Tage des Umbruchs


Gestern noch war meine letzte VR-Sitzung im gfsbern. Anschliessend waren VR, GL und eGL zum gemeinsamen Nachtessen im Berner “noumi”. Es war gleichzeitig meine Verabschiedung nach 38 Jahren im gfs. Lukas Golder, VRP, hielt die heitere Abschiedsrede unter dem Titel: “Die Fliege war ein Hut. Davon hatte er fast so viele wie Fliegen. Doch nun nimmt er den Hut und geht.”
Heute wiederum erreicht mich die frohe Nachricht aus Schweden, dass die Dachsanierung unserer Stuga trotz winterlicher Kälte weit fortgeschritten ist. Anfangs Juli werde ich für 10 Wochen in den Norden gehen, um die grossen Aufenthalt in der grossen winterlichen Dunkelheit vorzubereiten.
Hüte und Kappen werde ich da sicher gut gebrauchen können!

Bildlegende
Das neue Leitungsteam von gfs.bern (v.l.n.r.)
Lukas Golder, VRP/GL, Co-Leiter
Martina Vieli, VR
Tobias Keller, eGL
Martina Mousson, eGL
Cloe Jans, GL
Jonas Kocher, eGL
Martin Frey, VR
Urs Bieri, VR/GL, Co-Leiter

Was man nach den letzten Umfragen zu den AHV-Abstimmungen weiss

Heute morgen erschienen die letzten wissenschaftlichen Umfragen zu den beiden AHV-Abstimmungen vom 3.März 2024.
Was man nun einigermassen gesichert weiss.


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Volksinitiative 13. AHV Rente

Vorlage: Diese Volksinitiative verlangt eine 13. AHV-Rente für alle, was einer Erhöhung der Rentenleistungen von 8.3% entspricht.
Polarisierung: Unter den Akteuren gab es eine Links/Rechts-Polarisierung, wobei einige kleine, konservative Parteien sich wie die Linke positionieren.
Die Initiative wurde von den Gewerkschaften lanciert. Sie geniesst die Unterstützung von SP und GPS, MCG und Lega. Sie sehen den Ausbau der AHV als Sicherung der Kaufkraft und Würde im Alter.
Dagegen sind der Bundesrat, die SVP, FDP, M, GPS und GLP. Die Kosten und das Verteilsystem sind die hauptsächlichen Kritikpunkte.
In solchen Fällen entscheiden Zentrums- bzw. parteiungabhängige Wähler:innen.
Meinungsbildung: Umfragen zeigten anfänglich eine Zustimmungsmehrheit bei allen Parteianhängerschaften. Das hat sich zwischenzeitlich geändert. Die bürgerlichen Reihen sind zwar nicht geschlossen. Doch stimmen die Mehrheiten ihrer Parteianhängerschaften nun wie die Parteiparolen. Klar im Ja sind Parteiungebundene. Das lässt auf ein insgesamt gespaltenes politisches Zentrum schliessen.
Der Prozess der Meinungsbildung ist fortgeschritten, aber noch nicht abgeschlossen.
Konfliktmuster: Unterschiede im Stimmverhalten deuten sich nebst der Parteibindung auch entlang der Sprachregionen, des Einkommens und des Alters an.
Trends:Der Trend der Stimmabsichten verläuft wie bei einer linken Volksinitiative üblich vom mehrheitlichen Ja-Richtung Nein. Der Trend ist negativ, die Mehrheit bleibt aber zustimmend. Der Ausgang ist noch offen.
Argumente: Populärstes Argument auf der Ja-Seite ist die Verbesserung der finanzielle Lage der Pensionierten, da vieles teurer geworden ist.
Auf der Nein Seite haben die Kosten einer Annahme der Vorlage die höchste Zustimmung, gefolgt von der Kritik am Verteilprinzip.
Am meisten polarisiert ein Einzelargument der Nein-Seite. Es betrifft die unsichere Zukunft des AHV bei einem allfälligen Ja.
Abstimmungskampf: Gestützt wird der negative Trend durch einen deutlichen Nein-Ueberhang bei der Werbung (ausgewiesen 30:70) und einen wohl leicht negativen Medientenor. Eine detaillierte Analyse liegt da aber noch nicht vor.
Verstärkt wird dies durch die geschlossene Opposition der grossen Wirtschaftsverbände, die sich gegen die Gewerkschaftsinitiative gestellt haben.
Beteiligung: Jüngere Menschen wurde durch den Abstimmungskampf zusätzlich mobilisiert, ältere demobilisiert. Die vorläufige Stimmbeteiligung ist überdurchschnittlich hoch und steigt an. Sie wird final über 50 Prozent liegen. Einzelne Städte vermelden sogar rekordverdächtige Zwischenergebnisse.
Prognosen: Die Befragten gehen zu zwei Dritteln von einer Annahme der 13. AHV Rente mit 50-60% Ja aus. Das gilt auch für die Wettbörse 50plus1.
Gemäss Prognostiker Sebastien Perseguers gibt es ein knappes Ja mit 53% Zustimmung. In diesem Bereich kann das Ständemehr in beide Richtungen kippen.
Bei den Kantonen zeichnet sich eine Polarisierung zwischen zustimmendem Südwesten und ablehnendem Nordosten ab. Es dürften eine Rösti- und Polentagraben geben.
Entscheidender Kanton ist gemäss Perseguers Solothurn, allenfalls kommen Graubünden und Solothurn dazu. Gfs.bern sieht bei einem fifty-fifty-Volksmehr Solothurn im Ja, während Zürich, Graubünden, Schaffhausen, Glarus und Luzern unsichere Kippkantone sind. Davon brauche es zwei Ja für eine Annahme.
Rahmung: Bestimmt wird die Rahmung durch die Kontroversen zu den Bundesfinanzen. Die Schweiz muss nach Jahren über Ueberschüssen erstmals wieder sparen. Prominent vertreten wird diese Position von Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP). Gemäss Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider würde die Sanierung der AHV von 2019 resp. 2022 bei einem Ja. Mehrwertsteuererhöhungen wären gemäss Finanzministerin unvermeidbar. Die Initiantinnen bevorzugen allerdings erhöhte Abgaben von Arbeitgebern und -nehmern.
Bilanz: Meinungsforscher Michael Hermann wertet ein allfälliges Ja als Zeitwende in der Sozialpolitik. Noch nie habe eine gewerkschaftliche Initiative mittels Volksinitiativen eine Mehrheit bekommen. Würde sie bei einem Nein mehr als 41 Prozent Ja erhalten, wäre es trotzdem eine positiven Entwicklung der Zustimmung gegenüber 2016. Negative Trends in der Wirtschaftslage resp. bei der Glaubwürdigkeit zentraler Wirtschaftsorganisationen wären voraussichtliche Erklärungen.
Vergleichsabstimmung: 2016 stimmte die Schweiz über die vergleichbare AHV+ Initiative ab. Sie endete mit 41 Prozent Ja. Die letzte Umfrage von gfs.bern lag mit 40% Ja deutlich näher als jene von LeeWas mit 49%. Beide Serien zeigten aber einen Nein-Trend. Umfragenvergleich: Diese Einschätzung basiert im wesentlichen auf der letzten SRG Umfrage und weitere Materialien. Der 10. Februar (T-21) war der mittlere Befragungstag. Die gleichzeitig publizierte letzte Tamedia-Umfrage sieht es etwas positiver für die Initiantin. Der Trend ist aber in beiden Serien negativ.

