Luftschlösser, Stimmungslagen und Strategieüberlegungen

In der Luft liegt eine Mitte/Rechts-Regierung” titelte der “Sonntag”. Er berief sich dabei auf die “Strategie 51 Prozent” von Nationalrat Ulrich Schlüer. Einige Nachgedanken zwischen Luftschlössern und Strategiedenken.

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Zunächst zum Brauchbaren: Der Artikel von Othmar von Matt beschäftigt sich mit dem Ausgang der Parlamentswahlen 2011. Zitiert werden die offiziellen Wahlziele der SVP, vermutet wird aber auch eine “versteckte Agenda”. Der neue Geheinplan beinhalte verschiedene Spielarten einer Mitte/Rechts-Regierung, die samt uns sonders auf die Brüskierung der SP als Regierungspartei ausgerichtet seien. Erwähnt werden 4 Szenarien.

Szenario Bruch: Demnach verliert die SP Ende Jahr bei Bundesratssitze an die bürgerlichern Parteien.
Szenario Bestrafung: Demnach verliert die SP einen Bundesratssitz an die SVP.
Szenario Schwächung: Demnach verliert die SP einen Bundesratssitz an die Grünen
Szenario Status Quo: Demnach koalieren SVP, FDP und SVP, um die SP im Bundesrat regelmässig ins Leere laufen zu lassen.

Letzteres ist auch heute möglich. Es scheiterte stets am gemeinsamen Willen der bürgerlichen Parteien und ihrer BundesratsvertreterInnen, die sich sachpolitische Freiheiten ausbedingen.

Dann zum Unbrauchbaren: Das Luftschloss “Subito 51 Prozent für die SVP” unterliegt einem verbreiteten Denkfehler. Nur wenn das bürgerliche Lager gemeinsam zu Lasten von Rotgrün wächst, wäre eine eigentlicher Regierungswechsel angezeigt.

Solange die SVP aufgrund von Fusionen mit Kleinparteien zulegt, muss sie eine klaren Rechtskurs halten, was ihre Regierungsfähigkeit im Schnittfeld zwischen Oppsitionspartei in Migrationsfragen und Regierungspartner in Wirtschaftsfragen schwächt. Und wenn die auf Kosten der bürgerlichen Parteien zulegt, erschwert sie die Zusammenarbeitsmöglichkeiten mit ihnen, denn man befindet sich im Rollenkonflikt, Konkurrent zum Partner zu sein. Da hat der Luftschlossherr Schlüer recht: Das kann man nur gewinnen, wenn man die Mehrheit erreicht.

Real wird die Abgrenzung zwischen den bürgerlichen Parteien mindestens bis zu den Wahlen im Herbst ’11 vorherrschen. Die Trends in Kantonen wie Zürich und Bern bei den aktuellen Wahlen bestätigen dies. Und danach entscheiden die Wählerstärken, allenfalls die Sitzzahlen der Parteien, was rechnisch möglich ist, und was politisch Sinn macht. Bevor man die Konkordanz weiter schwächt, wäre es richtig, die numerische Grössen und den politischen Willen nüchtern zu analysieren, um zu Vorschlägen zu gelangen.

Bleibt vorerst die Frage, wem der Artikel nützen sollte? SVP-Exponenten wie Nationalrat Mörgeli und Schlüer sind dafür bekannt, dass sie Wahlsiege in politische Forderungen ummünzen. 2007 stammte die Idee konservative Revolution mit vermehrter Einflussnahme der SVP auf, Schulen, Medien und Verwaltungen aus ihrem Kreise. Doch führte dieser offensichtliche Machtanspruch zum Fiasko bei Bundesratswahlen von Ende 2007. Entsprechend variieren die Reaktionen von SVP-Seite zwischen vorsichtiger Zustimmung und demonstrativer Distanzierung.

Anders sieht es auf linker Seite aus. Lanciert wurde die Geschichte vom grünen Nationalrat Jo Lang, der damit seine Partei als allzeit sensibilisierten Anit-SVP-Pol profilieren konnte. Und der gewievte Polittaktiker aus Zug weiss genau so gut wie Christian Levrat, dass die Angst, institutionell marginalisiert zu werden, zu den Mobilisierungsmassnahmen zählt. Diese Stimmungslage war wohl die Absicht für die grosse Aufmache vom Sonntag.

Immerhin, die Doppelseite hat mich in einem Punkte zum strategischen Nachdenken angeregt: Wenn schon im Nachgang zur Fusion von FDP und Liberalen ein Zusammengehen von CVP und BDP ins Spiel gebracht wird, wäre es nur folgerichtig auch über die Kooperation von SP und Grünen über den Status Quo hinaus nachzudenken. Sachpolitisch ist die Uebereinstimmung seit langem hoch; machtpolitisch gäbe es dann einen genügend Gegenkräfte auch zu einer erstarkten SVP.

Wie wär’s also damit?

Claude Longchamp

Die nationalkonservative Wende?

Ein neues Phänomen erfasst die politische Kultur der Schweiz. Fakten und Fragen zur viel zitierten nationalkonservativen Wende.

