Das bestgehütetste Parteiengeheimnis.

Innenpolitisch ist das Geld der Parteien kaum ein Thema. Jetzt erhöht der Europarat den Druck auf die Schweiz in dieser Sache.

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Quelle: L’Hébdo via Wahlkampfblog

Vor 5 Jahren ratifizierte die Schweiz das Anti-Korruptions-Abkommen des Europarates. Zwei Länderexamen hat unser Land seither bestanden. Beim dritten dürfte es jedoch scheitern.
Das jedenfalls berichtet die heutige “NZZamSonntag” unter Berufung auf ExpertInnen des Bundes. Denn seit Februar dieses Jahres überprüft der Europarat nicht die Wirkungen des hochgehaltenen Bankgeheimnisses, sondern … des bestgehüteten Parteiengeheimnisses.

“Wer finanziert die Parteien in der Schweiz? Sind es die Mitglieder? Sind es die Lobbyisten, die im Gegenzug verlangen, dass die Parteien ihre Interessen vertreten? Sind es die Schwerreichen, welche in ihrem Sinn steuern?”, sind drei nachollziehbare Erwägungen, die man zwischenzeitlich auch am Zürcher Falkenplatz macht.
Hilmar Gernet, vormals CVP-Generalsekretär und seit neuestem Buchautor in dieser Sache, versuchte den Schleier des Schweigens mit seiner Doktorarbeit ein wenig zu heben, ohne allzu konkret zu werden. Interna auszuplaudern, sei nicht seine Sache, eine Diskussion zu lancieren schon, fasst er seine Absicht zusammen. Selbst das bekam ihm nicht gut: Vor zwei Wochen wurde er aus dem Luzerner Grossen Rat abgewählt – und danach hing er seine Politkarriere ganz an den Nagel.

Die Schweiz hat als eines der wenigen europäischen Länder kein Parteiengesetz. Da sind internationale Diskussionen, europäische Vereinbarungen und unterschriebene Abkommen umso wichtiger. Das weiss auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Ende letzten Jahres das federführende Justiz- und Polizeidepartement übernahm. Sie will gar nicht warten, bis die ExpertInnen des Europarates ihren Bericht fertig haben. Noch vor der heissen Phase des diesjährigen Wahlkampfes will sie mit einer eigenen Stellung den Boden für eine schweizerische Regelung vorbereiten.

Um es klar zu sagen: Ich mache mir keine Illusionen, das Parteien kein Geld brauchen würden. Doch gerade deshalb finde ich Transparenz in dieser Sache umso wichtiger. Denn nur das würde zeigen, ob Wahlergebnisse unabhängig vom eingesetzten Geld entstehen. Denn das ist demokratiepolitisch das Entscheidende.

Die Mentalität in der Romandie ist da schon etwas weiter als die übrigen Schweiz. Das Wochenmagazin L’Hébdo publizierte kürzlich ein Dossier über das “Geld der Parteien“; in den deutschsprachigen Massenmedien wurden nicht nur die Ueberlegungen hierzu, nein selbst die grundlegendsten Statistiken totgeschwiegen. Schön, dass es da mit polithink, Wahlkampfblog und zoonpoliticon wenigstens eine kleine Gegenöffentichkeit gibt.

A suivre!

Claude Longchamp

Wahlversprechen dieser und jener Art

Dieser Artikel dürfte “rehcolb”, einer meiner treuen Leser und Kommentatoren, ansprechen: Denn er beschäftigt sich mit einer Untersuchung zu Wahlversprechen und -verhalten unserer NationalrätInnen. Ich hoffe, er regt auch zum Nachdenken an. Denn es ist alles ist komplizierter, als man auf Anhieb denkt.

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Erinnern Sie sich noch an Christian Lüscher, dem FDP-Kandidaten bei den Bundesratswahlen 2009? Die Medien eroberte der liberale Sunnyboy im Sturmlauf: souveräner Auftritt, galantes Aeusseres und gewinnender Humor empfahlen ihn schnell einmal für das höchste Amt im Bundesstaat.

“Weit gefehlt!”, kommt die junge Berner Politikwissenschafterin Lisa Schädel in ihrem Bericht “Ist vor der Wahl auch nach der Wahl?” zum Schluss. Denn sie zählte nach, wer was versprach, und wer wie stimmte. Und bei keinem/keiner anderem/r PolitikerIn unter der Bundeskuppel fand so viel Positions-Inkongruenz wie bei Lüscher.

2003 resp. 2007 wurden die KandidatInnen für den Nationalrat gebeten, vor der Wahl den Fragebogen von smartvote auszufüllen und sich damit in aktuellen Streitfrage zu positionieren. In 34 Fällen stimmten die Gewählten danach über das ab, was gefragt wurde, was den Vergleich vor und nach der Wahl erlaubt.

Ergebnis: 86 Prozent der Entscheidungen stimmen überein!

Allerdings: Bei 14 Prozent der Getesteten gibt es eine vollständige Uebereinstimmung, bei einem Zehntel weichen mindestens 3 von 10 Entscheidungen ab. ParlamentarierInen ist eben nicht ParlamentarierIn!

Hat das mit einem schlechten Charakter einiger PolitikerInnen zu tun? Ausschliessen kann man das nicht. Die Untersuchung verweist auf tieferliegende Ursachen für Positionsinkongruenz:

Erstens: Probleme der Neulinge.
Zweitens: Problem Fraktionsdruck
Drittens: Problem Zentrumsposition.

