Wahlprognose für den Kanton Zürich – durch die Journalistenbrille gesehen

Die Listen und KandidatInnen für den Nationalrat sind in allen Wahlenkreise bekannt. Jetzt beginnt das Rätselraten zu Sitzgewinnen und -verlusten. Die NZZ macht den Anfang – für den Kanton Zürich.

“Nur wenige Verschiebungen in der Zürcher Abordnung für den Nationalrat in Sicht”, übertitelt die NZZ vom Samstag eine ganzseitige Auslegordnung zu denkbaren Sitzverschiebungen im grössten Wahlkreis bei den anstehenden Wahlen. Legitimiert wird das Ganze durch ein Interview mit dem Kantonsstatistiker Peter Moser, das die Seite mit der Schlagzeile “Träges Parteiengefüge” firmiert (beides nicht online).

Da war, vermute ich mal, der Wunsch des Zeitungshauses der Vater der journalistischen Leseweise. Denn die nachgeschobenen Fakten sind anders:

Prognose von Peter Moser (leider auf seiner website nicht dokumentiert) zur Verteilung der 34 Zürcher Sitze im Nationalrat

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Im Detail verrät sich Redaktor Stefan Hotz gleich selber: Denn sollte die GLP bei ihrer zweiten nationalen Kandidatur drittstärkste Kraft im grössten Kanton der Schweiz werden, wäre das auch in seinen Worten “ein historischer Erfolg”. Und sollte die CVP 2 ihrer 3 Sitze einbüssen, was er nicht ausschliesst, nennt er das vorsorglich schon mal “ein historisches Debakel”.

In der Tat: Zeitgenössisch auffällige Veränderungen in der Parteienlandschaft der Schweiz zeigten sich in Zürich meist früher und deutlicher: So der Niedergang des Wirtschaftsfreisinns, so die Polarisierung zwischen SVP und SP, so der Aufstieg und der Zwist der Grünen, so die CVP, die sich im urbanen Raum platzieren will.

Selbst Rene Zeller, Inlandchef der NZZ, nennt die politischen Verhältnisse in seinem Porträt zum Kanton Zürich ganz einfach “volatil” – zu deutsch: veränderlich. Das wäre meines Erachtens die bessere Einschätzung gewesen, und auch Grund, statt Sicherheit zu vermitteln, den Unsicherheiten nachzugehen. Denn die kantonalen Wahlen im Frühling sind verführerisch nahe an den nationalen, sodass man die Ergebnisse nur zu gerne überträgt. Doch gibt es drei Unterschiede, mindestens 2011:

. zunächst die Beteiligung, die national viel höher ist als kantonal, was gerade die Angaben für SVP und SP unsicher macht;
. dann das Wahlrecht, das kantonal und national bezüglich der Sitzverteilungen ungleich wirkt, indem die kleinen kantonal profitieren;
. und schliesslich das politische Klima, dass sich seit dem April erheblich verändert hat, dominiert doch nicht mehr der Reaktorunfall in Fukushima das politischen Klima, während heute der starke Franken, die Aengste zu Arbeitsplatzverlagerungen und die Bocksprünge des Investmentbanking den Rahmen der Wahl abgeben.

So schliesse ich: Besser als journalistisch-auktorial Ruhe verbreiten zu wollen, wäre es gewesen, die dieser Parameter Wirkungen auf grüne, linke, rechte und Zentrumsparteien aufzuzeigen.

Claude Longchamp

Wer im Parlament wieviel Kapital vertritt.

FDP und CVP konzentrieren 92 Prozent des Kapitals, das via Firmen und Stiftungen im Parlament vertreten ist, auf sich. Sie machen auch die Mehrheit der Mandate aus, obwohl sie nur eine Minderheit der ParlamentarierInnen stellen.

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Die 246 eidgenössischen ParlamentarierInnen vertreten zusammen 2045 Verwaltungs- und Stiftungsratsmandat. Trend: um rund 7 Prozent pro Jahr wachsend. Das berichtet die Firma Credita aufgrund einer aktuellen Zusammenstellung der relevanten Daten aus dem Parlament.

Die FDP-ParlamentarierInnen vereinigen 583 der Mandate auf sich. Es folgt die Zentrumsfraktion aus CVP, EVP und GLP mit 565 Mandaten. Mit deutlichem Abstand reihen sich die SVP (389 Mandate) und SP (310 Mandate) ein. gefolgt von der GPS (139 Mandate) und der BDP (59 Mandate).

Bezogen auf das Kapitel liegt die Zentrumsfraktion einsam an der Spitze. 62 Prozent der kapitalisierten Mandat sind in ihren Händen. Die FDP bringt es auf 29 Prozent, gefolgt von SVP und BDP mit je 4 Prozent. Die rotgrünen ParlamentarierInnen kommen vereint auf 1 Prozent

Spitzenreiterin bei den Mandaten sind im Nationalrat Steuerexperte Paul-André Roux (CVP/VS) und im Ständerat Felix Gutzwiller, Universitätsprofessor für Medizin und Institutsleiter (FDP/ZH). Beim vertretenen Kapital rangiert in der Volksvertretung die Anwältin Gabi Huber (FDP/UR) an der Spitze, während Jean-René Fournier (CVP/VS) in der Kantonsvertretung zuvorderst ist. Letzteres ist auf seine Funktion als Senior Advisor bei der Credit Suisse zurückzuführen.

Im Schnitt vertritt ein Ständerat/eine Ständerätin 11 Firmen oder Stiftungen oder 190 Millionen CHF Kapital. Bei Nationalrat liegen die Werte etwas tiefer. Konkret sind es 8 Frmen und knapp 21 Millionen Kapital.

Markant sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Ein Mann kommt auf 9 Mandate und 65 Millionen Franken Kapitalvertretung, eine Frau auf 7, mit knapp 14 Millionen CHF Gegenwert. Das bleibt im Wesentlichen so, auch wenn man die Spitzenreiter weg lässt.