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Doris Leuthard, 2010 Bundespräsidentin, ebnet am Trachtenfest der ländlichen Schweiz den Weg zur Mehrheitsfähigkeit

Die Ausschaffungsinitiative wurde angenommen. Genauso wie die Minaretts-Initiative. Sie haben zur Konfessionalisierung des Politischen geführt. Und zur Aufwertung des Nationalen. Nun ist auch noch die Waffen-Initiative abgelehnt worden. Mit typisch traditionalistischen Begründungen.

All das passt zur konservativen Wende. Davon reden nicht nur Blocher, sein Biograf Somm und Köppel in der Weltwoche. Nein, zwischenzeitlich beschäftigen sich Medienschaffende querbeet, aber auch SozialforscherInnen und Theoretiker des Politischen damit.

Das psychologische Klima der Schweiz, das Demoscope seit 1974 mit vergleichbaren Bevölkerungsbefragungen untersucht, kippte nach 2001. Entwickelte es sich bis dahin stets in Richtung fortschrittlicher, aussenorientierter Werte, stagniert danach die Zustimmung zu Werten wie Extraversion, Hedonismus udn Risikofreude. Seit 2009 gibt es einen eigentlichen Gegentrend fest, hält Roland Huber fest. Heute sei die Mehrheit der Schweizer binnenorientiert, und nur noch gemässigt fortschrittlich.

Aehnliches hält das Identitäts-Barometer, einem Zusatz zum Sorgenbarometer unseres Instituts insbesondere seit 2007 fest. Lukas Golder betont seit längerem, dass die Zuwendung zu Schweizerischem im Steigen begriffen sei. Der Stolz auf die Schweiz nimmt – vor allem rechts, aber nicht nur – praktisch ungebrochen zu. Ansatzpunkte der Identifikation sind dabei nicht mehr nur die politischen Eigenheiten, auch der Erfolg der einheimischen Wirtschaft, der schweizerischen Produkte im Ausland gehört zur neuen Swissness.

“Was sind die Ursachen der Wende?”, fragt die heutige NZZ am Sonntag. Experten seien sich nicht einig. Klarheit herrsche nur darüber, dass Verunsicherungen am Anfang stünden: Nine-eleven, selbstredend, aber auch das Grounding der Swissair zu Beginn des Jahrzehnts, die Finanzmarktkrise, die zu globalen Erschütterungen führten, werden für die zweite Hälfte der ersten Dekade im 21. Jahrhundert angebracht.

In der Schweiz manifestiere sich das am Wandel der Einstellungen zur Personenfreizügigkeit am Augenfälligsten. Anfangs 2009 in einer Volksabstimmung noch bestätigt und erweitert, sind die Folgen der Migration in den Vordergrund gerückt. In Genf sind es die Frontaliers, in Zürich die Deutschen, im Tessin die Italiener. Am Anfang von all dem stehe, dass kaum jemand mehr die schweizerischen Beziehungen zur Europäischen Union verteidigt. Statt vom Wirtschaftsmotor ist nun vom den der Euro-Falle die Rede.

Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler stellt das in einen grösseren Rahmen. “Viele Schweizer sehen, dass sie weltweiten Entwicklungen hilflos ausgeliefert seien. Sie fürchten, dass ihre Schweiz, in der sie sich wohlfühlen, in Gefahr ist. Das macht Angst”, analysiert der emeritierte Zürcher Professor. Hanspeter Kriesi, Politologie-Professor in Zürch, geht weiter. Die SVP habe seit der EWR-Abstimmung die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz hochgehalten, ebenso den Schutz des einheimischen Gewerbes. Zwischenzeitlich sei dies zu populistischen Kampfgegriffen geworden, um Linke und Oeffnungswillige anzugreifen. Andreas Ladner, Politologe in Lausanne, der die Parteien im europäischen Vergleich untersucht, mag rein schweizerische Begründungen nicht; für ihn wandelt sich die Schweiz genauso wie Europa gegenwärtig in Richtung mehr Nationalismus und mehr Protektionismus.

Einen Gedanken, den ich bisher noch nicht hatte, äussert im besagten Artikel Karin Frick, Forschungsleiterin am Rüschlikoner Gottlieb-Duttweiler Institut. “Die gesellschaftliche Liberalisierung, der anarchische Raum des Internets und der technologische Fortschritt brachten Freiheiten mit sich, die viele überforderten.” Als Gegentrend hierzu ensteht die Sehnsucht nach Uebersicht, nach Ordung und nach Autorität.

Uebrigens: So sicher bin ich nicht, dass wir es mit einer effektiven Wende zu tun haben. Klar ist, die Stimmungslage riecht momentan danach. Doch habe wir in den letzten Jahren so oft erfahren, dass diese nicht mehr als zwei, drei Monate anhielten, um dann ins Gegenteil zu kippen.

Oszillierung ist in diesem Zusammenhang mein Lieblinigsbegriff. Denn die Schweiz pendelt seit 1992 zwischen konservierenden und veränderungswilligen Strömungen, mal mehr durch das Linksliberale, mal eher durch das Nationalkonservative gekennzeichnet.

Claude Longchamp

Arena: Streit mit Kultur erwünscht!

Ich habe mir die ganze Arena-Sendung von gestern angesehen. Das war schon lange nicht mehr der Fall. Es hatte auch mit der neuen Moderation durch Urs Wiedmer zu tun.