Volksinitiative Rentenalter

Vorlage: Die Volksinitiative zum Rentenalter verlangt eine generelle Erhöhung des Eintrittsalters in die Pension mit 66. Danach soll es an die Lebenserwartung gekoppelt werden.
Polarisierung: Die Initiative wurden von den Jungfreisinnigen lanciert. Sie geniesst die Unterstützung von FDP und SVP. (Im Parlament stimmte die Mehrheit der SVP allerdings noch dagegen. Ihre Ja-Parole legte sie erst an der DV fest.)
Dagegen ausgesprochen haben sich die Linke (SP, GPS) und das Zentrum (M, GLP, EVP). Das entspricht eine Polarisierung durch rechtsbürgerliche Kreise gegen alle anderen, was für ein Nein spricht.
Konfliktmuster: Das Konflilktmuster sie eine Polarität zwischen rechtsliberalem Lager und allen anderen.
Meinungsbildung: Umfragen zeigten von Beginn weg eine ablehnende Mehrheit. Die Vorlage fand nur an der Basis der FDP eine Mehrheit. Das hat sich im Abstimmungskampf nicht geändert. Damit resultiert bei der SVP eine Elite/Basis-Differenz.
Der Meinungsbildungsprozess ist nicht abgeschlossen aber fortgeschritten.
Trends: Die Zustimmung sinkt über die Zeit, die Ablehnung steigt.
Argumente: Auf der Ja-Seite haben Vergleiche mit steigenden Trends beim Rentenalter im Ausland die höchste Zustimmung.
Auf der Nein-Seite ist das bei den ungleichen Möglichkeiten einer früheren Pensionierung entlang dem Einkommen der Fall.
Abstimmungskampf: Nichts genützt hat der eindeutige Werbeüberhang der Ja-Seite, gestützt durch die grossen Wirtschaftsverbände, hier allerdings ohne den Schweizerischen Bauernverband.
Beteiligung: Die vorläufige Beteiligung erscheint namentlich in den Städten überdurchschnittlich.
Prognosen: Die Befragten rechnen eindeutig mit einem Nein. Das ist auch bei der Wettbörse und den Prognostikern der Fall.
Profil: Die Entwicklung entspricht der normalen Meinungsbildung einer Minderheitsinitiative von rechtsliberaler Seite.
Bilanz: Unter 40 Prozent wäre für die kommende Diskussion des Rentenalter ein negatives Signal. Mehr würde Handlungsbedarf mit einem anderen Modell signalisieren.
Umfragenvergleich: Die beiden Umfrageserien sind hier in den wesentlichen Punkten identisch.

Unterlagen
Für die SRG arbeitete gfs.bern, für Tamedia LeeWas.
Berichte zum Vergleichen
gfs.bern: https://cockpit.gfsbern.ch/de/cockpit/srg_trend_03032024_w2/
LeeWas https://www.tamedia.ch/tl_files/content/Group/PDF%20Files/Deutsch/Bericht_3Welle_AbstMaerz24.pdf

Claude Longchamp

Meine Nachfolgerin als Verwaltungsrätin von gfs.bern heisst Martina Vieli

Medienmitteilung, 14.2.24

Im Zuge der abgeschlossenen Unternehmensnachfolge erneuert sich der Verwaltungsrat von gfs.bern. Claude Longchamp, der das Institut für Politik- und Kommunikationsforschung 2004 gegründet und seither geprägt hat, verlässt den Verwaltungsrat per 31. März 2024 Richtung wohlverdienten Ruhestand. Neu in den Verwaltungsrat gewählt wurde Martina Vieli, erfahrene Politik- und Kommunikationsberaterin und ehemalige Lobbyistin und ehemaliges Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR.