Wer neu ist, muss sich einarbeiten, was zur Meinungsbildung beträgt und auch andere Einsichten aufkommen lässt. Wer mit seinen Positionen mit der Fraktionsmehrheit übereinstimmt, hat es einfacher. Wer nicht, kommt zunehmend unter Druck. Und wer im Zentrum politisiert, muss sich heute bewegen, um zu gewinnen!

So erstaunt es nicht, dass die SP-ParlamentarierInnen zu 94 Prozent positionskongruent stimmen, die Grünen zu 92 Prozent – beides überdurchschnittlicher Werte. Positiv gemüntzt heisst das, die linken ParlamentarierInnen halten ihre individuellen Wahlversprechen. Negativ ausgedrückt, stimmt das mit der höchsten Verliererrate im Nationalrat überein. Bei der SVP bewegt sich beides im Mittel. Ihren smartvote-Positionen am untreuesten sind die CVP- (74% Uebereinstimmung) und FDP-NationalrätInnen (81%). Dafür kommt es auf sie am meisten an, was im Parlament durchgeht – und was nicht.

Die Ergebnisse sind typisch für den Charakter – nicht der PolitikerInnen, jedoch der heutigen politischen Situation. Ohne Polarisierung repräsentierten die 4 Regierungsparteien mindestens drei Viertel der VolksvertreterInnen. Da mochte es individuelle Abweichungen nicht leiden. Heute ist alles anders: Sammlungen der Regierungspartner ohne SVP oder bürgerliche Schulterschlüsse sind zur Regel geworden, und sie sind auf geschlossene Fraktionen angewiesen. Wer an den Polen politisiert und im entscheidenden Moment ausscheren kann, hat es da einfacher als PolitikerInnen, die mehrheitsfähige Positionen suchen.

Denn auch das ist eine Art Wahlversprechen – selbst wenn es schwieriger ist, das klar zu machen!

Claude Longchamp

Parteiensystem der Schweiz: zwischen polarisiertem und segmentiertem Pluralismus

Die Zeiten des gemässigten Pluralismus im schweizerischen Parteiensystem sind vorbei. Das Neue schwankt aber zwischen polarisiertem und segmentiertem Pluralismus – mit einer vorherrschenden Partei.

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Die Schweiz ist innert 20 Jahren vom oberen linken Quadranten in die untere Mitte gewandert.

Das Parteiensystem der Schweiz ist im Wandel – ohne Zweifel. Blickt man auf die letzten Wahlen mit relative Stabilität im Jahr 1991 zurück, kann man festhalten:

. Die Polarisierung zwischen den Parteien ist gestiegen.
. Die Zahl der relevanten Parteien hat eher zugenommen.
. Die Mobilisierung durch Wahlen nimmt zu.

Die einzige Partei, die wirklich davon profitiert hat, ist die SVP. Sie steigerte sich von gut 10 auf knapp 30 Prozent der jeweils Wählenden. Zugelegt hat auch die GPS. Sie verbesserten sich von gut 5 auf knapp 10 Prozent. An Stärke eingebüsst haben die die CVP, die FDP und auch die SP. Diese profitierte anfänglich von der Polarisierung und Mobilisierung, zwischenzeitlich wird sie durch die grünen Parteien bedrängt.

In der politikwissenschaftlichen Analyse, wie sie der italienische Demokratieforscher Giovanni Sartori entwickelt hatte, galt die Schweiz lange als typischer Fall für einen gemässigten Pluralismus im Parteiensystem. Die ideologische Distanz zwischen den Parteien war gering, obwohl – oder gerade weil – von links bis rechts alle grössere Parteien in der Regierung gemäss ihrer Stärke in der Bevölkerung vertreten waren. Zudem blieb die Zahl der Parteien gering: 3 grössere, eine mittlerer und eine knapp Hand voll Kleinstparteien bildeten die WählerInnen ab.

Davon ist wenig übrig geblieben. Gewachsen ist mit der Polarisierung die ideologische Distanz der Parteien. Die klassische Links/Rechts-Polarität wurde durch die postmaterialistisch und postnationalistische erweitert. Oekologie- und Globalisierungsprobleme definierten neuen Problemlagen, und über die änderten sich die Parteien. Vielleicht gibt es auch eine dritte Innovation in den grundlegenden Konflikten: den Gegensatz zwischen radikaler Markt- und Staatsorientierung. Verändert hat sich auch die Zahl der relevanten Parteien. Ein ist historisch einmalig gross. Vier sind mittelstark, und zwei haben sich neu vor den kleinsparteien etablieren können; nur wenige sind in der Zeit ganz verschwunden.

Vieles davon spricht, dass wir es heute mit einem polarisierten Pluralismus zu tun haben. Die zentrale Kraft weist nicht mehr ins Zentrum, sondern zu den Polen. Allenfalls ist das heute an ein Limit genannt. Dass die BDP und die GLP, die GewinnerInnen der kantonalen Wahlen in den letzten vier Jahren, gemässigt mitte/rechts resp. mitte/links politiseren, ist ein Zeichen hierfür. Zudem bewegen sich Teile der Grünen Richtung Mitte – anders noch als 2007, als sie die SP links zu überholen versuchten.

Ein Einwand bleibt bestehen. Schon Sartori hat darauf hingewiesen, dass der polarisierte Pluralismus nur in kulturell einheitlichen Nationen vorkommt. Das ist die Schweiz nicht – auch nicht geworden. Die Trends zur Segmentierung der Schweiz entlang der Sprachregionen sind nicht einheitlich, mindestens aber zyklisch wiederkehrend. Die Aktualität des Röstigrabens, der anders als in den 90er Jahren heute nicht mehr durch die EU-, aber bei sozialpolitischen Fragestellungen auftritt, ist auch hierfür ein Signal.

