Ständeratswahlen in der Schweiz: Vorschläge zur Analyse zwischen Theorie und Praxis

Das Blockseminar zur Analyse von Ständeratswahlen in der Schweiz an der Universität St. Gallen ist vorbei. Ein ordnender Rückblick.

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Wird am 23. Oktober 2011 neu bestellt: der Ständerat der Schweiz, die zweite, gleichberechtigte Kammer der Bundesversammlung

18 Lektionen in 3 Tagen sind eine Herausforderung. Mit dem Blockseminar in der ostschweizer Metropole erspare ich mir viel Reisezeit zwischen Bern und St.Gallen. Die Energie braucht man aber, um während den Verhandlungen permanent präsent zu sein. Meiner Meinung nach wirkte sich diese Veranstaltungsform vorteilhaft auf das Lernklima aus. Denn so vertieft kann man eine Thema während den üblichen Wochensitzung nicht verarbeiten. Dafür ist die Distanz zu den Inputs grösser, wenn man regelmässige Abstände zwischen den Sitzungen hat.

Aufschlussreich waren die drei Referate “von aussen”: Regierungsrätin Karin Keller-Sutter reflektierte über den Mainstream in der st. gallischen Politik, den sie gerne in Bern vertreten würde. Aus ihrer Warte sind erfolgreiche Kampagnen bürgerInnen-nah, dezentral, authentisch – und ohne übergeordnete parteipolitische Absichten. Auch TV-Journalist Hanspeter Trütsch betonte die Vielfalt der Schweiz, wo jeder Kanton anders als der andere ist, weshalb auch Wahlkampfkulturen divers blieben. Die wachsenden Rolle der Medien in der Politikvermittlung führe zu einer Transformation von Wahlkämpfen. Erfolgreichen Politikerprofile bleiben sich ähnlich, es wechselten aber die Köpfe, Auftrittsstile und Kommunikationskanäle. Hermann Strittmatter wurde seinem Image als Exzentriker unter den Schweizer Werbern vollumfänglich gerecht. Erfolg im urbanen Raum, dozierte er, hänge davon ab, im Kommunikationswirrwarr nicht unterzugehen. Werbung müsse auffallen, was Kreativität verlange. Von Parteien erwartet einen Kompatibilitätstest, bevor sie KandidatInnen nominierten. Gewinne werde schliesslich der oder die, welche(r) keine Fehler mache, indem er oder sie in der Hektik des Wahlkampfes Ruhe bewahre.

Der systematische Teil des Blockseminars beschäftigte sich mit Wahlkampftheorien. Allen bekannt sind die Annahmen der rationalen Wahl. Sie haben sich für die Analyse der kurzfristigen Programmwahl durch die einzelne BürgerIn bewährt. Doch sind sie kaum geeignet, die Konstanten in Wahlergebnissen zu untersuchen, und sie eigenen sich auch nicht gesellschaftlichen Strukturen und ihren Wandel in Wahlresultaten zu bestimmen. Skepsis herrscht auch, dass man damit Personenwahlen treffend untersuchen kann. Das Spannendste in der Forschung findet aktuell dort statt, wo das Handeln der Akteure im Schnittfeld von KandidatIn, Partei und Medien analyisert wird.

Konflikttheorien, welche die Transformation des postindustriellen Staates erhellen, wie das Herbert Kitschelt geleistet hat, geben hier den Rahmen ab. Stefan Dahlems grundlegende Uebersetzung der sozialwissenschaftlichen Wahltheorie in die Mediengesellschaft verdeutlicht, wie sich die Beziehungen zwischen Wählenden und Gewählten verändern. Schliesslich geht es in Wahlanalysen seit langem um das Marketing von Parteien und KandidatInnen, welche eingesetzt werden, um den Wahlerfolg erhöhen.

Drei Thesen haben der gegenwärtigen politik- und medienwissenschaftlichen Forschung haben uns inspiriert: uum einen die Medialisierungsthesen, wie sie von Barbara Pfetsch für die Erforschung von Wahlkämpfen vorgeschlagen wurden; sodann die Personalisierungsthesen, die namentlich Skeptiker der Demokratieentwicklung wie Colin Crouch favorisiert werden; schliesslich die Thesen der Modernisierung von Wahlkämpfen, die namentlich Pippa Norris eingebracht hat.

Formuliert wurden diverse studentsiche Forschungsarbeiten, die im Schnittfeld von Thesen, Daten und Ergebnissen mit Praxisrelevanz diskutiert wurden. So fragt man beispielsweise nach neuen Stadt/Land-Konflikten in Ständeratswahlen, die insbesondere die Wahlchancen von linken und rechten Kandidaturen in den Sprachregionen beeinflussen und genutzt werden können, um die Chancen einer Wahl zu erhöhen. Mehr wissen will man exemplarisch über Medienstrategien im urbanen Raum, namentlich in Zürich und Genf, wenn es um PolitikerInnen-Vermittlung geht. Dazu werden typologisch ausgewählte Medien untersucht. Und man interessiert sich ausdrücklich für Möglichkeiten und Grenzen der Personalisierung von Ständeratsbewerbungen, die zwischen staatstragendem und parteiischem Auftritt der BewerberInnen beurteilt werden sollen. Denn bei Nationalratswahlen weiss man, was gegenwärtig zieht, und es ist gut, dass wir mehr erfahren, ob sich die Erkenntisse dieser Wahlanalyse auch für die Untersuchung von Ständeratswahlen eigenen.

Ich bin gespannt, zu welchen Schlüssen die studentischen Forschungsvorhaben führen, und ob wir danach mehr wissen über das Stiefkind der Schweizer Wahlforschung.

Claude Longchamp