Die Credita, welche die Studie durchgeführt hat, schreibt im Kommentar, dass die Nähe zu Unternehmen und Stiftungen ein Phänomen ist, dass nicht ausschliesslich, aber weitgehend bei FDP und CVP vorkommt. Die 41 Prozent ParlamentarierInnen dieser Fraktionen haben 56 Prozent der Mandate in, und sie konzentrieren 92 Prozent der Kaptials in ihren Reihen. Selbst SVP und BDP haben da wenig zu bestellen. Im Vergleich dieser beiden Parteien fällt auf, dass durch die Spaltung 2008 rund die Hälfte der untersuchten Wirtschaftsverbindung weggefallen sind.

Die Verteilungen, über die hier berichtet wird, ist typisch. Zunächst gibt es eine Anziehungskraft auf die gemässigten bürgerlichen Parteien. Dabei liegen je nach Aspekt die CVP resp. die FDP vorne. Die hat mit ihrer Programmatik zu tun. Dann kann man aber festhalten, dass die MedianpolitikerInnen besonders stark vertreten sind, nicht zuletzt, weil sie die MehrheitsbeschafferInnen in umstrittenen Entscheidungen sind.

Mit der vorliegenden Untersuchung ist die Transparenz erhöht und systematisiert worden. Nichts gesagt wird damit über das Stmmverhalten im Parlament. Dieses wurde in Abhängigkeit dieser Unterlagen noch nie untersucht. Und es wäre das einzig interessante. Denn ein Parlament, indem keine Interessen vertreten werden, ist wohl eine Fiktion. Ob es auch eine Fiktion ist, dass die Interessenvertretung keinen Eigennutzen bringt, ist noch zu untersuchen. Ein spannendes Forschungsthema, füge ich da für Studierende der Politiwissenschaft bei.

Claude Longchamp

Ist direkte Demokratie ein Exportprodukt der Schweiz?

Regelmässig werden PolitolgInnen eingeladen, über die direkte Demokratie der Schweiz im Ausland oder vor ausländischen PolitikerInnen zu referieren. Das Interesse ist steigend, namentlich in Deutschland, wo “Stuttgart 21” das Nachdenken über Volksentscheidungen befördert hat. Meine sieben Statements in dieser Sache im Ueberblick.

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Eines ist klar: Nirgends auf der Welt wird so viel abgestimmt wie in der Schweiz. Immer deutlicher wird aber auch, dass das Ausland aufholt. Heute gibt es in einem Durchschnittsjahr bereits mehr Volksentscheidungen im Ausland als in der Schweiz. Und so stellt sich die Frage: Ist direkte Demokratie d a s politischen Exportprodukt aus der Schweiz?

In meinen Ausführungen hierzu merke ich zunehmend, dass politische System nicht einfach übertragen werden können. Auch wenn wir PolitologInnen sie abstrakt-theoretisch nachzeichnen, sie sind gewachsen, aus den gesellschaftlichen Kräften, den zurückliegenden Konflikten und den Lösungen, die sich exemplarisch daraus ergeben haben. Strukturen des Staates, ja selber der Entscheidungsprozesse und der Politikprogramme haben ihre Entsprechungen in den Kulturen.

GegnerInnen der direkten Demokratie gebrauchen diesen Hinweis gerne, um die Nicht-Uebertragbarkeit politischer Institutionen zu betonen. Entweder folgt man dem klassisch parlamentarischen oder bekannten präsidentiellen System, oder aber man entscheidet sich für das direktdemokratische.

Das Argument greift meines Erachtens zu kurz. Denn auch die Schweiz war nicht von Beginn weg ein direktdemokratisches System, sondern hat sich vom parlamentarischen hierzu gewandelt. Aus diesem Prozess des Wandels kann man einiges aus den Schweizer Erfahrungen lernen, ohne fixfertige Antworten zu kriegen.

Erstens, Experimente mit Volksentscheidungen in parlamentarischen Systemen sind in kleinen politischen Einheiten einfacher als in grossen. Daraus folgt, dass direkte Demokratie lokal und in Gliedstaaten eingeführt und erprobt werden sollte, bevor es auf nationalstaatlicher oder gar supranationaler Ebene zur Anwendung kommt.

Zweitens, Volksentscheidungen sind nicht da, um Probleme zu lösen, bei denen der parlamentarische Prozess versagt hat. Sie sind da, um BürgerInnen-Partizipation in der Sache zu fördern. Das ist der Kern einer vorausschauenden Institutionenpolitik, die nicht zur Reparaturwerkstätte verkommen darf. Sonst misst man direkte Demokratie an übertriebenen Einzelerwartungen.

Drittens, namentliche Parteien müssen lernen, mit direkter Demokratie umzugehen. Denn die ausschliessende Macht der Fraktionen wird mit Volksentscheidungen klar relativiert, während der Umgang der Parteien mit BürgerInnen-Anliegen auch ausserhalb von Wahlen gestärkt wird. Das muss parteiintern in eine Balance gebracht werden, was den Oppositionsparteien einfacher fällt als Regierungsparteien.

Viertens, auch Medien müssen für die direkte Demokratie gewonnen werden. Denn ohne ihre anspöruchsvolle Informationsarbeit sind BürgerInnen-Entscheidungen nicht möglich. Medien können davon auch profitieren, enn sie bei Volksabstimmungen in einen direkten Dialog mit ihrer Kundschaft treten. Diese empfängt nicht nur, sondern auch sendet auch, spätestens mit dem Entscheid selber.

Fünftens, in einem grösseren Zusammenhang geklärt werden muss, welche Instrumente der direkten Demokratie unter gegebenen Bedingungen Sinn machen. Der Referendumstyp ist ein Bremse, die je nach Ausgestaltung mehr oder minder stark sein kann, aber immer als Korrektiv zum Parlamentsentscheid wirkt. Der Initiativtyp ist ein Gaspedal, mit dem die Bürgerschaft Ideen im Entscheidungsprozess initiieren oder auch einbringen kann. Eine Kombination von beidem erhöht die Akzeptanz in verschiedenen politischen Lagern.

Sechstens, festgelegt werden müssen die Spielregeln: Ob Bürgerbewegungen, die Volksentscheidungen verlangen, ideell, finanziell und infrastrukturell unterstützt werden sollen oder nicht, muss klar geregelt sein. Denn damit definiert man auch, ob Parteien weitgehend alleine, oder auch Interessenverbände und Bewegungen als TrägerInnen von Volksrechten werden sollen.