Typologisch, kann man festhalten, ist die Schweiz heute ein Fall zwischen segmentierter und polarisierter Polarisierung. Die Zahl der Parteien wächst. Die Distanz unter ihnen auch. Gebrochen wird jede einfache Schematisierung aber durch regionale, insbesondere sprachregionale Eigenheiten im schweizerische Parteiensystem. Das unterscheidet die Schweiz nachhaltig von Beispielen wie dashenige von Bayern. Und genau das sollte man nicht vergessen, wenn man Szenarien erstellt, wie das Regierungs- dem Parlamentssystem angepasst werden könnte, das aus den kommenden Wahlen hervorgehen wird.

Claude Longchamp

Ständeratswahlen in der Schweiz: Vorschläge zur Analyse zwischen Theorie und Praxis

Das Blockseminar zur Analyse von Ständeratswahlen in der Schweiz an der Universität St. Gallen ist vorbei. Ein ordnender Rückblick.

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Wird am 23. Oktober 2011 neu bestellt: der Ständerat der Schweiz, die zweite, gleichberechtigte Kammer der Bundesversammlung

18 Lektionen in 3 Tagen sind eine Herausforderung. Mit dem Blockseminar in der ostschweizer Metropole erspare ich mir viel Reisezeit zwischen Bern und St.Gallen. Die Energie braucht man aber, um während den Verhandlungen permanent präsent zu sein. Meiner Meinung nach wirkte sich diese Veranstaltungsform vorteilhaft auf das Lernklima aus. Denn so vertieft kann man eine Thema während den üblichen Wochensitzung nicht verarbeiten. Dafür ist die Distanz zu den Inputs grösser, wenn man regelmässige Abstände zwischen den Sitzungen hat.

Aufschlussreich waren die drei Referate “von aussen”: Regierungsrätin Karin Keller-Sutter reflektierte über den Mainstream in der st. gallischen Politik, den sie gerne in Bern vertreten würde. Aus ihrer Warte sind erfolgreiche Kampagnen bürgerInnen-nah, dezentral, authentisch – und ohne übergeordnete parteipolitische Absichten. Auch TV-Journalist Hanspeter Trütsch betonte die Vielfalt der Schweiz, wo jeder Kanton anders als der andere ist, weshalb auch Wahlkampfkulturen divers blieben. Die wachsenden Rolle der Medien in der Politikvermittlung führe zu einer Transformation von Wahlkämpfen. Erfolgreichen Politikerprofile bleiben sich ähnlich, es wechselten aber die Köpfe, Auftrittsstile und Kommunikationskanäle. Hermann Strittmatter wurde seinem Image als Exzentriker unter den Schweizer Werbern vollumfänglich gerecht. Erfolg im urbanen Raum, dozierte er, hänge davon ab, im Kommunikationswirrwarr nicht unterzugehen. Werbung müsse auffallen, was Kreativität verlange. Von Parteien erwartet einen Kompatibilitätstest, bevor sie KandidatInnen nominierten. Gewinne werde schliesslich der oder die, welche(r) keine Fehler mache, indem er oder sie in der Hektik des Wahlkampfes Ruhe bewahre.

Der systematische Teil des Blockseminars beschäftigte sich mit Wahlkampftheorien. Allen bekannt sind die Annahmen der rationalen Wahl. Sie haben sich für die Analyse der kurzfristigen Programmwahl durch die einzelne BürgerIn bewährt. Doch sind sie kaum geeignet, die Konstanten in Wahlergebnissen zu untersuchen, und sie eigenen sich auch nicht gesellschaftlichen Strukturen und ihren Wandel in Wahlresultaten zu bestimmen. Skepsis herrscht auch, dass man damit Personenwahlen treffend untersuchen kann. Das Spannendste in der Forschung findet aktuell dort statt, wo das Handeln der Akteure im Schnittfeld von KandidatIn, Partei und Medien analyisert wird.

Konflikttheorien, welche die Transformation des postindustriellen Staates erhellen, wie das Herbert Kitschelt geleistet hat, geben hier den Rahmen ab. Stefan Dahlems grundlegende Uebersetzung der sozialwissenschaftlichen Wahltheorie in die Mediengesellschaft verdeutlicht, wie sich die Beziehungen zwischen Wählenden und Gewählten verändern. Schliesslich geht es in Wahlanalysen seit langem um das Marketing von Parteien und KandidatInnen, welche eingesetzt werden, um den Wahlerfolg erhöhen.

Drei Thesen haben der gegenwärtigen politik- und medienwissenschaftlichen Forschung haben uns inspiriert: uum einen die Medialisierungsthesen, wie sie von Barbara Pfetsch für die Erforschung von Wahlkämpfen vorgeschlagen wurden; sodann die Personalisierungsthesen, die namentlich Skeptiker der Demokratieentwicklung wie Colin Crouch favorisiert werden; schliesslich die Thesen der Modernisierung von Wahlkämpfen, die namentlich Pippa Norris eingebracht hat.