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Nur zu oft habe ich mich aus der “Arena” mit Reto Brennwald ausgeklinkt. Meist war ich ein Ab- und Zu-Schauer. Seine Sendungen hatten Tempo, ohne Zweifel. Sie waren angriffig, ebenso unbestritten. Aber sie war selten informativ. Die Einladungsliste verriet meist die Sendeabsicht. Unerwartetes kam selten, Brückenschläge eigentlich nie.

Heute weiss ich klarer, weshalb ich so häufig den aufgeregten Bildschirm gegen das Ruhekissen im Bett tauschte. Die Arena lebt von Rede und Gegenrede. Nicht von der Zwischenrede. Oder noch deutlicher: Bisweilen interventierte Brennwald für meinen Geschmack zu früh, bisweilen liess er die Leine viel zu lange. Am Schluss wurde ihm das zum Verhängnis.

Urs Wiedmer war bei seiner Feuertaufe in erster Linie fair: zu Martin Bäumle, dem GLP-Nationalrat, zu Beat Vonlanthen, den CVP-Staatsrat aus Freiburg, zu Heinz Karrer, dem CEO der Axpo Holding und zu Kaspar Schuler, dem Kampagnenleiter von Greenpeace. Jeder hatte seinen Stich, jeder kam mal in die Bedrouille.

Die 10 ExponentInnen in der zweiten Reihe kamen früh und mehrfach zum Zug. Das förderte die Vielfalt der Standpunkte, wie sie Geologen, Nuklearphysikerinnen, Kernkraftbetreiber, Beamtenkontrolleure, Interessenvertreter, Basisbewegte und BürgerInnen in der Kernenergie-Debatte vertreten.
Gelegentlich kam es sogar zu Kontroversen aus der Hinterhand. Schliesslich pflegt Wiedmer die Info-Spot mit Einspielungen, welche den Infogehalt erhöhten. Das belebte. Und die Einspielungen informierten.

Wie der Münsiger Fernsehmann bei der Entscheidung über Mühleberg II gestimmt hat, weiss ich nach der Sendung nicht – und verstehe das als Lob. Sein ganzer Habitus ist so zurückhaltend, dass nicht nur um die Personalia des Gesprächsleiters interessiert. Auch das ist von Vorteil. Typisch dafür, wie der Angespannte gestern gelassen reagierte, war der Aussetzer in der Vorstellungsrunde. “Jetzt bin ig haut grad druusgheit!”. as war ein Selbstkommentar ohne Marketing.

Wahrscheinlich wird man dem ehemaligen Lokaljournalisten jedoch genau das im Zürcher Medienhaifischbecken ankreiden. Denn da erwartet man von den Kampf der Titanen, spekuliert man schon mit dem Duell zwische Arena und Telezüri, und mag man Moderatoren aus der Provinz nicht wirklich. Urs Wiedmer kann sich darum scheren, wenn er dafür das Vertrauen der Regierungsrätinnen, National- und Ständerate findet, das so breit verspielt worden ist.

Was aus dem Neustart letztlich wird, weiss ich nicht. Kommentare auf der Website und Zuschauerzahlen sind das eine; Beiträge zur Debatte, die den Namen verdienen, das andere. Am besten wäre es, beides käme zusammen!

In der Arena der Zukunft wünsche ich mir Streit mit Kultur. Das ist alles andere als Fixierung auf Personen, Emotionen und Skandale. Streit mit Kultur ist für mich Polarisierung und Differenzierung, hat mit Ueberraschung und Information zu tun. Das alles soll die Aufmerksamkeit fördern, nicht der Sensation, sondern der Sache wegen!

Denn die Politik entwickelt sich heute auch ohne Arena in die kritisierte Richtung. Dem etwas gegenüber zu setzen, ist die Aufgabe der künftigen Arena. Wohl bekomm’s!

Claude Longchamp

Wahrscheinliche Trends in der Meinungsbildung bei Volksinitiativen

Seit 1998 führt das Forschungsinstitut gfs.bern für die SRG Abstimmungsumfragen durch. 2002 wurde das Vorgehen standardisiert, um die Ergebnisse zu den Meinungsverläufen im Vorlagenvergleich beurteilen zu können. Die Befragung zum “Schutz vor Waffengewalt” ist die 15., die nach diesem Muster untersucht worden ist. Das wahrscheinlichste, wenn auch nicht einzige Szenario ist der Aufbau der Ablehnung bei gleichzeitigem Rückgang der Zustimmung.

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Die Anwendung dieser Erkenntnis auf die Meinungsbildung zur Waffen-Initiative

Die Politikwissenschaft weiss über die Funktionen von Volksinitiative einiges. Ueber die Prozesse der Meinungsbildung bestehen dagegen Lücken. Die Untersuchungsreihe unseres Instituts für die SRG SSR Medien bietet deshalb eine willkommene Gelegenheit, einiges davon zu schliessen.

Eine erste Uebersicht über die 15 in den letzten 8 Jahren einheitlich untersuchten Volksinitiativen zeigt:

Erstens, die Meinungsbildung bei Volksinitiative ist häufig schon vor der Hauptphase fortgeschritten. Im Schnitt können 86 Prozent der Teilnahmewilligen BürgerInnen rund 50 Tage vor der Abstimmung eine vorläufige Stimmabsicht äussern. 14 Prozent sind im Schnitt ganz unschlüssig. Dieser Wert ist geringer als bei Behördenvorlagen.