Und siebtens, direkte Demokratie kann, einmal eingeführt, kaum mehr zurückgenommen werden. Sie wird zu einem dauerhaften Element in der Entscheidfindung, und sie verändert diese auch – denn keine Regierung, kein Parlament verliert gerne in Volksabstimmungen, weshalb sie mit Volksrechten “responsiver”, aufmerksamer werden, für das was ausserhalb von Parlamenten geschieht.

Oder anders gesagt: Volksrechte kann man nicht einfach verpflanzen. Ihre Instrumente sind keine Exportprodukte. Sie sind aber eine Expertidee. Man kann die Bestrebungen dazu aber befördern, auch mit den guten und weniger guten Erfahrungen, welche die Schweiz hierzu gemacht hat – um Fehler zu vermeiden und schneller zu brauchbaren Lösungen zu kommen.

Claude Longchamp

Liebe Fachfrau für Kommunikation.

Nach deinem Insistieren in Sachen Sinus-Milieus versuche ich es nochmals. Beispielhaft, um das Abstrakte einzubetten, und direkt, um auf deine brennenden Fragen einzugehen. Lass uns schweben, von deinen Reiseplänen, über das Transfigurative in der Gesellschaft bis hin zur Pragmatik von Milieustudien.

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Wem streng empirische Studie zu abstrakt sind, wenn es um die (nahe) Zukunft geht, der (oder die!) wird bei Matthias Horx wohl fündiger, denn er beschreibt konkret, wie Wandel, auch soziokultureller menschengemacht vorkommt.

Das Einfache der eigenen Biografie
Beginnen wir mit einem Gedankenspiel. Wohin gehst du in die Ferien? War das immer so? Was hat sich geändert, seit du Studentin der Biochemie wurdest? – Ich nehme an: viel. Denn die Ferienwahl ist ein Teil der biografischen Entwicklung, auf der Suche nach Identität, in Verbindung mit der Berufskarriere, und stark abhängig von der familiäre Situation. PsychologInnen würden sagen, Ferienwahl hat etwas mit dem Lebenszyklus zu tun, indem man steckt.

Du siehst, individuell kann sich viel ändern. Aendert sich deshalb auch gesellschaftlich etwas? Nicht zwingend, ist die Antwort der Demografen. Denn wenn eine Gesellschaft gleich komponiert bleibt, ersetzen neue Individuen alte, doch die Gesellschaft als Kollektiv bleibt sich gleich. Denk an einen Ameisenhaufen, der immer gleich aussieht, auch wenn einzelne Viecher sterben oder geboren werden.

In westlichen Gesellschaften ist das aber nicht so. Die Alterspyramide ist in erheblicher Veränderung begriffen. Es stehen immer mehr ältere Menschen immer weniger jüngeren Gegenüber. faktisch bekommen wir eine Alterskerze. Unser Gedankenspiel in der heutigen Gesellschaft bedeutet deshalb: die Themen im Lebenszyklus, die einem höheren Alter verbunden sind, werden zahlreicher, jene der jüngeren werden verringert. Gesamtgesellschaft ändert sich etwas.

Das Komplizierte der Generationen
Faktisch ist alles aber noch komplizierter. Denn die neuen Jungen finden auch andere Lebensbedingungen vor als ihre Vorgänger-Jungen: Es ist kein Krieg mehr, der Konsum aus Prestigegründen ist gesättigt und die Rebellion der 68er ist vorbei. Dafür spricht man von Individualisierung, von Multioption, von Genuss, von Flexibilität, von Unsicherheit, kurz von einer Hybridkultur, mit der man zu Rande kommen müsse. Das alles prägt(e) ganze Generationen. Diese definieren sich daraus, dass sie neue Antworten auf neue Fragen geben. Sie grenzen sich damit von den vorhergehenden Generationen ab. Generationen entstehen nicht jedes Jahr neu, auch wenn das Marketing das so sieht. Vielmehr gibt es zyklisch neue Generationen, die man teilweise erst im Rückblick wirklich unterscheiden kann.

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Treiber des soziokulturellen Wandels in der transfiguralen Gesellschaftskonstellation (Quelle: Horx: Wandel)

Was wir nun haben, müssen wir noch interkulturell differenzieren. Margaret Mead, die grosse amerikanische Anthropologin des 20. Jahrhunderts untersuchte in ihrer Schrift “Der Konflikt der Generationen” verschiedenste Kulturen dieser Welt. Sie kam zum Schluss, dass es drei typische Konstellationen gibt im Verhältnis von Kindern und Eltern:

. die postfigurative Konstellation, die sich an der Vergangenheit orientiert, in der die Eltern ihre Werte auf ihre Kinder übertragen konnen, die wenig flexibel ist und in der Generationeneffekte kaum identifiziert werden können,
. die konfigurative Konstellation, die sich an der Gegenwart ausrichtet, wo die Kinder nicht einfach die Eltern nachahmen, sondern sich an den Antworten der Gleichaltrigen ausrichten, die deshalb flexibler sind, und in denen eigentliche Generationen von Kindern, Jugendlichen und Eltern ersichtlich werden.
. und die präfigurative Konstellation, die auf die Zukunft gerichtet ist, weil die Kindern den Wandel schneller aufnehmen als ihre Eltern, diese fordern und lehren. Solche Gesellschaften sind nicht nur flexibel, der soziale Wandel wird durch die Jugend vorangetrieben.

Machen wir auch hier ein Beispiel: Wählst du gleich wie Deine Eltern? In einer durchunddurch postfigurativen Kultur würden hier alle mit “Ja” Antworten. Das ist heute bei den konfessionell gebundenen Parteien, der CVP und EVP auch noch überwiegend der Fall. Bei allen anderen kommt es nur noch minderheitlich vor. Weil es Generationenbrüche gibt, mit denen man, aus einem FDP-Haushalt stammend, nun SP wählt, oder weil man genug hat von der CVP, welche die Schweizer nicht genug hochhält und nun bei der Jungen SVP ist. Das ist typisch für die konfigurative Konstellation. Die Diskussionen unter Gleichaltrigen übertreffen die Wirkungen des familiären Mittagstisches.