Formuliert wurden diverse studentsiche Forschungsarbeiten, die im Schnittfeld von Thesen, Daten und Ergebnissen mit Praxisrelevanz diskutiert wurden. So fragt man beispielsweise nach neuen Stadt/Land-Konflikten in Ständeratswahlen, die insbesondere die Wahlchancen von linken und rechten Kandidaturen in den Sprachregionen beeinflussen und genutzt werden können, um die Chancen einer Wahl zu erhöhen. Mehr wissen will man exemplarisch über Medienstrategien im urbanen Raum, namentlich in Zürich und Genf, wenn es um PolitikerInnen-Vermittlung geht. Dazu werden typologisch ausgewählte Medien untersucht. Und man interessiert sich ausdrücklich für Möglichkeiten und Grenzen der Personalisierung von Ständeratsbewerbungen, die zwischen staatstragendem und parteiischem Auftritt der BewerberInnen beurteilt werden sollen. Denn bei Nationalratswahlen weiss man, was gegenwärtig zieht, und es ist gut, dass wir mehr erfahren, ob sich die Erkenntisse dieser Wahlanalyse auch für die Untersuchung von Ständeratswahlen eigenen.

Ich bin gespannt, zu welchen Schlüssen die studentischen Forschungsvorhaben führen, und ob wir danach mehr wissen über das Stiefkind der Schweizer Wahlforschung.

Claude Longchamp

Meine drei Bilder zu den Parlamentswahlen im Herbst

Jenseits von Zahlen über Parteistärken in Kanton, Umfragen und Wahlbörsen: Ich sehe drei Perspektiven, wie die Parlamentswahlen im Herbst ausgehen könnten.

Tagesschau vom 10.04.2011

Lange war es einfach, das Grundmuster Schweizer Parlamentswahlen vorherzusehen. Es dominierte die Polarisierung zwischen rechten und linken Parteien. 2007 stimmte das so nicht ganz: Es legten nur noch SVP und GP zu, während die SP verlor. Dafür gewan die CVP ein wenig, und mit der glp etablierte sich gar eine neue Partei in ihrem Umfeld.

Perspektive 1: Umgruppierung der Mitte

Das ist nach den Zürcher Wahlen die naheliegendste Perspektive: Die Polarisierung ist gestoppt; die Veränderungen finden im Zentrum statt. Rechte und linke Parteie wachsen nicht mehr, dafür haben neue Kräfte im Zentrum die grösste Chancen. Sie nehmen den traditionellen Parteien enttäuschte WählerInnen weg. Zu relevanten Effekten der Neumobilisierung kommt es nicht. Polarisierende Themen gibt es kaum, herausragende Kommunikatoren, die den Wahlkampf aufmischen würden, ebenfalls nicht. Es dominiert das Klein-Klein der Revialitäten an den Parteigrenzen. Die Medien verhalten sich insgesamt neutral; sie verstehen sich als Plattform für alle, vor allem für eingemittete Kräfte.

Perspektive 2: Verstärkung der Pole
Nationale Wahlen zeichnen sich, anders als kantonale durch Polarisierungen entlang von Streifragen ab. Sie lancieren den Wahlkampf, zwingen zu Stellungnahmen, die personalisiert kommuniziert werden. Medial kommt an, wer sich am klarsten positioniert und eine Alternative zum politischen Gegner formuliert. Stilmässig dominiert die Abgrenzung; es kommt zu verbreitetem negative campaigning. Das erschwert der Mitte das Leben, deren Parteien am äusseren Rand Wählende verlieren. Zudem nehmen in beschränktem Masse Neuwählende teil, welche ebenfalls die Pole verstärken. Diese müssen aber bei jeder Aktion damit rechnen, nicht nur sich zu mobilisieren, sondern auch die Gegenseite, sodass am Ende rechte und linke Parteien gewinnen, das Zentrum verliert.

Perspektive 3: Sieg der SVP

Das ist die einfachste Perspektive. Es gewinnt nur eine Partei, während sich die anderen halten oder verlieren. Hautpgrund: Nicht das Wechselwählen entscheidet, sondern die Mobilisierung ist massgeblich. Und auf die kann nur eine Partei relevant setzen; die SV. Denn nur sie hat sich jahrelang in der Mobilisierung geübt. Ihr geht es dabei gar nicht mehr um einen bestimmten politischen Gegner, sondern um die anderen, die das verhasste System repräsentieren. Vor Augen hat die Partei bisherige Nichtwählende auf der rechten Seite des Spektrums, Misstrauische, die eine Abkehr von der Konkordanz, eine Regierung unter Führung der SVP wollen. Die Partei setzt ganz auf eine erhöhte Beteiligung, die ihr nützt, wenn sie in ihrem Potenzial mehr wächst als in allen anderen. Die SVP setzt deshalb voll und ganz auf Identifikation mit Personen wie Christoph Blocher, und macht aus Ueli Maurer einen Bundesrat im Märtyrium.

Eine Prognose ist das nicht; jedoch zeichnen sich drei Szenarien ab, deren Eintretenswahrscheinlichkeit nun von Woche zu Woche analysiert werden kann. Die Implikationen auf die Parteistärken sind ja mitkommuniziert.

Claude Longchamp

Zoonpoliticon als Teil der Medienkommunikation

Vor Kurzem wurde mein Blog mit andern im Rahmen einer Bachelor-Arbeit der Hochschule für Wirtschaft in Zürich untersucht. Kaum ein Beitrag selbst etablierter Politblogs in der Schweiz werde in den Massenmedien zitiert, war das Fazit. Ein Einblick in den zoonpoliticon als Teil der Medienkommunikation aus meiner Sicht.