Zweitens, die Stimmabsichten sind jedoch bei weitem nicht überall gefestigt. Das gilt namentlich für die Zustimmungsbereitschaft. Diese nimmt in der Regel während eines Abstimmungskampfes ab, während die Ablehnungstendenz in allen Tests zunahm.

Bei den meisten untersuchten Fällen kommt es also zu einem Meinungswandel. Eigentliche Meinungsumschwünge mit umgekehrten Mehrheiten zwischen erster Umfrage und Abstimmungstag kommen in etwa der Hälfte der Fälle vor.

Bekannt ist das Ausmass des Meinungswandels. Setzt er im beschriebenen Masse ein sind 11 Prozentpunkte Verringerung des Ja-Anteil in 40-50tägigen Kampagnen das Mittel, während sich das Nein im Schnitt um 25 Prozentpunkte erhöht. Die Maximalwerte wurden wurden 2003 bei der SP-Gesundheitsinitiative gemessen, wo sich das Ja um 22 Prozentpunkte reudzierte, und das Nein um 43 Prozent aufbaute.

Das eigentliche Gegenteil resultierte beim Gentech-Moratorium, wo es während der Kampagnen zu einem der seltenen Meinungsumschwünge zum Ja kam. Das Abstimmungsresultat lag im Ja 9 Prozentpunkte höher als in der ersten Umfragen.

Die Gründe hierfür sind noch nicht erforscht; sie müssten mittels Arbeitshypothesen geprüft werden; zu diesen zählen:

. Der Meinungswandel tritt als Folge einer intensivierten Beschäftigung mit der Vorlage ein.
. Der Meinungswandel reflektiert die unterschiedliche Intensität der Kampagnen Pro und Kontra.
. Der Meinungswandel ist eine Folge veränderter Problemdeutungen, die sich im Abstimmungskampf von jenen der Pro zu jene der Kontra-Seite verlagert.
. Initiativen scheitern an ihrer materiellen Schwachstelle.
. Ein klares parteipolitischen Profil erschwert es, eine breite Zustimmung zu halten.

Man kann vorläufig festhalten: Punktgenaue Prognosen lassen sich damit nicht machen. Jedoch ist es möglich, Trends in der Meinungsbildung nach Wahrscheinlichkeiten zu bewerten, und damit Szenarien der Zustimmungs- und Ablehnungsbereitschaften zu formulieren, welche die Unsicherheiten nicht beseitigen, aber einschränken.

Claude Longchamp

Alles wird gut. Alles ist Wut. Alles braucht Mut.

Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Stimmt nicht, finde ich heute, als ich über das Interview von Daniel Cohn-Bendit im gestrigen Bund nachdenke.

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Daniel Cohn-Bendit, 65, wurde 1968 als Wortführer der Pariser Studenten bekannt. Seit 1994 verritt er abwechslungsweise die deutschen und französischen Grünen im EU-Parlament, gegenwärtig als Co-Vorsitzender der Fraktion.

Die Lage sei prekär, diktiert er den Schweizer Journalisten in Strassburg ins Notizbuch. In der Gegenwart sei vieles durcheinander geraten. Dennoch höre er nicht auf, an die Vernunft in der Politik zu glauben. Hätte er das nicht mehr, würde er sich lieber auf eine Insel zurückziehen und einen Joint rauchen.

Sichtbarer Ausdruck der Veränderungen sind verschiedenartige populistische Strömungen. Zu diesen zählt Cohn-Bendit die Lega Lombarda. Deren Bewusstsein sei: “Ich zuerst – ich allein.” Er macht aber auch vor den eigenen Grünen nicht Halt: “Mein Bauch ist mir und meine Angst ist alles”, sei zum eigentlichen Slogan geworden.

Ein wichtiger Hintergrund sei die Migrationspolitik. 40 Jahre lange habe man keine betrieben, auch keine Integrationspolitik, spitzt Cohn-Bendit zu. Die Rechte habe nicht gewollt, und die Linke alleine nicht gekonnt. Jetzt bezahle man für die Angst der BürgerInnen.

Die Finanzkrise übersteige letztlich die Vorstellungskraft der Menschen, analysiert der Alt-Linke. 10 Prozent Rendite jedes Jahr habe Konsequenzen. Angesichts der globalen Wirtschaftskrise würden sich Christ- und Sozialdemokraten nur noch in kurzfristige Massnahmen wie Bankenschirmen überbieten. Das habe das Schlimmste vermieden, aber die Renationalisierung des Denkens gefördert.

Das Gebot der Stunde sei, für Europa einzustehen, etwa mit einer europäischen Anleihe, um gemeinsame Projekte wie die Energiezukunft voranzustreben. Wenn viele Politiker das nicht mehr wollten, seien Medien wie die britischen Schuld, weil sie die Angst der BürgerInnen instrumentalisierten, um vor Wahlen Politik zu machen, hinter denen eigene Interessen stünden.