Das Komplexe an der Zukunftsgesellschaft

Anhand der neuen Medien kann man sogar noch weiter gehen. Die Kids der etablierten Manager sagen ihrem Vater, wenn seine Firma nicht bald twittert, auf facebook ist, dann werde sich von der eigenen Geschichte eingeholt werden. Denn dann würden sie, die Kids, in den social media über die Firma berichten. Das ist typisch präfigurativ.

Vielleicht wird daraus sogar mehr: Der Zukunftsforscher Matthias Horx (“Das Buch des Wandels”) hat die bisher höchste Komplexität der Analyse angetönt: Bis 1968 waren Gesellschaften wie die schweizerische postfigurativ, wurden dann konfigurativ, und entwickeln sich heute zum präfigurativen. Für die Zukunft sieht er eine transfigurative Konstellation aufkommen, in der sowohl die Medien wie auch der Wächterrat von Bedeutung sein werden:

. die Medien mit ihren Vorbildern (Roger Federer, Paris Hilton oder Christoph Blocher), die Grundorientierung von leistungsorientierten, erfolgsverwöhnten Sportlern, von Tussis, die keinem sexuellen Experiment abgeneigt sind, aber auch von nationalkonservativen Patriarchen, für die Wirtschaft wie Politik Status ist, in die ganze Gesellschaft transportieren und Milieus tendenziell auf (denn wir alle werden ein wenig hybride Gesellschafts- und PolitikkonsumentInnen) auflösen,

. sodass es soziokulturelle Wächterräte braucht, die über die Familien hinweg für ordnende Leitbilder in der Mediengesellschaft sorgen: die Eliteschulen wie die HSG für angehenden Leader, das Opus Dei, um die katholische Kirche vor dem Zerfall zu retten, und die SVP, die abschliessend definiert, wer eine guter Schweizer ist und wer nicht. Damit sind sie in der Definition des soziokulturellen Wandels erheblich, beeinflussen bisherige Milieus oder lassen auch neue entstehen!

Das Pragmatische von Milieustudien

Die Milieu-Studien der Socio Vision, über die wir uns ja unterhalten haben, sind ein Kombi von dem. Sie beobachten Menschen in ihrem Lebenszyklus. Sie beschreiben aber auch den kulturellen Wandel ganzer Gesellschaften. Dabei interessieren sie sich für drei Sachen: die Schichten, die sich ändern (aufgrund von Ausbildung, Alterung und Migration), und die Grundhaltungen, die sich beschreiben lassen. Jede(r) von uns hat da seine Position, idealtypisch mitten in einem Milieu, oder als Mischgruppen am Rande von Milieus. Die Zuordnung kann sich im Verlaufe eines Lebens ändern, muss sich aber nicht. Aenderungen sind bei hoher Mobilität, räumlich oder sozial zu erwarten: So beginnt man beispielsweise als Eskapist, wird zum Postmateriellen und endet bei den Arrivierten. Es ändern sich aber auch Milieus. In Deutschland, weil die DDR mit ihrer Milieu-bildenden Kraft der Geschichte angehört, in der Schweiz, weil die Arbeiterschicht nicht einfach mehr arm und links ist, sondern sich konsumorientiert an der Mittelschicht ausrichtet und politisch national denkt.

Der Vorteil von Milieustudien, wie sie hier diskutiert wurden, liegt darin, dass sie komplex genug sind, um der sozialen Realität einigermassen gerecht zu werden, aber auch nicht überkomplex sind, sodass sie zu keinerlei Anwendung führen. Es sind Forschungsprojekte, für die Praxis gedacht, also für dich, nicht für die Grundlagenforschung. Die ist zwar auch am Thema dran, neigt aber dazu, zu stark zu verallgemeinern. Wenn du dich selber überzeugen willst, lies das Buch von Gerhard Schultze, “Die Erlebnisgesellschaft”, der sich mit den gleichen Phänomenen beschäftigte, wohl aber weniger konkrete Angaben machen konnte.

So, ich hoffe, du verstehst mich jetzt besser.

Claude Longchamp

Made to stick!

Ich war an einem Seminar über Erscheinungsbilder von Unternehmen in der Oeffentlickeit. Der CEO einer europäischen PR-Gruppe referierte über wirksame und unwirksame Kommunikation von Firmen. Mit Vorliebe verwies er auf einen Bestseller, der ihn beeindruckt hatte: “Make to stick“, heisst er, verfasst von den Gebrüdern Chip und Dan Heath und in der amerikanischen Presse über allen Klee gelobt.

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Das Buch hat nicht nur Erfolg. Es baut förmlich auf SUCCES aus. Das ist nämlich die Kurzform das Grundverständnis wirksamer Kommunikation:

simple
unespected
concrete
credible
emotional

sollen Botschaften in der Oeffentlichkeit sein, und sie sollen

stories

erzählen. Abgekürzt ergeben die sechs Beinflussungsmöglichkeiten S-U-C-C-E-S, und sie garantieren Erfolg.

“Sticky” ist für die Autoren nicht einfach ein Wort für stechend, klebend oder haltend. Es ist ein Synonym für “understandable, memorable, and effektive in changing thought or behavior”.

Damit ist auch gesagt, um was es ihnen geht: Im täglichen Wirrwarr an Informationen, die uns gerade in der Oeffentlichkeit kommuniziert werden, sterben viele Ideen schon im zartesten Kindsalter. Nur wenige werden erwachsen, reifen und bleiben wirklich haften. Und das ist die Voraussetzung für nachweisliche Verhaltensänderungen oder wirksame Denkanstösse.

Dem allgemeinen Trend folgend könnte man meinen, dass sei dann der Fall, wenn man visuell kommunziert. Davon halten die beiden Heath nicht viel – und heben sich so von der breiten Erwartung schon mal. Sie beweisen es mit ihrem Buch selber: kein einziges Bild und keine Grafik hat es. Spärlich umgegangen wird einzig mit Kästchen zum Merken. Der überwiegende Rest ist Text.