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Idealisiertes Verhältnis von Blogkommunikation und massenmedialer Kommunikation (Quelle: Zerfass 2005)

Man kann die Erwartungshaltung des Studenten kritisieren. Denn Blogs haben drei grundlegende Funktionen:
. Sie dienen der eigenen Identitätsvergewisserung: Was von allem, das ich in meinem Alltag erfahre, ist für mich wichtig?
. Sie sind ein eigene Form der Informationsverarbeitung: Was, von dem, das mir wichtig ist, will ich elektronisch festhalten?
. Und sie sind eine Form der Beziehungspflege: Wen will informieren, von wem möchte ich Reaktionen, und mit wem möchte in einen Dialog treten?

Erst da geht es um die Relation zu den Massenmedien. Blog sind dabei, wie es der deutsche Mediensoziologe Jan Schmidt sagt, personalisierte Oeffentlichkeiten. Das Spektrum der Beiträge aus der Blogosphäre ist breit: Es reicht von speziellen Erlebnissen im Sinne des Bürgerjournalismus bis hin zum Fachwissen, das man als Experte einbringen will.

Man kann die Erwartungshaltung des jungen Forschers aus Zürich aber auch als Ansporn sehen: Mir war schon länger klar, dass verschiedene Medienschaffende meine Blogs (diese und den Stadtwanderer) mehr oder minder regelmässig konsultieren. Gelegentlich entdeckte ich Themen wieder, die ich als Erster aufgriff, manchmal fanden sich Argumentationsweisen, die ähnlicher nicht sein konnten, und gelegentlich las ich eine Pointe, die ich kommuniziert hatte, andernorts erneut. Dabei gilt: Verbereitet werden ist wichtiger als zitiert werden.

Nun fällt auf, dass zoonpoliticon recht häufig expliziert zitiert. Nicht nur durch andere Blogger, bisweilen auch durch KolumnistInnen, und seit jüngstem auch durch JournalistInnen. Zoonpoliticon wird leider erst selten erwähnt, dass es mein Blog sei, dagegen schon. Das ist diese Woche gleich mehrfach der Fall gewesen: Zum Beispiel hier auf newsnetz, bei 20 Minuten oder bei SF. In keinem Fall habe ich mit den Schreibenden gesprochen.

Zunächst bedanke ich mich bei meinen Kommunikationspartnern. Eine Brücke zu schlagen zwischen politikwissenschaftlichen Einsichten, Forschungsresultaten und Positionen von Kommunikatoren einerseits, den Zielgruppen der wissenschaftlichen Debatten anderseits war schon immer das Ziel dieses Blogs. Studierende, KollegInnen an den Universitäten, OeffentlichkeitarbeiterInnen in Parteien oder Firmen, und last but least Medienschaffende gehören selbstredend dazu.

Ueber die Gründe, kann man vorerst nur spekulieren. Aggregatoren zwischen Blogosphäre und Massenmedien wie der leider eingeschlafene “Mokka-Café” beförder(te)n die Sache offensichtlich. Sicher sind auf Hinweise auf andern Blogs, vor allem im Umfeld von kritischen PR-Beratern wie Bernet oder Balsiger reputationsfördernd. Schliesslich muss jeder und jede, der/die blogt, auch für sich werben. Plausibel sind für Nachahmer scheinen mir die folgenden Ursachen: die Prominenz des Absenders, eine thematische Spezialisierung, das Fachwissen sind wohl grundlegende Voraussetzungen. Hinzu kommen der Bezug zu Mediendiskussion, die Aktualität der Beiträge und die Klarheit zentraler Informationen oder Aussagen.

Generell kann man sagen, dass Blogs, die mit Massenmedien in Verbindung stehen, einen doppelten Bezug haben. Sie können vorausgehen, selten genug bei Themen, häufiger bei Argumenten, ganz ordentlich bei Studienergebnissen. Da haben sie eine allgemeinen Zitierpotenizial. Sie sind aber auch ein Reflexionstool zu massenmedial Publiziertem, um zu verstärken, zu kritisieren, oder Informationen weiter zu führen. Das haben sie vielleicht weniger Zitierpotenzial, stehen aber in einem Dialog zu Massenmedien, wenn sie von diesen akzeptiert. Das Zitieren ist ein Beleg dafür.

Claude Longchamp

Warum Wahlbefragungen Sinn machen!

Sicher, es gibt Einfacheres als an der Schwelle zum Wahlkampf 2011 Wahlumfragen zu empfehlen. Ich mache es an den heutigen 3. Aarauer Demokratietagen gerade deshalb. Mit der Absicht, den Blick für Stärken und Schwächen von Tools in Wahlkämpfen zu schärfen.

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Wahlbefragung zeichnen ein Bild der politischen Schweiz – und sind damit mehr als Prognosen.

Die 10 letzten Anfrage, die ich in Sachen Wahlen 2011 von Medienschaffenden, PR-Agenturen und politischen Parteien erhalten habe, lauten zusammengefasst:

. Wie wählt der Mittelstand?
. Wann entscheiden sich die Wählenden verbindlich?
. Hat die BDP ihre WählerInnen eher von der SVP oder von FDP/CVP?
. Beteiligen sich Frauen immer noch weniger an Wahlen als Männer?
. Wie gross ist die Internetnutzung in politischen Kampagnen?
. Welche Themen kommen bei der Bürgerschaft an, welche nicht?
. Stimmen und Wählen AuslandschweizerInnen anders als InlandschweizerInnen?
. Wer wählt nicht?
. Ist Bäumle für die WählerInnen sympathisch?
. Haben Promi mehr oder weniger Wahlchancen?

Was hat sich in den letzten 20 Jahren bei Schweizer Wahlen geändert?