Auch die Schweiz schont Cohn-Bendit nicht. Sie müsse lernen, einen verfassungsmässigen Rahmen zu respektieren, denn sie nicht alleine bestimme. Tue sie das nicht, werde sie in Probleme geraten. Denn in dieser Frage gäbe es kein Abrücken von Verfassungsgesellschaften. Denn nur diese würden das Volk vor sich selber schützen.

Und an die eigene Klasse gerichtet, sagt der Politiker: Die Wut der BürgerInnen in Europa sei verständlich. Man müsse ihr jedoch mit Vernunft begegnen. Und mit Zeit. Die klassische Parteiarbeit nähme pro Tag 27 Stunden in Anspruch. Deshalb fehle den PolitikerInnen der Freiraum, sich selber um die Gesellschaft zu kümmern.

Ich ertappe mich heute , wie ich Vieles von dem, was ich gestern Morgen las, auch denke. Es tritt das Ganze, auch wenn die Details flapsig ausgeführt sind. Nicht nur in der EU, auch in der Schweiz.

Das sind die Thesen:
Erstens, die Finanzmarktkrise und ihre Folgen überfordern die BürgerInnen.
Zweitens, die Politik wird getrieben, ist nicht treibende.
Drittens, Medien greifen direkt in die Politik ein.
Viertens, es gibt einen neuen Nationalismus.
Fünftens, jeder rettet, was er kann.

“Alles wird gut!”, versprechen die Optimisten. “Alles wird zu Wut”, kontern die Pessimisten. Alles braucht Mut, füge ich als Realist bei.

Claude Longchamp

Demokratisch – autokratisch

Kriegsdrohungen aus Nordkorea.
Geplünderte Staatskasse im Tschad.
Verhaftungen der Oppositionsführer in Weissrussland.
Strenges Mediengesetz in Ungarn.
Misstrauensvotum in Italien.

Das alles sind schlechte Nachrichten für die Politik – gesammelt in nur ein Woche. Dabei machen immer wieder Zweifel an der Demokratie die mediale Runde. Schnell ist von Diktaturen die Rede, von autoritären Regierungen und undemokratischer Kultur. Was ist davon zu halten?

Demokratieindex (gemäss Economist) 2010

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grün: Demokratien, organge: Hybridsysteme, rot: Autokratien, Quelle: Demokratieindex

Die Politikwissenschaft hat mehrere Messinstrumente entwickelt, um die Evidenz solcher Einschätzungen prüfen zu können. Sie alle basieren auf der Idee, dass Demokratie nicht einfach besteht, sondern anhand von Kriterien bestimmbar ist.

In der einfachsten Variante wird zwischen zwei Systemtypen unterschieden: Demokratie und Autokratien. In der verfeinderten Variante ist der Uebergang nicht statisch, sondern werden verschiedene Uebergänge dynamisch konzipiert.

Aus meiner Erfahrung gut brauchbar ist der Demokratie-Index des Economist. Er basiert auf 5 Indikatoren, die Demokratie empirisch bestimmbar machen:

. der Ausgestaltung von Bürgerrechten
. dem Pluralismus im Wahlrecht
. der Funktionsweise der Regierung
. der Partiziaption der Bürgerschaft und
. der Entwicklung der politische Kultur.

Die fünf Einzelbeurteilung werden zu einem Gesamtindex verrechnet, der von 0 bis 10 reicht. In der Folge werden die Staaten in 4 Gruppen eingeteilt: vollwertigen und mängelhafte Demorkatien, Hybridsysteme und Autokratien.

2010 galten 79 der 168 bewerteten Staaten (48%) als Demokratien, 16 Prozent als vollwertige und 32 Prozent als mangelhafte. 33 waren Hypbridsystem (20%), und 55 Autokratien (32%). In Prozent der Weltbevölkerung lebt genau die Hälfte in einer Demokratie.

Die fünf zu Beginn heraus gegriffenen Staaten werden sehr unterschiedlich bewertet: Nordkorea gilt als das undemokratischste oder autokratischste Regime der Gegenwart. Das trifft praktisch im gleichen Masse auch auf den Tschad zu. Nur unwesentlich besser klassiert wird Weissrussland. Es zählt ebenfalls zu den Autokratien.

Ungarn und Italien gelten dagegen als mangelhafte Demokratien. In Italien wird die Funktionsweise der Regierung kritisiert, verbunden mit der eingeschränkten Bürgerpartizipation. In Ungarn kommt eine wenig entwickelte demokratische Politkultur hinzu.

Die politischen Systeme beider Länder sind aber einiges davon entfernt, bereits als Hybridsysteme zu gelten, indenen sich eindeutig demokratische und autokratische Elemente mischen. Treffender ist es, von Fehlern im demokratischen System zu sprechen.

Ich bringe das nicht auf, um die Probleme in Italien oder Ungarn schön zu reden. Ich bin aber überrascht, wie schnell journalistische Urteile auftreten und in den politischen Alltagsdiskussionen aufgeben. Ihnen mangelt es nicht selten an Uebersicht – über die ganze Spannweite der Ausprägungen politischer Systeme und die Positionierung einzelner Länder in dieser Landschaft.