Der allerdings ist gut aufgebaut: Schon das Inhaltsverzeichnis ist inhaltlich, verzichtet dafür auf das numerische. Zudem ist es konkret nicht abstrakt. Das baut dann Bilder auf, um was es geht, die einen beim Lesen begleiten. Die Texte selber sind vorbildlich einfach, voller Neuigkeiten, anschaulich, belegt, stimmig und persönlich – SUCCESfull eben. Abgerundet wird das Buch mit einer Art Stichwortverzeichnis, welches den Zielsetzung, die Thesen, die Belege und die Interpretation in Kürzestform wiederholt.

Autor Chip Heath ist Professor für Verhalten in Organisationen im kalifornischen Stanford, und Dan arbeitet als Berater am Aspen Institut. Zusammen ist den heathbrothers ein Wurf gelungen, der wissenschaftlich unterlegt, von Praxis erfüllt, mehr als nur eines der üblichen Rezeptbücher ist. Vielmehr handelt es sich bei ihrem Bestseller um eine eigentliche Kommunikationsphilosophie, die ausgebreitet und angewendet wird. MIr jedenfall ist das gut eingefahren. Denn auch unsere Untersuchungen zeigen seit langem, dass das an der politischen Kommunikation entscheidend ist, was an der Lebenswelt der BürgerInnen anknüpft, sodass es nachvollziehbar ist und in Erinnerung bleibt.

Das Buch selber ist jedoch nicht politisch. Es geht vom Alltagsgespräch bis zur Lernsituation in Gruppen. Witzig ist ihr Schluss zu “Unsticking an Idea”. Ist das überhaupt möglich?, fragen sich die beiden Heath’s – und geben die für sie typische Antwort: “Nein”. Was einmal haften geblieben ist, bleibt haften. Punkt. Es kann aber überklebt werden: “Fight sticky with stickier” ist ihre auch hier glasklare Mitteilung an die Leserschaft.

Lesen sollten dieses Buch alle, die verstehen wollen, was kommt und bleibt, und was vergeht, bevor es sticht. Was sticky ist, ist wichtig und gar nicht so wenig, wie Traumanalysen, Stimmungsberichte, Lebensgeschichte zeigen, selbst wenn das Referierte längst zurück liegt.

Also: Finde stets das Wichtige, und behandle es. Schaffe Aufmerksamkeit, und halte sie. Hilf deinen Gegenüber zu verstehen und zu erinnern. Stütze es mit deiner Person in seiner Ueberzeugung. Nutze die Kraft der Assoziationen, indem du dich auf Identitäten beziehst. Zeige deinen Ansprechpartner, wie sie handeln können – und gib ihnen die Kraft dazu!

Oder ganz einfach: “Use what sticks.”

Claude Longchamp

Issue Management als Instrument der Steuerung öffentlicher Meinung.

Issue Management ist ein nützliches tool, wenn um Dynamiken der öffentlichen Meinung geht. Die Politikwissenschaft sollte sich, zu ihrem Vorteil, mehr damit beschäftigen.

Lebenszyklus
Quelle: Ingenhoff, D./Röttger, U. (2006): Issues Management. Ein zentrales Verfahren der Unternehmens­kommuni­kation. In: Schmid, B./Lyczek, B. (eds.): Unternehmens­kommunikation. Kommunika­tions­mana­gement aus Sicht der Unternehmensführung. Wiesbaden: Gabler

Tag für Tag sehen wir uns einer wachsenden Vielzahl von medialen Themen gegenüber. Da kann man schon mal verzweifeln. Denn es fällt schwer, den Ueberblick zu behalten. Das gilt selbst für Spezialgebiete und für Organisationen, die sich damit beschäftigen.

Das Medienmonitoring, das sich namentlich der quantitativen Inhaltsanalyse bedient, in den letzten Jahren zahlreiche Fortschritte gemacht. Dazu gehört auch die “Entdeckung”, dass Themen in Medien, die über längere Zeit verhandelt werden, eine eigene Konjunktur haben, die mit issue cycle oder Themenzyklus umschrieben werden kann.

Ein verbreitetes Schema unterscheidet die folgenden Phasen:

Latenz
Emergenz
Reife
Regulation

In der Phase der Latenz ist die öffentlichen Aufmerksamkeit gering. Wenn etwas problematisiert wird, dann sind es Einzelfälle, ohne das ein sachlicher oder kommunikativer Zusammenhang hergestellt wird. Das geschieht erst während der Phase der Emergenz. Während der nimmt die mediale Aufmerksamkeit zu. Ein Thema entsteht, das öffentlich erörtert wird. Kommen Forderungen hinzu, gibt es Stellungnahmen pro und kontra. Der Konflikt wird sichtbar. Die Aufmerksamkeit erreicht ihren Höhepunkt. Es entsteht zudem die Erwartung, dass es zu einer Regelung des Konfliktes kommt, sei es unter den Betroffen oder durch die Politik. Denn damit besteht die Möglichkeit, dass das problematisierte Thema aus der öffentichen Aufmerksamkeit verschwindet.

Vereinfacht kann man sagen: Aus Ereignissen werden Anliegen, aus Anliegen Ansprüche, aus Ansprüchen ihre Befriedigung. Mit diesem Zyklus ändern sich auch die relevanten Akteure. Ueber Ereignisse berichten Betroffen, heute in zunehmenden Masse über Medien ohne gate-keeping-Funktionen. Anliegen definieren Akteure mit klareren Rollen: WissenschafterInnen setzen etwas auf die öffentiche Agenda, oder Interessenvertretern systematisieren die Ereignisse über spezifische Interessen. Beide Akteure suchen die nähe der Massenmedien, welche die Debatte führen sollen. Denn das treibt die PolitikerInnen und Behörden mit der grössten Sicherheit an, was, mindestens bei politischen Fragen, eine Voraussetzung der Lösung von Konflikten ist.

Natürlich verläuft der Zyklus nicht immer idealtypisch. Dieses Vorgehen hat aber den Vorteil, eine Schematisierung für die Analyse des medialen Wirrwarrs zu entwickeln. Andere Verläufe sind an vielen Stellen denkbar: WissenschafterInnen erkennen in den Ereignissen kein Anliegen, das es verdient, öffentlich verhandelt zu werden. Die Anliegen bestehen zwar, es gibt aber kein organisiertes oder organisierbares Interesse. Medien steigen auf ein Thema auf, kippen es aber wieder, wenn spannendere Themen entstehen, und die Politik kann gefordert sein, entscheidet sich aber, Lösungen auf die lange Bank zu schieben, mit der Hoffnung, dass es am Schluss gar keine Regulierungen braucht.