Zwei konnte ich nicht beamnworten: Ob es einen Unterschied zwischen Wählenden im In- und Ausland gibt, kann man nicht beantworten, weil man aus Datenschutzgründen keinen Zugang zu den Adressen der politisch eingeschriebenen AuslandschweizerInnen bekommt, und ob Bäumle im Wahlvolk ankommt oder nicht, weil wir das noch nie überprüft haben. Ob Promis mehr oder weniger Wahlchancen haben als Normalo, kann man in Umrissen auch mit anderen als Umfragedaten beantworten. Der Rest ist typisch demoskopischer Alltag.

Die Nachfrage nach teilnahme- und parteirelevanten Informationen aus BürgerInnen-Sicht an unserem kommt daher, dass die politische Statistik in der Schweiz in Vielem unterentwickelt ist. Manchmal ist es ein einfaches Interesse, das zu Anfragen beim gfs führt. Bisweilen sind es SchülerInnen und StudentInnen, die sich ein realistisches Bild der Schweizer Wählerin, des Schweizer Wählers verschaffen müssen. Oder es besteht ein professioneller Bedarf, möglichst präzisere Entscheidungsgrundlagen: Wer Kampagnen führt, will wissen, was das Potenzial seiner Aktion ist, welche Gruppen man auf der sicheren Seite hat, und wo noch verbreitete Unsicherheit besteht.

Erfahrungsgemäss gibt es drei Möglichkeiten, zu relevanten Antworten zu kommen:

. Man unterhält sich mit seinen peers, Arbeitskollegen oder im Familienkreis, und man macht sich so ein Bild, was im nahen Umfeld Sache ist.Vorteil: hohe Authentizität; Nachteil: die Antworten hängen von der eigenen gesellschaftlichen Stellung ab.
. Man liesst Zeitungen aufmerksam, um mehr über seine Umwelt zu erfahren: Vorteil: Erweiterung des Gesichtsfeldes; Nachteil: immer mehr Trendiges, immer weniger Gesichertes.
. Man macht es so wie in der Sozialforschung, greif auf Studienmaterial zurück: Vorteil: geprüfte Information; Nachteil: aktualisiert nicht immer verfügbar.

Mein Bild der Politik mache ich mir immer als Mix aus den drei Informationsquellen: Was ich den Massenmedien entnehme, nährt meine Fragen. Was ich in Studien finde, revidiert vorläufige Antowroten oder sichert sie. Was ich von letzterem in meinem Alltag wieder finde, ist für mich veranschaulicht.

Genau das zu tun empfehle ich allen, die Wahlbefragungen für sich nutzen wollen. Sie sind ein Teil der Virtualität von heute, lassen aber Bezüge zur Realität herstellen. Man nimmt sie über Medien zur Kenntnis, widersprechen lieb gewordenen Medieninterpretation jedoch häufig.

Was mich immer wieder wundert, wenn Medienschaffende uns kontaktieren und wenn wir ihre Berichte lesen: Die Neugier nach Ergebnissen in Recherchegesprächen ist häufig breit. Die Publikationen focussieren dann meist eine Frage: Sind die Prognosen richtig oder falsch? Den Rest verwendet man am liebsten ohne Quellenangaben in den eigenen Berichten.

Dies Verengung beeinflusst sogar die Fragestellungen, die man für Referate an wissenschaftlichen Tagung gestellt bekommt. So auch für meinen Beitrag in Aarau. Ich will mich dem weder entziehen, noch dabei stehen bleiben. Deshalb werde ich zu Prognosen von Wahlen reden, aber auch zum Nutzen von Umfragen in der Mediengesellschaft.

Hier die Referatsunterlagen.

Claude Longchamp

Vom Meinungsklima

Politikwissenschaftliche Analysen der Parteiwahl insistieren auf eine gefühlsmässige Bindung an eine Partei, die Uebreinstimmung mit Programmen und die Identifikation mit herausragenden Personen. Die Medien- und Kommunikationswissenschaft, die sich mit Wahlentscheidungen gegenüber Parteien beschäftigt, fügt in der Regel ein relevantes Konzept hinzu: das Meinungsklima.

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Konkret: Im Vorfeld der jüngsten Bundesratswahlen war die Stabilisierung des Regierungssystems das zentrale Stichworte. Exzesse, wie bei der Bundesratswahl ein Jahr davor, sollten vermieden werden. Die Konkordanz galt es zu bewahren. Die Rede war von einer Allianz der Mitte, welche die Geschicke des Landes steuern und fallweise mit einer der Polparteien Allianzen bilden sollte. Bei den Bundesratswahlen sollten die Ansprüche der SP und FDP sollten umgehend eingelöst, jene der SVP nach den nächsten Parlamentswahlen entschieden werden. Dieses Klima begünstigte im Bundesratswahlkampf geforderten Parteien. Das sie ihre Interessen schliesslich durchsetzen konnten, beflügelte ihre WählerInnen; so waren motiviert und mobilisierbar. Ganz anders wirkte sich das auf die Wählerschften der Grünen, der CVP und der SVP aus. Doch hielt die Stimmungslage nicht an. Spätestens bei der Departementsverteilung wurde klar, dass eine Zentrierung der Regierung unter Ausschluss dr SP-Wünsche angesagt blieb.