Claude Longchamp prägte als Pionier die angewandten Politikforschung in der Schweiz über 40 Jahre. Mit dem Dispositionsansatz entwickelte er ein vielbeachtetes Analyseraster für Meinungsbildungsprozesse in Abstimmungen, das noch heute ein zentrales Analysetool im Instrumentenkasten von gfs.bern darstellt. 2016 hat er sein Unternehmen an die Nachfolger und heutigen Co-Leiter Urs Bieri und Lukas Golder verkauft. Mit dem Austritt von Claude Longchamp erfolgt der letzte Schritt in der erfolgreichen Unternehmensnachfolge.

In der Öffentlichkeit bleibt der «Mann mit der Fliege» mit profunden Kenntnissen der Schweizer Geschichte und der Schweizer Politik weiterhin als Experte gefragt und präsent. Heute tritt er jedoch meist ohne Fliege auf.

«Nach einem intensiven Übergabeprozess von Claude Longchamp an uns Nachfolger bleiben im gfs.bern unverändert der Respekt und die Faszination für den Pionier der angewandten Politikforschung. Er verpackt als Leseratte mit Elefantengedächtnis seinen Fundus in Analysen und Geschichten, die uns alle inspirieren und begeistern. Wir danken ihm vielmals für seinen unermüdlichen Einsatz für gfs.bern und für die Schweizer Politik.»
Lukas Golder, Verwaltungsratspräsident gfs.bern

Martina Vieli neu im Verwaltungsrat
Martina Vieli stösst per Februar 2024 zum Verwaltungsrat von gfs.bern. Sie ist zertifizierte Verwaltungsrätin Rochester-Berne University, studierte Soziologin und eine erfahrene Politik- und Kommunikationsberaterin – zuletzt war sie als Lobbyistin und Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR tätig. Mit ihrer Firma Vieli Consulting GmbH ist sie spezialisiert auf strategische Kommunikation, politische Beratung und Interessenvertretung, Reputation Management und Krisen- und Veränderungskommunikation.


Martina Vieli ©Vieli Consulting GmbH

«Wir freuen uns sehr, dass wir Martina Vieli neu für den Verwaltungsrat von gfs.bern gewinnen konnten. Sie wird unser Gremium mit ihrer langjährigen Führungs- und Beratungserfahrung und ihrer Expertise auf wertvolle Art und Weise ergänzen. Methoden, Analysen und die Organisations-Kommunikation befinden sich in Transformation und verändern die Ansprüche unserer Kundschaft. Mit Martina Vieli wollen wir diesen Wandel auf der strategischen Ebene aktiv gestalten und das grosse öffentliche Vertrauen in die Marke gfs.bern weiterhin verdienen und stärken.»

Lukas Golder, Verwaltungsratspräsident gfs.bern

Triggerpunkte: Mein Vortragserlebnis an der Uni Basel

Triggerpunkte oder tief verletzte Erwartungen sind neuerdings auch in der politischen Schweiz in aller Leute Munde. In Deutschland ist eben eine umfassende theoretisch inspirierte empirische Studie erschienen. Steffen Mau, einer der drei Autoren, hielt gestern an der Uni Basel einen Gastvortrag, der mich zu folgender Zusammenfassung mit kleinem Test führte.

Der Vortrag
“Konflikte werden hergestellt – sie werden entfacht, getriggert und angespitzt. Damit sind sie kein sozialer Faktor, der einfach nur gegeben ist. Dass wir die Gesellschaft konfliktreich erleben, hat damit zu tun, wie Meinungsverschiedenheiten aufbereitet und kommuniziert werden.”
So umschreibt das neue Buch “Triggerpunkte”, das die Berliner Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser verfasst haben, dieses Jahr erschienen ist und seither auf der Spiegel-Bestenliste figuriert.
Steffen Mau hielt gestern an der Uni Basel einen Gastvortrag dazu und wurde noch etwas deutlicher: “Polarisierung wird politisch und medial erzeugt!”. Sie ist nicht als sozialstrukturelles Substrat vorhanden.

Was mir mein Rucksack sagt
Während meiner Ausbildung als (Nebenfach)Soziologe habe ich das Umgekehrt gelernt. Westliche Gesellschaften seien strukturell und kulturell gespalten, lehrten die beiden Cleavage-Theoretiker Seymour Lipset und Stein Rokkan Ende der 1960er Jahre. Konflikte wie Zentrum/Peripherie, Staat/Kirche, Stadt/Land und Arbeit/Kapital liessen sich historisch herleiten und hätten zu fundamentalen Spaltungen der Gesellschaften geführt. Ueberwunden worden seien sie durch typische Elitenkooperationen, die zu nationalen politischen Systemen führten. Im 20. Jahrhundert wurde der Gegensatz von Arbeit und Kapital dominant.
Seit einiger Zeit zweifelt man an der Vorherrschaft des Konfliktes zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er wurde im 20. Jahrhundert sozialpartnerschaftlich geregelt. Vielmehr versucht die Sozialwissenschaft neue Konflikte als “postmaterialistisch” oder als “grün-alternativ-libertär” zu erfassen, oder als Gegensätze zwischen “some- und anywhere”, “Kosmopolitismus und Kommunitarismus” oder “Universalismus oder Partikularismus” zu beschreiben.