Die Analyse von Themenzyklen hat sich zum nützichen Instrument der Steuerung öffentlicher Meinung entwickelt. Die Kommunikationswissenschaft hat sich diesem Thema in den letzten 10 Jahren recht systematisch angenommen, und eine theoretische Einsichten wie auch praktische Handlungsanweisungen entwickelt. Diese werden von Public-Affairs Stellen der Unternehmungen in ihrem Issue Management angewendet. PR-Strategien helfen dabei, den aufgezeigten Prozess zu beschleunigen oder zu bremsen. Und die Politik hat ihre Sensibilität entwickelt, gezielt auf Medienthemen einzusteigen. ExpertInnen, die helfen Medien zu lesen, sind da nicht unwichtig geworden: Sei es bei der Legitimierung von Einzelfällen, bei der Lösung oder Bewirtschaften von Problemen und bei der Einflussnahme auf Medienagenden.

Eine systematische Diskussion dieser Entwicklungen jenseits der Taktikberatung in der Unübersichtlichkeit wäre sicher klärend. Gerade für die Politikwissenschaft, die sich mit der Interaktion politischer Akteure, Behörden und Oeffentlichkeit beschäftigt.

Claude Longchamp

Ein 8 Milliarden Dollar Geschäft war wichtiger als der Tod bin Ladens

22 Jahre arbeitete Michael Scheuer für die CIA. 2004 verliess er seinen Posten bei der Einheit, die Osama bin Laden jagte, um anonym kritische Bücher zur Anti-Terror-Politik der USA zu schreiben. Heute ist er Professor an der Gerogetown-Universität in Washington, bloggt und publiziert er unter seinem Namen Bücher in renommierten Verlagen – zuletzt: “Osama bin Laden. Oxford University Press, 2011”.

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“Bin Laden ist ein grosser Mann”, erzählt Scheuer dem heutigen Tages-Anzeiger. “Time Magazin” habe Hitler 1938 zum Mann des Jahres gewählt. Bin Laden hätte die Bezeichnung auch verdient, denn keiner habe den Alltag der AmerikanerInnen in den letzten 50 Jahren so verändert wie er.
Scheuer hat die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, bin Laden zu töten, zollt ihm aber Respekt. Er sei ein bescheidener Mensch, ein gescheiter Stratege – und eine ernsthaft religiöse Persönlichkeit, die dadurch Fehler begangen habe.
Sein Kampf galt den Ungläubigen, was für bin Laden ein Synonym für die amerikanischen Streitkräfte war. Insbesondere ihre Präsenz im Nahen Osten, die pro-israelische Politik und die Unterstützung für arabische Polizeiregimes durch die USA habe er aus der Welt schaffen wollen. Die USA wiederum negierten diese Dimensionen der Auseinandersetzung.

Die Aktion der Amerikaner in Pakistan umschreibt Scheuer so: “Wir haben den CEO eines Multis getötet. Er legte die Ziele fest, aber er war gescheit und modern genug, die Arbeit an die lokalen Manager zu delegieren.”
Scheuer ist überzeugt, bin Laden habe in seinem Sinne vernünftig gehandelt. Er geht davon aus, man werde ihn bald vermissen. Denn seine Nachfolger seinen blutdrünstiger. Er rechnet nun mit mehr Kleinanschlägen, insgesamt auch mit mehr Blutvergiessen.
Bin Laden habe seinerseits damit gerechnet, nicht zu überleben, analyisert der ehemalige Geheimdienstler. Deshalb habe er eine generationenübergreifende Organisation geschaffen. Bis 9/11 sei al-Qaida zu Operationen in Afghanistan fähig gewesen. Heute kämen mindestens Pakistan, Jemen, Irak, Somalia, Gaza hinzu.

Den Angriff auf bin Laden verteidigt Scheuer ausdrücklich. Ein Bombenangriff hätte viel mehr Schaden angerichtet, und bei einem Drohnenangriff wäre man der Leiche nicht Herr geworden. Die Kommandoaktion der Navy Seals sei deshalb richtig gewesen. Versagt hätten aber die Verantwortlichen bei der Präsentation von Beweisen. Die Unterhaltungsindustrie produziere täglich schlimmere Bilder als das Foto eine Kopfschusses.

Einen grössere Zusammenhang mit den Ereignissen in Nordafrika sieht Scheuer bei der Tötung bin Ladens nicht. Den entscheidenden Hinweis habe man erst kürzlich aus Befragungen Verdächtiger erhalten. Das sei eine übliche Quelle, die nicht mit bestimmten Methoder des Verhörs, aber mit der Zahl der Untersuchungen sprudle. Der Rest sei ein Puzzlespiel.

Es sei jedoch nicht die erste Möglichkeit gewesen, bin Laden auszuschalten. Zwischen Mai 1998 und Mai 1999 habe man mehrere Möglichkeiten gehabt, ihn gefangen zu nehmen oder ihn zu töten. Den Feuerbefehl dazu habe Präsident Clinton jedoch verweigert. Unter anderem seien ökonomische Gründe massgeblich gewesen, habe man doch Gesprächspartner bin Ladens Kriegsmaterial verkauft. Ein 8-Milliarden-US-Dollar-Geschäft sei der amerikanischen Regierung damals wichtiger gewesen.

Wenn man das so liesst, staunt man nur. Zuerst über den Kontrast zwischen dem emotionsgeladenen Jubel auf den Strassen und der kühlen Analyse des Professors. Dann auch über die Konzentration auf Machtfragen, fernab vom viel beschworenen Kulturkonflikt. Schliesslich über die Metaphern aus der Wirtschaftssprache, in der es nur um den Tausch selbst zwischen dem Guten und Bösen zu gehen scheint. Das alles macht Scheuer zum Machiavelli unserer Zeit.

Claude Longchamp

Lobbying in der Schweiz: Was ist und was wird?

Regelmässig halte ich meinen Kurs zum Lobbying am Verbandsmanagement Institut der Universität Freiburg. So auch diese Woche. Das ist jedesmal auch Gelegenheit, über die Trends im Lobbying nachzudenken, und den Puls zu fühlen, wo wir in der Schweiz hierzu stehen. Hier meine aktuellste Bilanz!