SCHWEIZ INITIATIVE AUSSCHAFFUNGSINITIATIVE

Spätestens mit dem Abstimmungskampf zu den Volksentscheidung vom 28. November 2010 änderte sich die Grosswetterlage. Es griffen die SVP mit der Ausländerkriminalität und die SP mit den Steuerprivilegien an. Beide testeten damit ihre Wahlkampf-Fähigkeiten. Ein Klima der Anklage entstand, Populismus grassierte, medial angeheizt. Vermittelnde Positionen, wie die des Parlaments mit dem Gegenvorschlag zur Ausschaffungsinitiative hatten einen schweren Stand. Die SP stolperte, zuerst über eigenen Programmparteitag, dann über das negative Abstimmungsergebnis. Es obsiegte die SVP, die in ihrer Lieblingskonstellation – alle gegen sie – eine mehrheitliche Zustimmung in der Volksabstimmung bekam. Damit war der Tenor beim Nationalen, Konservativen, Ländlichen gesetzt. Der SVP bescherte er Spitzenwerte in allen Umfragen, und, im Verbund mit dem bürgerlichen Zentrum einen Abstimmungssieg bei der Waffen-Initiative der SP.

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Doch auch dies Stimmungslage fand ihr Ende, jäh, mit dem Erdbeben in Japan, dem Tsunamie über dem Pazifik und der AWK-Unfall in Fukushima. Die Newslage in den Medien wechselte abrupt. Die Kernkraftbetreiber auch hierzulande wurden zu Gebtrieben der Oeffentlichen Meinung. Die Parteien, welche Kernenergie ablehnten, wähnten sich im Aufwand – nicht zu letzt weil der Bundesrats das laufende Verfahrungen für die Rahmenbewilligung sistierten. Im Gefolge dieser Entscheidung mussten sich die Parteien, welche Kernenergie immer befürwortet hatten, neu positionieren, schweigen oder dem aufkommenden Thema ihre Spin geben. Profitiert haben die Grünen bei den lokalen Wahlen, vor allem von der Oeffnung für ihre Kandidaten und vom Wechselwählen enttäuschter Anhänger. Zu einem Tsunami in der Wählerschaft als Ganzes kam es bis jetzt nicht. Dennoch, das Meinungsklima ist neu definiert worden.

Was ist nun ist ein Meinungsklima? Gemeint sind damit nicht die aggregierten Wahlabsichten der BürgerInnen, die stehen am Schluss der Analysekette. Am Anfang steht die öffentliche Meinung, wie sie aus einem Gemisch von Ereignissen, Medienberichten und Rezeptionen bei meinungsbildenden Organisation entsteht und ihrerseits auf die Intentionen der BürgerInnen bei einer Wahl einwirkt. Das Meinungsklima ist die Hülle unerer Wahlentscheidungen, das übergeordnete politische Klima, die Grosswetterlage oder die Stossrichtung des Windes, an dem sich alle auszurichten beginnen. Es wirft ein grelles Licht auf die Programme der Parteien, die Stärken und Schwächen ihrer Protagonisten, und es definiert damit wer und was in und out ist.

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Bei der Definition des Meinungsklimas sind die Massenmedien entscheidend. Das ist eines der Hauptrgebnisse der Dissertation von Stephan Dahlem. Sein Fazit kann man heute noch zuspitzen: Massenmedien sind keine Analytikerinnen der hier beschriebenen Tendenzen mehr. Vielmehr sind sie zur Avantgarde des Meinungsklimas selber geworden, zu den Trendsettern, die nichts so ungern machen, wie darüber zu sprechen. Ihr Problem dabei ist, dass die mangelnde Reflexion über sich, über Ursachen und Folgen des Meinungsklimas, die Wirkungen von Stimmungslagen überschätzen lässt. Und vor allem besteht ein fast unerschütterlicher Glaube, dass ein einmal definiertes Klima dauerhaft anhält. Doch ist genau das das Trügerischste an Meinungsklimata. Denn nichts ist so sicher, wie ihr Ende, um einem neuen Gemisch aus Ereignissen, Interpretation und Verstärkungen Platz zu machen. Wann auch immer das geschieht.

Claude Longchamp

Der Japan-Effekt: eine Auslegeordnung

Die Wahlforschung hat einen neuen Term, den Japan-Effekt. Damit ist gemeint, dass das Erdbeben im Pazifik, der Tsunami an Japans Ostküste und insbesondere der Reaktorunfall in Fukushima Einfluss haben auf die Wahlen in andern Ländern wie der Schweiz haben.

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Quelle: Tages-Anzeiger

Das Tages-Anzeiger bringt den Japan-Effekt im Zusammenhang mit einer kleinen Serie von repräsentativen WählerInnen-Befragungen durch Isopublic zu den Zürcher Kantonswahlen auf. Die favorisierte vor knapp einem Monat die SVP, nicht zuletzt wegen der Attacke auf Wahlkampfleiter Hans Fehr an der Albisgüetli-Veranstaltung und der darauf folgenden medialen Debatte über linksextreme Gewalt. Die aktuelle Erhebung spricht für Vorteile der GLP und der SP. Bei den Regierungsratswahlen zeigen sich Wahlchancen für die grüne Kandidatur, Probleme für einen Bisherigen der SVP.

Löblich ist der Kommentar von Edgar Schuler in der heutigen Ausgabe des Zürcher Blattes (leider nicht auf dem www erhältlich). Denn er nimmt zwei Gedanken auf, die Reaktionsweisen von Politikern auf Ereignisse, und die Bedingheit von Umfragen und Wahlen von solchen Momenten. Hier interessiert nur letzteres. Die Rede ist dabei von “October Surprise”. Gemeint ist damit, dass überraschende Ereignisse im Monat vor den Wahlen, selbst die Entscheidungen über den US-Präsidenten anfangs November beeinflussen können. Erinnert sei an das Ausbrechen der Finanzmarktkrise, die den Republikanern schadete, den Demokraten nützte und Obamas Siegeszug mitbegründete.