Die neue These
Mau vertritt dazu eine Gegenthese. In vielen Fragen seien heutige Gesellschaften gar nicht so stark gespalten wie wahrgenommen. Es herrsche ein Minimalkonsens bei der Bewältigung von Klassenkonflikten, in Inklusionsfragen, in der Geschlechterfrage oder in der Oekologiefrage. Zentrale Forderungen erreichten immer wieder Regelungen mit mehrheitlicher Zustimmung. Das entspricht dem gesellschaftlichen Konsens bei zentralen Herausforderungen. Allerdings fokussiere die Oeffentlichkeit, so Mau (und zahlreich andere KritikerInnen), meist nur auf die Ränder, die sich wechselseitig radikalisierten.
Um diese für die Gegenwartsgesellschaft differenziert genug erfassen zu können, schlagen die Berliner Soziologen deshalb eine neue Heuristik von “Arenen der Ungleichheit” vor: jene der Oben/Unten-, der Innen/Aussen-, der Wir/Sie- und der Heute/Morgen Ungleichheiten. Da gehe es um Klassen-, Nationen-, Gruppen und Generationenfragen. Typisch sei deshalb eine Nebeneinander von Verteilungs-, Grenz-, Identitäts- und Klimakonflikten. Politisiert werden so der Wohlfahrtsstaat, die Migrations-, die Anerkennungs- und Umweltpolitik. Zur Disposition stehen Ressourcenverteilungen, Inklusionsmassnahmen, Gleichstellungsprogramme und Nachhaltigkeit.
Ein Ersatz für die Analyse grundlegender Spaltungen ist das wohl nicht. Aber ein nützliches Instrument, um das medial vermittelte Bewusstsein von Spaltungen zu verstehen.

Empirische Befunde für Deutschland
In seinem Basler Vortrag trug Mau zunächst die Ergebnisse vor, welche eine gross angelegte empirische Studie zur Gegenwartsgesellschaft Deutschlands ergab. Die Oben-Unten-Ungleichheit differenziert zwischen Arbeitgeber und Kleinunternehmern einerseits, kulturellen Experten (z.B. LehrerInnen) und Dienstleistungsarbeitern (z. B. VerkäuferInnen) andererseits. Bei den drei anderen Arenen bilden die Produktions- und Dienstleisungsarbeiter (Maurer resp. Verkäuferinnen) gemeinsam mit dem Kleinunternehmern den einen Pol, die kulturellen und technischen Experten (z.B. ArchitketInnen) den anderen.
Auch politisch gesehen wird eine Zweiteilung der vier Konfliktmuster nahegelegt. In der Oben-Unten-Arena stehen sich Wählende der FDP und der Grünen gegenüber, bei den drei anderen jeweils die der AfD und der Grünen. Die politische Polarisierung erscheint dabei akzentuierter als die gesellschaftliche. Entscheidend sind aber nicht alle Parteien, sondern die Grünen, die AfD und die FDP.

Was Triggerpunkte sind
Um die Entstehung dieser Polarisierungen zu verstehen, führte Mau (endlich) seine Triggerpunkte ein: Das sind verletzte Erwartungen der Gleichheit, der Normalität, der Identität oder Autonomie. Entzündet werden sie meist durch medial ausgetragenen Kontroversen zur Aktualität, die hochemotional geführt werden und so unversöhnliche Pole sichtbar machen.
Dank der Aufmerksamkeitsökonomie der Medien erreichen sie einen ausgesprochen hohen Stellenwert, der das Konflikthafte der Gegenwartsgesellschaft überschätzen lässt. Denn bei weitem nicht allen Gesellschaftsgruppen werden so adäquat erfasst, weil sie vor allem den breiten Gesellschaftlichen Konsens in zahlreich ausgeblendeten Fragen teilen, die durch Triggerpunkte nur beschränkt beeinflusst werden.

Der kleine Test
Selber bin ich mit der Liste der Triggermomente aus dem zurückliegenden Wahlbarometer nach Basel gereist, welche das Wahlbarometer im Herbst 2023 aufzeigte. Sie wurden verwendet, um den Auslöser von Parteiwechseln zu bestimmen. An oberster Stelle steht die “wokeness oder Gender-Debatte”, gleichauf mit der Polarisierungskritik. Es folgen die Reaktionen auf die Klimakleber und den Prämienschock bei den Krankenkassen.
Mau würde wohl sagen: typische Identitätsfragen (wokeness), Nachhaltigkeitsfragen (Klimakleber) und Verteilungsfragen (Prämienschock). Und über allem die geradezu symbolisch die Polarisierungsthematik. Sie haben den Wechsel zur SVP (wokeness), oder Mitte (Polarisierung) ausgelöst resp. den beiden grünen Parteien (Klimakleber) geschadet. Sie erklären bis zum einen Drittel der Wählenden-Gewinne bei SVP und Mitte und bis zu einem Viertel der -Verluste der beiden grünen Parteien.
Bingo! Die Heuristik hilft auch hier für die Gegenwartsdiagnose, selbst wenn sie nicht alles erklärt. Denn bei der SP waren die Triggerpunkte 2023 weder für die Zu- noch Abwanderung entscheidend. Vielmehr profilierte die Kaufkraftverluste mindestens die Zuwanderung.