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Typisch für das neue Lobbying auch in der Schweiz: beeinflusst von allgemeinen Trends, insbesondere angelsächsischen, die über internationale Firmen und die EU in die Schweiz kommen.

Die aktuelle Ausgabe der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft bilanziert: „Während Lobbying im angelsächsischen Raum weitgehend akzeptiert ist, haftet ihm im kontinentaleuropäischen Kontext ein anrüchiger Geschmack an. Empirisch zeigt sich jedoch, dass immer mehr Ressourcen in Public Affairs und politische Kommunikation investiert werden.“

Aus meiner Sicht lassen sich seit Längerem fünf Trends, die auch das Lobbying in der Schweizer erfassen können, ableiten:

Erstens, Lobbying differenziert sich immer mehr als eigenständige politische Aktivität.
Zweitens, Lobbying entwickelt hierzu Standards, was geht und was nicht geht,
Drittens, Lobbying professionalisiert sich aus sich selber heraus.
Viertens, Lobbying wird zum Bestandteil der politischen Oeffentlichkeitsarbeit.
Fünftens, Lobbying initiiert vor allem im globalen Kontext neue Politiken.

Ein Trend trifft in der Schweiz unbestritten zu: Das Lobbying, vor allem der nationalen Verbände, wird zusehends zum Bestandteil ihrer Oeffentlichkeitsarbeit. Teilweise trifft das auch für Firmen und andere Organisationen zu. Die direkte Ansprache von Parlamenten, Regierungen und Verwaltung wird dabei durch die indirekte erweitert. Die Medienarbeit wird zum zentralen Bestandteil des Lobbyings, denn man weiss zwischenzeitlich nur zu gut, dass sich nicht nur die BürgerInnen, sondern auch PolitikerInnen und BeamtInnen in einem erheblichen Masse über Massen- und Fachmedien zu politischen Fragen informieren.
Lobbying ändert damit den eigenen Charakter. Es verlässt das Schummerlicht der verdeckten Einflussnahme auf politische Entscheidungen mindestens teilweise. Es wird transparenter. Es erhofft sich dadurch nicht nur mehr Wirkung, es rechnet auch mit einem Glaubwürdigkeitsgewinn.

In der Schweiz bleibt dagegen die Initiativfunktion für neue Politiken weitgehend Aufgabe von Regierungen und Parlamenten – oder der Wissenschaft. Die Behörden steuern über politische Weltanschauungen, Regierungsprogramme und Expertisen, die von der Politik in Auftag gegeben oder genommen werden, die Agenda. Das Lobbying in diesem Bereich bleibt zurück, nicht zuletzt, weil Denkfabriken hierzulande eine untergeordnete Rolle spielen. Einzig im Abstimmungsbereich haben entsprechende Institutionen eine gewisse Vordenkerfunktion.

Beschränkte Veränderungen kann man bei den drei anderen Trends festhalten. Lobbying differenziert sich teilweise von politischen Aemtern. Lobbying entwickelt beschränkt Standards für eigene Verhaltensnormen. Und Lobbying professionalisiert sich nur schrittweise. Ueberall hinkt die Schweiz im internationalen Vergleich indessen hinten nach.

Hinderlich erweisen sich das Milizsystem auf Parlamentsebene, das die Verquickung öffentlicher und privater politischer Funktionen fördert. Wenig förderlich ist auch, dass sich Lobbying unverändert hinter anderen Tätigkeiten wie Public Affairs, Oeffentlichkeitsarbeit oder politischer Beratung versteckt. Das führt nicht dazu, dass man ein eigenes Selbstverständnis des Guten und Schlechten entwickelt.

Schliesslich, anders als in zahlreichen anderen Ländern gibt es eine genuine Ausbildung zum Lobbyisten oder zur Lobbyistin in der Schweiz kaum. Das ist schade, den nebst dem Handwerklichen, das man irgendwo erwerben kann, braucht das Lobbying auch herausragende Fachkenntnisse des politischen Systems, der politischen Prozesse und der politischen Kulturen.

Eigentlich wäre das alles eine geniale Herausforderung für die Politikwissenschaft mit einem Flair für Praxis.

Claude Longchamp

Modellhafte Erklärung der Parteiwahl

Warum wählt man eine bestimmte Partei, und lässt man die anderen Links oder Rechts liegen? Ich gebe hier in aller Kürze das Ergebnis eines modellhaften, multivariaten Erklärungsversuchs wieder.

Diese Frage interessiert die Wahlforschung brennend. Anworten werden immer weniger rein beschreibend gesucht, indem man auf bewusst gegebene Statements setzt. Vielmehr ist man heute bestrebt, Modelle der Parteiwahl zu entwickeln, und diese mittels elaborierter Statistik zu test.en

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Die nebenstehende Tabelle gibt die Uebersicht. Denkbare Erklärungen sind das Image der Parteikampagne (als Kommunikationsfaktor) resp. des Präsidenten (als Personenfaktor), die zugeschriebene Sachkompetenz (als Themenfaktor), die Position auf der Links/Rechts-Achse und den Wertpolaritäten als weltanschauliche Charakteristiken der Parteibindung und die Regierungsvertrauen/-misstrauen (als Indikator für Systemintegration).

Am besten erklärt werden kann so die Wahl der SVP. Der entsprechende Wert (.68) ist ausserordentlich hoch. Recht hoch ist er auch bei der SPS (.43), während er bei GPS, FDP, GLP und CVP im üblichen Bereich liegt. Klar darunter ist er bei der BDP.

Die weiteren Ergebnisse betreffen die Parteienprofile. Die SVP wird zunächst wegen ihren inhaltlichen Positionen gewählt, beschränkt wegen ihrer klaren Position rechts, dem Image von Wahlkampf und Präsident, und nur bedingt aufgrund von Werthaltungen und Systemintegration. Die relevanten Themen ihrerseits können nicht auf die Ausländerfrage reduziert werden. Diese ist zwar für die Klimabildung und Mobilisierung zentral. SVP wählt man aber wegen ihres Programms in Wirtschafts-, Umwelt- und Gesundheitsthemen. Selbstredend gilt dies auch für die Migrations- und EU-Thematik. Verstärkt wird dies durch eine klare Abgrenzung gegenüber Parteien in der Mitte, dem Bundesrat, während der eigene Wahlkampf und der eigenen Parteipräsident zur positiven Identifikation beitragen. Die einzige kleine Unklarheit besteht bei der Ökologie/Ökonomie-Thematik, die wertmässig weder in die eine noch in die andere Richtung für die Wahl der SVP mobilisiert werden kann.