Da finde ich, hat die theoretisch und empirisch angeleitete Betrachtungsweise der Demokratiemessung, wie sie die Politikwissenschaft entwickelt hat, klare Vorteile.

Claude Longchamp

PS:
Die Schweiz befindet sich regelmässig unter den 10 Top-Demokratien. Bemängelt wird einzige die zu wenig ausgeprägte BürgerInnen-Partizipation bei Wahlen. Ganz oben ist dieses Jahr Norwegen – eine konstitutionelle Monarchie mit parlamentarischem System …

Die Sorgen der SchweizerInnen – gestern, heute und morgen

Mögen Sie sich noch erinnern an 1977? Genauer an den Chiasso-Skandal bei der Credit Suisse? Nicht! Dann fasse ich das Wesentliche und die Folgen hier schon mal zusammen.

Mitarbeiter dieser Tessiner Filiale der damaligen Schweizerischen Kreditanstalt hatten in grossem Stil in Italien Gelder angeworben gehabt und in undurchsichtige Gesellschaften nach Liechtenstein verschoben. Alles das aufflog, resultierte ein Verlust von 1,7 Milliarden Franken – für die seinerzeigigen Verhältnisse der grösste Verlust für die Bank. Das Ganze blieb nicht ohne Folgen: Die Nationalbank und die Schweizerische Bankiervereinigung beschlossen eine neue Sorgfaltspflichtvereinbarung. Und unter dem Druck dieser Krise brach die SKA zu neuen Ufern auf und wandelte sich in der Folge vom Zürcher Traditionsinstitut zum internationalen Finanzdienstleister.

Tagesschau vom 17.12.2010

Doch damit nicht genug: In der Schweiz startete die SKA eine Offensive, um neues Vertrauen zu gewinnen. Dazu gehörte auch die Modernisierung des hauseigenen Bulletins, dem weltweit ältestesten Mitteilungsblatt eines Bankeninstituts. Bei dieser Gelegenheit wurde das Sorgenbarometer geworden. Eine repräsentative Umfrage bei SchweizerInnen sollte jährlich aufzeigen, wo im Alltag der Schuh drückte. Seit 1995 führt das Forschungsinstitut gfs.bern die Umfrage durch: heuer zum 15. Mal unter meiner Leitung.

Zu den Hauptergebnissen der Ausgabe 2010 zählen, dass Arbeitslosigkeit, die Zukunft der Sozialwerke und die Neuausrichtung des Gesundheitswesens als zentrale Herausforderungen angesehen werden. Angestiegen sind im aktuellen Jahr die Sorgen mit der EU, den AusländerInnen und der Sicherheit im eigenen Land. Gleichzeitig gewachsen ist das Vertrauen in eigene Sache. Die Schweiz wird unverändert als fähig angesehen, ihre Probleme selber zu lösen. Die globale Finanzmarktkrise hat diese Auffassung noch verstärkt. Wirtschaft und Politik sind gefordert, als Problemlöser aber auch akzeptiert.

Das Projekt Sorgenbarometer ist zwischenzeitlich diversifiziert worden; es hat nun drei Bestandteile, die alle vom Forschungsinstitut gfs.bern bearbeitet werden: die Sorgenwelt der SchweizerInnen insgesamt (wie heute dargelegt), das Lebensgefühl der Jugendlichen (Jugendbarometer, anfangs Woche erstmals publiziert) und das Selbstverständnis der Schweizer und SchweizerInnen (Identitätsbarometer, das in zirka 2 Monaten als Spezialbericht erscheint). Alle drei Unterfangen sollen Auskunft geben, wie sich die Schweiz fühlt, sieht und entwickelt – heute und mrgen. Die aktuelle Bestandesaufnahme habe ich über Mittag kurz vor den Prüfungen meiner Studierenden in den Hallen der Universität Zürich für die Tagesschau zusammengefasst.

Claude Longchamp

Die Dynamik der Stimmbeteiligung im Kanton Genf

Manchenorts spekuliert man über die Entwicklung der Stimmbeteiligung vor einer Volksabstimmung. In Kanton Genf ist alles ziemlich transparent. Interessant, aber auch nicht unbedenklich.

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Die Grafik zeigt, wie sich die Stimmbeteiligung im Kanton Genf vor der aktuellen Volksabstimmung am 28. November 2010 Tag für Tag entwickelte.

Spätestens am Donnerstag abend erhalte ich jeweils Hinweise, wie sich die Stimmbeteiligung in Gemeinde und Städten entwickeln könnte. Viel anfangen kann man damit meist nicht. Denn die Informationen sind in der Regel nicht kontrollierbar, und kommen auch nicht immer aus den gleichen Orten. So hat man zwar ein Kaleidoskop von Eindrücken, aber nicht mehr.

Ganz andere Wege geht seit einiger Zeit der Kanton Genf. Wenn das Wahlmateriale verschickt ist, und die Bulletins zurückkehren, zählt man jeden Tag aus, und die Ergebnisse zur Beteiligung werden alle 24 Stunden auf Internet aufdatiert – ganz offiziell.