Mein Fazit
Was mir auch bleibt: Die neue Heuristik hilft, die etwas allgemeinen gehalten “kulturellen Konflikte” in der Wahl- resp. Gesellschaftsanalyse zu differenzieren. Denn die Berliner Soziologen unterscheiden da treffend Grenzkonflikte (zwischen Innen- und Aussen), Identitätskonflikte (zwischen Wir und Sie) und Nachhaltigkeitskonflikte zwischen Heute und Morgen. Mau präzisierte im Basler Vortrag, allenfalls entsteht bei Letzteren sogar ein neuer Klassenkonflikt zwischen den Generationen.
Triggerpunkte helfen dabei, die medial wichtigen Momente zu sortieren, allenfalls Wählenden-Bewegungen zu bestimmen, aber nicht, die Grundstrukturen etwa des Parteiensystems zu analysieren. Die werden durch parteispezifische Einstellungen und Interessen bestimmt, die an den Rändern unter dem Eindruck von Wahlkämpfen ausfransen.
Danke, der Vortrag hat meine Gedanken sortiert. Ich werde das Buch trotz gut 500 Seiten gespannt lesen!

Claude Longchamp

Vor der SP-Nomination der Kandidat:innen für den Bundesrat: Favoriten, Verfolger und Aussenseiter

Drei explizite Prognosen zu den Wahlchancen der sechs SP-Bundesratsanwärter liegen vor. Sie sehen Jon Pult und Evi Allemann an der Spitze. Beat Jans und Daniel Jositsch bilden die Verfolgergruppe, Roger Nordmann und Matthias Aebischer sind die Aussenseiter.

Die drei Vorhersagen
Die Nomination in der neuen SP-Fraktion findet an diesem Samstag statt.
Erstellt wurden die Prognosen hierzu von Adrian Vatter, Politologie-Professor an der Uni Bern, sowie von den Wahlbörsen «50plus1» von Prof. Oliver Strijbis (Franklin Uni Lugano) und Wahlfieber, einem Wettkollektiv mit Sitz in Wien (A) und Kiel (D).
Vatter stützt sich auf seine Typologie der Bundesrät:innen. Sie hat den Vorteil, auch qualitative Beurteilungen zu liefern. So zählt er Pult zu den «Populären», Nordmann und Jositsch wären «Intellektuelle», Jans ein zielstrebiger «Regent» und Allemann resp. Aebischer gut vermittelbare «KonkordanzpolitikerInnen».
Die Wahlbörsen haben weniger hohe Absichten. Sie wollen nur ermitteln, was die Erwartungshaltungen (bei MeinungsführerInnen) sind.

Die Stärken und Schwächen der SP-Interessierten
Das Ergebnis ist nicht einheitlich, letztlich aber eindeutig: Aebischer und Nordmann wird eine Wahl am wenigsten zugetraut, vor allem wegen ihrer Herkunft. Mit Albert Rösti (BE) und Guy Parmelin (VD) sind bereits je ein Mitglied aus ihrem Herkunftskanton im Bundesrat.
Jositsch und Jans wurden vor allem zu Beginn des Auswahlverfahrens als Favoriten bezeichnet. Bei Jans zählte der Posten als Regierungspräsident aus Basel, bei Jositsch seine wiederholt brillante Wahl als Zürcher Ständerat. Zwischenzeitlich sieht man aber auch Grenzen: Jans sei nicht mehr im Parlament und damit weniger gut vernetzt. Jositsch habe mit seinem Vorpreschen vor Jahresfrist bei der Nachfolge von Simonetta Sommaruga seine parteiinternen Chance vermindert.
Bleiben die beiden Favorit:innen in den Prognosetools: Evi Allemann, die einzige Frau unter den Interessierte mit einem soliden Leistungsausweis als Legislativ- und Exekutivpolitikerin, sowie Jon Pult, dem Draufgänger aus Graubünden, dem Kommunikationstalent mit Naturverbundenheit. Beide verkörpern bei allen Unterschieden die nachrückende SP-Generation.
Die Vorentscheidung fällt am Samstag die SP-Fraktion. Für sie locken die Chancen, mit Evi Allemann die Frauen im Bundesrat in die Mehrheit zu versetzen resp. mit Jon Pult eine energische Identifikationsfigur anzubieten.

Die Entscheidung der Fraktion und der Bundesversammlung
Offen ist noch, ob es ein Zwei- oder ein Dreierticket gibt. Normal ist ein Doppelvorschlag. Doch mit einem Dreifach-Vorschlag könnten auch weitere starke Bewerbung eine Chance erhalten.
Denn die finale Entscheidung fällen die Fraktionen und die Bundesversammlung. Da treten auch die Grünen gegen die FDP an, und man spekuliert auch über eine Mitte-Bewerbung gegen die FDP.
Namentlich von SVP-Fraktionspräsident Aeschi ist bekannt, dass er sich gegen ehemalige Juso-Politiker:innen ausgesprochen hat, was Allemann und Pult betreffen würde. Das kann auch als Kampfansage für Bewerbungen ausserhalb des Ticket gesehen werden.
Die FDP wiederum dürfte damit beschäftigen sein, ihre beiden Mitglied bestätigen zu können, während die Mitte am schwersten einzustufen ist, welche Zeichen sie setzen wird. Von der SVP hört man aber, wenn sie angreife, müsse man darüber diskutieren.
Das Ergebnis der Wahl entscheidet die Mehrheit der National- und Ständerät:innen am 13. Dezember 2023. Für alle SP-Kandidierende gilt: Sie kommen in einer potenziell turbulenten Bundesratswahlen als letzte dran, müssen sich also auf überraschende Einflüsse aus den Wahlgängen davor gefasst machen.

Claude Longchamp

Vatter’s Typologie der BundesrätInnen:
https://magazin.nzz.ch/hintergrund/so-sieht-der-perfekte-bundesrat-aus-ld.1588186

Wer schafft es auf SP-Ticket für den Bundesrat?