Wer FDP wählt, macht das aus vergleichbaren Gründen, aber mit anderer Reihung und zum Teil mit anderen Vorzeichen. Die programmatischen Aussagen der Partei zu den Sozialwerken sind der Wählerschaft wichtig; das gilt auch für ihre wirtschaftsnahe Haltung in Umweltfragen und neu auch für die Position in Migrationsfragen. Verstärkt wird dies durch den bisherigen Auftritt im Wahlkampf und durch das Bild des Parteipräsidenten. Bei der FDP kommt eine klare wertmässige Identifikation hinzu, sei es als Partei der Eigenverantwortung, der Offenheit oder des Materialismus. Nur beschränkt einen Betrag liefern die Position auf der rechten Seite und das Vertrauen in den Bundesrat. Am überraschendsten ist das weitgehende Fehlen der Wahl wegen ihrer Wirtschaftsprogrammatik. Da zerfällt ein bisheriger Grund der FDP-Wahl zusehends.

Die höchste Identifikation mit der CVP ergibt sich aus der Beurteilung des Wahlkampfes. Wer ihn gut findet, findet auch die CVP gut. Thematisch kann sich die CVP mit der Migrationsfrage, der sozialen Sicherheit und den Umweltfragen profilieren. Zudem schafft der Präsident eine positive Identifikation. Das gilt auch für das Vertrauen in die Institutionen, namentlich den Bundesrat und für eine grundsätzlich offene Schweiz. Hier überrascht, dass die Familien- und Gesundheitsthemen, welche die Partei selber favorisiert, für die Wählerschaft kein Grund sind, die CVP zu unterstützen. Da besteht eine Nachholbedarf.

Auch bei der SP kommt der eigene Wahlkampf gut an. Zudem ergeben sich zahlreiche Übereinstimmungen mit ihren Positionen, zum Beispiel in Fragen der Ausländerthematik, des Gesundheitswesens, der sozialen Sicherheit und der Umwelt. Punkten kann die Partei bei ihrer jetzigen Wählerschaft mit einer linken Position, vertreten durch den Parteipräsidenten und einem Appell an eine solidarische Schicksalsgemeinschaft. Nicht wirksam ist ihr bisheriges Engagement in Fragen der Arbeitslosigkeit, genauso wie die EU-Position. Zudem sind weltanschauliche Identifikationen geringer als programmatische.

Einfacher ist die Erklärung der Erfolge grüner Parteien. Die GPS brilliert mit der Umweltfrage, ihrem Wahlauftritt, der linken Position und der postmaterialistischen Werthaltung. Mit anderen als ökologischen Themen kann sie aber nicht punkten. Bei der GLP findet sich das genau gleiche Profil, einzig dass die Position auf der Links/Rechts-Achse unwichtiger ist. Auch bei ihr gilt, dass die Wählenden in Wirtschafts- und Fiskalfragen anders positioniert sind als bei der GPS; für die Wahl der GLP ist das letztlich aber nicht entscheidend.

Wie gesagt, bei der BDP versagt unsere Analyseschema weitgehend – höchstwahrscheinlich auch, weil die Frage nach der Wiederwahl von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf in diesem Wahlbarometer nicht gestellt wurde.

Claude Longchamp

I had a dream

Vor 20 Jahren träumte ich davon, parallel zu den etablierten Nachanalyse von Wahlen und Abstimmungen in der Schweiz auch Voruntersuchungen machen zu können. An den 3. Demokratietagen in Aarau zog ich vor einigen Tagen Bilanz zu diesem Unterfangen. Hier meine drei wichtigsten Schlüsse.

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“Erstens, Wahlprognosen sind prinzipiell möglich; Parteiwahlen können sicherer vorweggenommen werden als Personenwahlen. Alles hängt aber vom Zeitpunkt der Vorhersage ab.
Das hat mit der deutlicheren Vorbestimmtheit von Entscheidungen zum Nationalrat zu tun, denn unsere Meinungen zu Parteien bilden wir uns fast täglich. Das ist schon bei Ständeräten nicht der Fall und die Unterscheidung kann auch bei Kantons- und Regierungsratswahlen gemacht werden. Deshalb sind kurzfristige Entscheidungen, ja taktische Erwägungen bei Personenwahlen generell höher, was die Vorwegnahme der Ergebnisse erschwert.

Zweitens, Abstimmungsprognosen sind deutlich schwieriger. Generell ist Vorsicht angebracht.
Ermitteln kann man Trends der Meinungsbildung; mittels Szenarien lassen sich diese auch extrapolieren. Im schlechtesten Fall bleibt der Ausgang offen; im Normalfall kann er qualitativ im Sinne eines Nein- oder Ja-Entscheides vorweg benannt werden, während punktgenaue Prognose vorerst nicht möglich sind. Hauptgrund ist, dass die Dynamik der Meinungsbildung bei Behördenvorlagen grösser ist als bei Parteiwahlen und bei Entscheidungen über Volksinitiativen noch erheblicher ausfallen kann als bei Behördenvorlagen. Das erschwert die Aufgabe.

Drittens, etabliert hat sich, bei Wahlen eine Serie von Vorwahlbefragungen auf der Basis von jeweils 2000 auskunftswilligen Wahlberechtigten zu erstellen. Bei Abstimmungen gibt es zwei Erhebungen bei je 1200 Bürger und Bürgerinnen – die eine zu Beginn der Kampagne, die andere etwa in der Mitte. Im Vergleich zu Wahlen ist beides in der Regel nur recht nahe zum Abstimmungstag möglich. Einmalige Bestandesaufnahmen genügen aus unserer Warte nicht.”

Mehr dazu im Referat an der Fachtagung hier.

Claude Longchamp