Nun sind solche Feststellungen für Oeffentlichkeit vielleicht neu, für die Fachwelt nicht. Seit Langem differenziert diese zwischen lang- und kurzfristigen Einflüssen auf Wahlresultate. Langfristig wirken sich beispielsweise der soziale Wandel aus, ebenso wie die Neupositionierung von Parteien oder Aenderungen im Wahlrecht. Kurzfristig von Belang ist die Entwicklung von modernen Wahlkämpfen. Lange ging man dabei eher von einer Verstärkung der Trends über den Moment hinaus aus, während sie heute ein Spektakel der Mediengesellschaft sind. Für die ist typisch, dass sich Medien und Parteien vermengt an die Wählerschaft richten, dafür Botschaften aus der Situation heraus so platzieren, dass sie im Idealfall ein Meinungsklima erzeugen oder von einem solchen profitieren.

Mit gutem Grund kann man solche Einflüsse aus den Ereignissen in Japan theoretisch annehmen. Sie haben mit der Focussierung der Aufmerksamkeit auf den möglichen Super-GAU die Weltgesellschaft aktualisiert. Die haben vielerorts politische Reaktionen ausgelöst, namentlich in Deutschland und der Schweiz die Ausstiegs- und Moratoriums-Diskussion neu entfacht.

Empirisch gesehen haben wir dagegen kaum Erfahrungen mit Stärke und Dauer solcher Effekte. Der Unfall in Tschernobyl prägte das öffentliche Klima während Monaten, liess namentlich die Grünen bei den Wahlen in Zürich und der Schweiz erstarken, und zeigte in der Kernenergiefrage über Jahre hinaus Folgen für Einstellungen, teilweise auch für das Verhalten. Doch ist das nur ein Beispiel, das schwer zu verallgemeinern ist. Allenfalls sogar mit veränderter Komplexität zu rechnen, weil die BürgerInnen nach Tschernobyl keine Erfahrung hatten, wie solche Prozesse ausgehen, seit dem Reaktorunfall in der Ukraine indessen schon.

Erste Anhaltspunkte für die aktuelle Interpretation nur die Wahlen angesichts des Japan-Effektes: zum Beispiel in Sachsen-Anhalt, wo die Beteiligung stieg und namentlich die Grünen zulegten. An diesem Wochenende kommen sowohl die Entscheidungen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz sowie auch die in Baselland hinzu. Bis dann ist mit Sicherheit Vorsicht angezeigt.

Für mich gilt: Wahlprognosen werden unsicherer, strukturell wegen der Meinungsbildung in der Mediengesellschaft, aktuell wegen den Ereignissen in Japan. Für alle Beteiligten ist in solchen Situation nur eines hilfreich: das induktive Vorgehen durch genaue Beobachtung und Analyse der Phänomene, die sich wiederholen, ist brauchbar, um zu lernen, wie sich die Entscheidfindung bei Wahlen verändern und wie sie damit prognostiziert werden können.

Claude Longchamp

Standpunkte aus Stadt und Land

Mit Guy Morin und Peter Föhn debattiere ich über Ursachen und Folgen des neuerdings viel zitierten Stadt/Land-Grabens. Vor der Kamera redete man viel übereinander, nach Sendeschluss endlich auch miteinander.

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Auf meine kleine, aufreissende Analyse in der Einleitung reagierten die beiden Politikerinnen, der Muotataler Unternehmer Peter Föhn, Nationalrat für die SVP Schwyz, und Guy Morin, der grüne Regierungspräsident des Kantons Basel-Stadt, ablehnend: Der Stadt/Land-Graben existiere nicht wirklich!

Doch dann legten sie mit voller Härte los: Der Städter zitierte den von seinem Siedlungsraum erwirtschafteten Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wohl, und der Landschäftler beschwor die schweizerischen Werte, die nur in Tälern wie dem seinen in unverfälschter Form zu haben seien. Oekonomie gegen Kultur, das waren die Stichworte!

Ich sass mitten drin, als die Giftpfeile am meinen beiden Ohren vorbei sausten – bis mir der Kragen passte und ich beiden Kontrahenten sagen musste, ich würde an ihren Standpunkten das Eidgenössische vermisse: das Bewusstsein darüber, dass wir verschieden seien, aber zusammengehörten, und das nur so bleibe, wenn wir den willen dazu regelmässig aufbrächten!

Das verlagerte die Diskussion von der Polarisierung zum Dialog, befördert von den Journalisten Patrick Rohr und Urs Buess, die im Auftrag der Basler Zeitung die Sendung moderierten. Wer wissen will, wie es ausging, schaue sich die Debatte am Sonntag um 1310 oder 1825 an.

Eines wird man als Zuschauer jedoch nicht sehen. Als die Kameras aus waren und wir auf Glas Weisswein zusammen sassen, machten die beiden Politiker bald schon Duzis und tauschten Einladungen aus, um nicht nur übereinander, sondern auch miteinander zu sprechen.

Michèle Rothen schreibt dazu im heutigen “Magazin”: Es bringt nichts, mit dem Auto aufs Land zu fahren oder mit dem S-Bahn in die Stadt zu reiten, um Theater zu sehen oder Bauernferien zu geniessen. Man muss auch miteinander reden, um Verständnis zu entwickeln, nicht Feindbilder schüren.

Dem habe ich nichts mehr beizufügen!

Claude Longchamp