Sechs PolitikerInnen der SP bewerben sich für die Nachfolge von Alain Berset. Es sind dies Evi Allemann, Matthias Aebischer, Beat Jans, Daniel Jositsch, Roger Nordmann und Jon Pult. Wer wird nominiert?


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Die SP nominiert in aller Regel zwei Personen: Das garantiert Auswahl, ohne den Prozess ganz aus der Hand zu geben. Die meisten Fraktionen verfahren so.
Spannender ist die Frage, ob die SP bei einem Zweier-Ticket die geschlechtsspezifische Frage offen lässt oder eine paritätische Liste favorisiert. Dann ist Evi Allemann gesetzt. Und die fünf Männer balgen sich um den zweiten Platz.
Ohne Grund wäre Allemann nicht auf dem Ticket. Sie ist Berner Regierungsrätin, war 15 Jahre lang Nationalrätin, und das mit heute 45 Jahren. Sie gehört dem rechten Flügel an, was Wahlchancen in der Bundesversammlung erhöht. Fachlich wäre sie mehrfach einsetzbar. Doch ist mit Albert Rösti bereits ein Berner im Bundesrat.
Bei den Männern gibt es meines Erachtens drei Favoriten und zwei Aussenseiter.
Unter den Favoriten hat Daniel Jositsch wohl die grössten Wahlchancen in der Bundesversammlung. Fraglich ist aber, ob er es aufs Ticket schafft. Denn vor Jahresfrist verärgerte er viele Frauen, als der den Vorrang des Geschlechts nicht akzeptieren wollte. Zwischenzeitlich zeigt er Reue, und er hat die Nomination seiner Kantonalpartei im Sack. Ob die Frauenmehrheit in der SP-Fraktion gleich tickt, bleibt aber offen. 2009 scheiterte er als Regierungsrat, doch 2023 erreichte er von allen Gewählten die höchste Stimmenzahl.
Für ihn spricht, dass der Zürcher Ständerat seit 16 Jahren im eidg. Parlament ist, aktuelle in fünf Kommissionen sitzt und als Vize der Fraktion amtet. Auch er gehört dem rechten Flügel an. Würde er nominiert und gewählt, wäre er ein designierter Justizminister.
Für Beat Jans sprechen sein Kanton Baselstadt, sein Amt als dortiger Regierungspräsident, seine Zeit im Nationalrat, seine Aemter, die er da inne hatte, und sein früheres Vizepräsidium der SP Schweiz. Jans wäre ein aussichtsreicher Aussenminister. Hinderlich ist allenfalls, dass er seit drei Jahre nicht mehr im Bundesparlament ist. Jans ist ein vielseitiger Politiker und in der Partei zentriert.
Jon Pult kann sein noch fast jugendliches Alter in die Waagschale werfen. Er ist aktuell Vizepräsident der SPS, und er präsidiert die wichtige KVF, obwohl er erst 2019 ins Parlament gewählt wurde. Zudem ist er der einzige Kandidat, der viersprachig ist. Er gilt als Favorit der Parteileitung, denn er könne im Bundesrat ein fachlicher eigentliches Gegengewicht zu Rösti werden, egal welches Departement er erhält. Doch war er nie in einer Kantonsregierung.
Auch Nordmann und Aebischer könnten in diese Rolle schlüpfen. Doch “ihr” Departement ist vergeben. Sie haben aber auch andere Handicaps zu überwinden, um überhaupt nominiert zu werden. Nordmann ist Waadtländer und würde die Ueberzahl Romands zementieren, und Aebischer gilt in der Fraktion nicht als Schwergewicht. Sie dürften deshalb nicht mehr als Aussenseiter-Chancen haben.
Nun müssen die Hearings mit der SP-Basis Aufschluss geben, wer im Wahlkampf am meisten Schub entwickeln und damit die Nominationschancen positiv beeinflussen kann.
Ich denke, momentan Allemann ist für das Ticket gesetzt, Jans, Pult und Jositsch haben alle ihre Chance, sie zu begleiten.

Claude Longchamp

Meine Einsätze bei und nach den Wahlen

Die Eidg. Wahlen 2023 stehen vor der Türe. Am Sonntag sind die National- und Ständeratswahlen. Mitte Dezember sind dann die Bundesratswahlen. Ich freue mich, nochmals im Einsatz zu sein. Das sind meine Auftritte und Termine.

22.10. BlickTV: Kommentierung Parlamentswahlen
23.10. Wahlanalyse Generationentandem UND, Thun
24.10. Schwedische Botschaft: Konferenz der nordischen Staaten
25.10. Wahlanalyse Mitte Kt. Bern, Lyss
27.10. ZHAW: Was machen wissenschaftliche Dienstleister bei Wahlen
1.11 Wahlanalyse SP Kanton Bern, Bern
7.11. Business Lunch: “Fois gras” and other cultural cleavages in Switzerland, Lausanne
7.11. Wahlanalyse für VCS, virtuell
21.11. Wahlanalyse für Berner Fachhochschule, Bern
13.12. BlickTV: Bundesratswahlen

Claude Longchamp

#Frischgebloggt: Bilanz der Umfragen und Wahlbörsen

Drei Umfrageserien und zwei Wahlbörsen zu den Parteistärken sind in den letzten Tag auf den neuesten Stand gebracht worden. Was besagen sie?