Bei der aktuellen Abstimmung haben gestern nachmittag 48 Prozent ihre Stimme abgegeben gehabt. Am letzten Abstimmungswochenende waren es zur vergleichbaren Zeit 39, und beim vorletzten 43. Die Schlussmobilisierung in den beiden letzten Tagen bracht am 7. März noch 7 Prozent an die Urne, am 26. September noch 3. Uebertragen auf das kommende Abstimmungswochenende ergäbe das eine Beteiligung von 51-55 Prozent.

Für Genfer Verhältnisse zeichnet sich damit an diesem Wochenende eine hohe Beteiligung ab, die auch über dem langjährigen Mittel in der Rhone-Republik liegt.

Zudem legt diese Statistik nahe, dass bei Weitem nicht alle, sofort Stimmen gegangen sind, nachdem sie die Stimmunterlagen erhalten haben. In der zweiten Woche gingen am wenigsten, in der ersten etwa ein Drittel, und in der letzten könnte die Wochenbeteiligung die höchste werden.

Ob das verallgemeinert werden kann, ist noch etwas offen. Der Genfer Schnitt liegt seit Jahren über dem schweizerischen. In den beiden letzten Jahren betrug die Differenz 3-4 Prozent. Das wäre das ein Hinweise darauf, dass die Stimmbeteiligung auch gesamtschweizerisch hoch sein dürfte.

So spannend ich diese Datenquelle auch finde: Unproblematisch erscheint sie mir gerade in der letzuten Woche der Mobilisierung nicht. Denn nur solange es keinen Zusammenhang gibt zwischen Mobilisierung und Ausgang der Entscheidungen, sind das neutrale Abstimmungsinformationen. Wenn das aber nicht der Fall ist, gibt es auch Hinweise auf bevor- und benachteilte Akteure bei den einzelnen Entscheidungen.

Claude Longchamp

Von unseren verschiedenen Seelen

Es ist ein höchst bemerkenswerter Artikel, den Hannes Nussbaumer heute im Tages-Anzeiger platziert hat. Selbstredend geht es um die Abstimmungen vom Wochenende, um die politische Kommunikation, und wie deren Macher die Sache sehen.

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Porträtiert wird Alexander Segert, der SVP-Werber und “Vater von Ivan S., dem wir in diesem Abstimmung allgegenwärtig begegnen. Segerts Rezept ist bekannt: “Keep it simple and stupid!” Konstrastiert wird alles durch Aussagen von Guido Weber, dem einzigen Werber, dem es bisher gelungen ist, Segert die Stange zu halten. Sein Rezept: Jeder habe sowohl eine Angst- wie eine Vernunft-Seele in der Brust. Massgeblich sei, welche davon beim Entscheidend dominiere. Die Richtige zu treffen, sei die Aufgabe einer guten Kampagne.

Solche Werberweisheiten hat meines Erachtens von Stephan Dahlem, einem deutschen Kommunikationsforscher, unter dem Titel “Wahlen in der Mediengesellschaft” am treffendsten untersucht. Seine Analyse ist: Bei Wahlen und Abstimmungen unterhalten wir uns sehr wohl über Sachen, die in unserem Alltag real sind: die Probleme in unserem sozialen Umfeld, den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung, das allgemeine politische Klima und die öffentliche Meinung. Doch machen wir bei weitem nicht nur aus der persönlichen Erfahrungen heraus, im Zwiegespräch mit Freunden, Arbeitskollegen und Nachbarn, sondern immer mehr aufgrund von Inhalten der Massenmedien. Damit wird unsere Realitäten durch Darstellungen von Realitäten überlagert, was zu einer Erweiterung, aber auch zu einer Standardisierung dessen führt, was kollektiv ist – oder sein soll.

Dahlem nennt das alles die externen Faktoren der Entscheidungen. Zu den internen gehören eigenen Vorstellungen: vom diskutierten Problem, von den angebotenen Lösungen, von den Folgen der Entscheidung, von den Trägern von Politik und Kommunikation. Bewertet wird dies durch unsere Parteibindungen, durch unsere Werte, unsere Ideologien, ja durch die in unserer Persönlichkeit verankerten Weltbilder. Bei Wahlen sind das unsere Bilder der Parteien und KandidatInnen, bei Abstimmungen der Volksinitiativen oder Gesetzesvorschläge.

Dahlems springender Punkt ist nun der: Zwischen der Vorstellung und der Darstellung vermitteln unsere Wahrnehmungsfilter, die nicht eindeutig sind. In der Fachsprache ist von Konationen, Emotionen und Kognitionen die Rede. Oder einfacher gesagt: von unseren Meinungen, unseren Gefühlen, und von unseren Informationen. Was bei der Entscheidung überwiegt, ist gar nicht so einfach vorherzusehen.

Genau da sind sich Kommunikationswissenschafter Stefan Dahlem und die Werber Weber oder Segert einig: Es ist aber die Aufgabe der Vermittlung von Themen der Entscheidung durch die Kommunikation, das in uns anzusprechen, was am klarsten zu einer Entscheidung führt. Wer das besser macht, löst Meinungsbildungsprozesse aus und hat die Chance, mit seiner Kampagne mehr herauszuholen, als von Beginn weg schon da war.

