadt und Neuenburg 1.3 bzw. 2.3 Prozent zugelegt. Wie erklären Sie sich die unterschiedlichen Ergebnisse in den Kantonen?

Das Parteiensystem ist im Umbruch: Die GLP hat etwas rot-grün Wählende angezogen. Zudem mobilisiert die Abgrenzung von der SVP nicht mehr im gleichen Masse. Und schliesslich müssen Parteien wie die GPS damit werben, was sie an konkreten Veränderungen erreicht haben. Wie stark die Effekte in den Kantonen sind, hängt vom Auftreten der neuen Parteien, in diesem Fall der GLP, ab, von ihrem Personal, von ihren Projekten, aber auch von den Leistungen in Regierung und Parlament auf der städtischen und kantonalen Ebene. In Neuenburg ist die Antwort einfach: Es gibt keine ernstzunehmende GLP. In Basel-Stadt trifft der Trend mehr die SP als die GPS. In Zürich und Bern ist demgegenüber, ausgehend von den grossen Städten, der Umbruch im vollen Gang.

Bedeutet die Abnahme der Polarisierung eine Abnahme der Polarisierung links-rechts oder eine Abnahme der Polarisierung liberal-konservativ?

Parteipolitisch sind die Gegensätze zwischen Links und Rechts grösser. Meines Erachtens sind sie, erstmals seit 1999, nicht mehr gewachsen. Neu aufgemischt wurde die Mitte, weil die FDP diese Position nicht mehr pflegt und die CVP eher macht- als sachpolitisch das Zentrum zu füllen versucht. Die beiden neuen Parteien haben Bewegung in die Polarisierung zwischen Rechts und Links gebracht, weil sie mit querliegenden Themen- und Personenangeboten das Parteiensystem aufgemischt haben. Das ist ihnen bei diesen Wahlen am ehesten mit der Kernenergiefrage geglückt. Die Migrationsfragen, die für den nationalkonservativen Pol von Belang sind, haben dagegen erstmals keine zusätzlichen WählerInnenstimmen gebracht.

Interview: Corinne Dobler