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Umfragen werden keine mehr erscheinen, denn 10 Tage vor einer eidg. Wahl ist die Veröffentlichung neuer Ergebnisse nicht mehr erlaubt. Wahlbörsen können weiterhin aufdatiert werden, haben aber so kurz vor Schluss kaum mehr prognostischen Wert. Deshalb verzichte ich hier bis zum Wahltag auf ein weiteres update.
Die nachstehende Grafik zeigt die Ergebnisse einzeln, in der Zwischenzusammenfassung nach Tool-Arten und im Endergebnis.

Ergebnisse einzeln
Beginnen wir mit dem Allgemeinsten: Ich verwende das Kombinationsverfahren, um Ausschläge in einzelnen Tools auszugleichen. Das ist ein verbreitetes Vorgehen bei Prognosen.
. Alles zusammen sieht man die SVP weiterhin vor der SP, Mitte und FDP dahinter, aber praktisch gleichauf. Nochmals zurück folgenden die beiden grünen Parteien, vorab die GPS vor der GLP. Die FDP wollte ursprünglich die SP überholen und die Grünen wollten drittstärkste Partei werden. Beides wird wohl ausbleiben.
Gegenüber 2019 werden Gewinne vor allem bei der SVP erwartet, eingeschränkter auch bei der SP und der Mitte. Verluste im gleichen Zeitraum dürfte es am ehesten bei der GPS geben, gefolgt von der FDP und der GLP. Alle vorausgesagten Gewinne zusammen betragen gerade mal 4 Prozentpunkte. Die aggregierten Verluste belaufen sich auf 4.2 Prozentpunkte. Das spricht ganz im Gegensatz zu 2019 für eine ziemlich stabile Wahl.
. Die beiden Toolarten liegen sehr nahe beieinander. Die grössten Differenzen gibt es bei den Grünen und bei der SVP mit je 4 Promillen Abweichung. Dabei sind die Börsen leicht freundlicher gegenüber den Grünen, die Umfragen etwas vorteilhafter für die SVP.
. Vergleicht man die Umfragen untereinander, gibt es einen Einfluss aufgrund des Termins. Die Erhebung von 50plus1 für «bluewin» ist die älteste. Sie fällt am positivsten für die SVP, Mitte und GLP aus. Das letzte «SRG-Wahlbarometer» ist bei der SP und der FDP vergleichsweise höher. Dafür schneiden hier die grünen Parteien schlechter ab. Die «Tamedia»-Umfrage sieht vor allem die Mitte tiefer als die anderen. Dennoch sei es geschrieben: Die Unterschiede auch zwischen den Umfragen sind gering.
Sie sind alle richtig oder alle falsch!

Bilanz
Erstens, es gibt einen Mainstream in den Erwartungen. 2023 wird eine re-stabilisierte Wahl. Rechts legt leicht zu, aber nur wegen der SVP, nicht wegen der FDP. Das Zentrum bleibt fast gleich stark, und links verliert leicht, vor allem wegen den Grünen, nicht wegen der SP.
Zweitens, vier der hier besprochenen Parteien haben einen Gegentrend zu 2019. Die Grünen stehen vor einem Rückgang. SVP, SP und Mitte könnten erstarken. Die Ausschläge sind ausser bei der Mitte kleiner als 2019. Man kann von einer Korrekturwahl sprechen.
Drittens, fortsetzen dürfte sich der Trend von 2019 nur bei der FDP. Das allerdings könnte zum Platzwechsel mit der Mitte führen.

Schluss
Festgehalten sei zudem: Das sind konsolidierte Erwartungen 10 Tage vor der Wahl, nicht die Endergebnisse! 2019 wichen die Umfragen im Mittel der Parteien 1.2 Prozentpunkte ab. Das war für die letzten12 Jahre der höchste Werte. Er resultierte wegen dem unterschätzen Aufschwung namentlich der GPS.

Claude Longchamp

Mein (vorläufiges) Wahlprogramm 2023

Die eidg. Wahlen 2023 stehen an. Es sind meine 10. Parlamentswahlen meiner Premiere 1987.

Diesmal werde ich Parlaments- und Regierungswahlen für #BlickTV kommentieren. Anschliessend mache ich noch einige Nachanalysen für Parteien, Verbände und politische Organisationen. Das können auch noch mehr werden, denn es sind einige Anfrage noch offen.
Allerdings ist danach Schluss! Ich pausiere ab Mitte Dezember für längere Zeit und melde mich im Frühjahr 2024 wieder, wenn ich weiss, was ich neu mache.

9.10. Wahlprognose für Nau_Live
22.10. BlickTV: Kommentierung Parlamentswahlen
23.10. Wahlanalyse Generationentandem UND, Thun
25.10. Wahlanalyse Mitte Kanton Bern, Lyss
7.11. Wahlanalyse für VCS
21.11. Wahlanalyse für Berner Fachhochschule

13.12. BlickTV: Bundesratswahlen

Claude Longchamp

Warum man das Ergebnis der Ständeratswahlen 2023 noch nicht kennen kann

Wie die Ständeratswahlen ausgehen könnten, beschäftigt die mediale Oeffentlichkeit gegenwärtig stark. Bereits sind vier Sitzprognosen erschienen. Meines Erachtens kann man heute jedoch nur die Ausgangslagen für die erste Runde bestimmen. Was in der zweiten Runde geschieht, muss noch offen bleiben.

Mediale Sitzprognosen als Basis
Drei vollständige Sitzprognosen und eine weitere zu bestimmten Kantonen erhellen das etwas unsichere Feld der Ständeratswahlen. Der Tagesanzeiger und SRF-News haben die Ausgangslage in allen Kantonen journalistisch analysiert. Verschiedene Lokalmedien oder Regionalredaktionen haben Opinionplus mit spezifischen Umfragen beauftragt. Schliesslich hat Watson eine Wahlbörse zu allen Ständeratswahlen präsentiert. Was kann man daraus lernen?