Oder anderes gesagt: Wir sind immer die Gleichen, die sich entscheiden. Wir sind aber immer Verschiedene, wenn wir in einem bestimmten Fall entscheiden. Oder wie es heute im Tagi steht: “Jeder habe sowohl eine Angst- wie eine Vernunft-Seele in der Brust. Entscheidend für den Abstimmungsausgang sei also, ob beim Ausfüllen des Stimmzettels die Angst oder die Vernunft dominiere. Ein Entscheid, den man mit einer guten Kampagne beeinflussen könne”.

Claude Longchamp

Kulturen des Misstrauens

Daniel Binswanger, einer der prominensten Intellektuellen unter den Schweizer JournalistInnen, analysiert im “Magazin” dieses Wochenendes die Entwicklungen der Demokratien im In- und Ausland. Ausgangspunkt ist die Kultur des Misstrauens, begründet durch Wirtschaftslage und Institutionenkrise. In meinen Kursen zu solchen Themen taucht regelmässig ein weiteres Thema auf, das Binswanger beredet umgeht.

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“Empörung” ist das Stichwort, mit dem der Essay von Daniel Binswanger beginnt. Dafür gibt es gute Gründe: die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit, die Angst vor Verarmung. Doch das alleine reiche nicht, um die gegenwärtigen Vorgänge in den USA, in Frankreich oder in Deutschland zu verstehen. Denn zur Ueberraschung vieler beschränke sich die neue Empörungskultur nicht auf Diktaturen. Vielmehr sei sie auch repräsentativen Demokratien eigen geworden.

Diese Regierungsform stecke in einer tiefgreifenden Krise, ist Binswangers These. Denn Hoffnung auf politische Steuerung der Herrschaft durch Wahl und Abwahl von PolitikerInnen reiche in vielen Sachfragen nicht mehr aus. “Der Bürger möchte die Mandatsträger präziser überwachen, als dies mit periodischen Wahlen möglich ist”, folgert der Autor – eine “Kultur des Misstrauens” skizzierend. Gefragt sei nicht mehr Repräsentation, sondern Partizipation.

Das sei für viele der Moment der Schweiz, stellt Binswanger fest. Es spreche einiges dafür, dass die Schweizer Volksrechte zur Zukunft der Demokratie einen Beitrag leisten würden. Denn bei allen Abstrichen im Einzelfall, unser Land könne im internationalen Vergleich bestehen, weil es die primäre Orientierung am Output durch die Möglichkeit erweitert habe, den Input mitzubestimmen. Das merke auch die EU, die ihre Entscheidungsprozesse durch ein eigenes Initiativrecht erweitern will.

Doch, so Binswanger, das politische System der Schweiz sei nicht frei von ähnlichen Probleme. Zwei Sachen fallen dem Analytiker auf: die Zunahme von Volksinitiativen, positiv bewertet, und Aushölung des Milizsystems, das Negative für den Autor. Ersteres werde durch den neuerlichen Erfolg von Volksbegehren beflügelt, letzteres durch den Personalmangel an der Basis ausgelöst. Zugespitzt könne man sagen, auch hier verdränge die direkte Demokratie die repräsentative.

Zahlreiche dieser Beobachtungen und Folgerungen tauchen auch in meinen Kursen zur gegenwärtigen Politik, zum Zustand der Demokratie und zur Volksherrschaft regelmässig auf. Doch fällt mir eines auf: Journalist Binswanger macht einen riesigen Bogen um das Verhältnis von Medien und Demokratie, zur veränderten Beziehung von Oeffentlichkeit und Institutionen. Genau das ist heute aus keiner Diskussion mehr wegzudenken, seien es so verschiedene Gruppen wie LehrerInnen, PR-Fachleute oder auch PolitikerInnen.

Alle fühlen sich von den Medien abhängig. Die Lehrer können ihr Programm nicht einhalten, weil sie sich mit den Themen in “20 Minuten” befassen müssen. Die OeffentlichkeitsarbeiterInnen beklagen sich, dass ihre Botschaften gar nicht mehr gehört werden. Und die PolitikerInnen fühlen sich von den Medien getrieben.

Diese, nicht die WählerInnen geben die Themen vor, stecken den Rahmen von Lösungen ab und lenken die Meinungsbildung in den Institutionen. Entscheidend sei heute das Bild, die Person, die für etwas steht, nicht mehr aber die Sache selber. Das lenkt die institutionelle Politik von Lösungen ab, führt zum Managament von Impressionen. Meine Gewährleute sagen mir auch, dass die Wut der BürgerInnen von einem politisch-medialen Verbund instrumentalisiert werde, um Empörungen kurz vor Entscheidungen aufleben zu lassen, der inszenierte Protest aber ebenso schnell wieder verschwinde, wenn die Entscheidung einmal gefallen sei. Das alles verstärke den Eindruck der Beliebigkeit und Zufälligkeit der Politik, ja, es erzeugt oder verstärkt jedenfalls die Kultur des Misstrauens. Auch in unserer Demokratie.

Schade, dass ein so kritischer Zeitgenosse wie Daniel Binswanger diese selbstkritischen Reflexionen in seinem Essay nicht miteinbezieht, um so, Nähe zur Sache, aber auch Unparteilichkeit in der Analyse zu erlangen, wie es der im Artikel mehrfach zitierte Pariser Politologe Pierre Rosanvallon eigentlich vom Analytiker einfordert.

Claude Longchamp