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Wo es Rücktritte gibt
Handfestestes Kriterium für einen offenen Wahlausgang ist ein Rücktritt. Sieben Kantone erfüllen dieses Kriterium. In der Waadt treten die beiden KantonsvertreterInnen gleichzeitig zurück. In Zürich, Bern, Aargau, Solothurn, Tessin und Schwyz gibt es je eine Vakanz.
Die SP hat drei Rücktritte (BE, SO, TI) zu verkraften. Je zwei sind es bei FDP (VD, ZH) und SVP (AG, SZ). Einen Abgang gibt es zudem bei den Grünen (VD).

Wer welche Aussichten hat
Sofern sie sich äussern, zeigen die vier Tools eine Reihe gemeinsamer Erwartungen. In der Waadt wird einheitlich damit gerechnet, dass FDP (Broulis) und SP (Maillard) zu Lasten der Grünen die Sitze halten oder übernehmen. Die FDP behält ihren.
In den allen anderen Wahlkreisen mit Rücktritten gibt es keine so klare FavoritInnen.
. In Zürich kommen gemäss Tools Bewerbungen von FDP (Sauter) und SVP (Rutz), allenfalls Mitte (Kutter) in Frage.
. In Bern konzentriert sich die Aufmerksamkeit vorerst auf SP (Wasserfallen) und Grüne (Pulver).
. Im Aargau sind es SVP (Giezendanner) und Mitte (Binder), allenfalls auch SP (Suter).
. In Solothurn richtet sich das Augenmerk auf FDP (Ankli) und SP (Roth).
. Im Tessin erscheinen FDP (Farinelli) und Mitte (Regazzi) möglich.
. Und in Schwyz gibt es eine offene Konkurrenzsituation. zwischen SVP (Schwander) und FDP (Gössi).
Damit kommt es im Tessin zu einem sehr wahrscheinlichen Parteiwechsel. Der Rest ist offen.

Was die Wahlforschung weiss
Die Wahlforschung zeigt, wer bei Ständeratswahlen erhöhte Chancen hat. Vorteile hat die Partei oder Allianz der/s AmtsinhaberIn. Es kommt aber auch die Geschlossenheit in den Lagern und ihre Mobilisierungsfähigkeit hinzu. RegierungsrätInnen (Bekanntheit) und herausragende NationalrätInnen (politisches Profil) haben ebenfalls höhere Chancen. Bisweilen wirkt sich zudem der regionale Ausgleich (Stadt/Land) aus. Neuerdings kommt auch das Geschlecht (Frauensolidarität) als Kriterium hinzu.
Ein dominantes Kriterium, das alles entscheiden würde, gibt es im Wettbewerb aber nicht.
Wahrscheinlich wird da überall ein zweiter Wahlgang nötig werden, bei dem neu aufgemischt wird.


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Abwahl Bisheriger?
Speziell ist die Ausgangslage in den Kantonen Jura und Neuenburg, die ihre StänderätInnen nach dem Proporzverfahren bestimmen.
In Jura ist die jetzige SP-Vertreterin (Crevoisier Crelier) erst letztes Jahr für Baume-Schneider, die in den Bundesrat gewählt wurde, nachgerückt. Sowohl SP (Barthoulot) wie auch FDP (Gerber) fordern sie mit heraus. Massgeblich sind zuerst die Parteistärken, dann die Personenstimmen. Das macht die SP-Regierungsrätin zur Favoritin.
In Neuenburg konkurrenziert die SP (Hurni) die grüne Ständerätin (Vara), was angesichts der ausgeglichenen Parteistärken zu einem unsicheren Ausgang führen könnte.
Spekuliert wird darüber hinaus, im Wallis (Maret, Mitte), in Genf (Sommaruga, SP) in Freiburg (Gapany, FDP) und Glarus (Zopfi, Grüne) auch ein(e) AmtsinhaberIn gefährdet sein. Allfällige Nutzniesser kämen aus der FDP (Nantermond, VS), vom MCG (Poggia), von den Grünen (Andrey, FR) resp. von der SVP (Rothlin, GL).
Die Wahrscheinlichkeit erscheint aber gering: Bisherige haben ohne Skandale im Majorzverfahren einen klaren Bonus. Alle anderen Spekulationen, die hie und da geäussert werden, halte ich aus heutiger Sicht für ganz unwahrscheinlicher.


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Erste Bilanzen
Trotz zahlreicher Unsicherheiten wagen der Tagesanzeiger, Watson und SRF bereits eine finale Sitzprognose, wenn auch mit Unsicherheitsbereichen. Der Tagesanzeiger und SRV sehen die FDP als Wahlgewinnerin. Watson ist da zurückhaltender. Mittelt man die Erwartungen kommen Mitte und FDP neu auf 14 Sitze. Die SVP bleibt auf 7 Sitzen. SP und Grüne verlieren je einen. Das würde eine moderate Verschiebung nach rechts bedeuten.
Mitte und FDP dürften im neuen Ständerat zusammen eine klare Mehrheit, und keine andere Zwei-Partei-Allianz wird das für sich beanspruchen. SVP und SP bleiben damit in der primären Konsensbildung aussen vor.
Ich werde diese Uebersicht in der Woche nach der ersten Runde sicher aufdatieren.

Claude Longchamp