Die verkannte Bedeutung der Ständeratswahlen 2011

Der Wahlkampf 2011 war durch die Nationalratswahlen bestimmt, die Ständeratswahlen entfalteten nicht die gleiche Wirkung – mindestens auf der nationalen Ebene. Dabei unterschätzt man die Bedeutung des Ausgangs der Ständeratswahlen für die Allianzbildung in der kleinen Kammer.

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Grafik anclicken, um sie zu vergrössern (Quelle: NZZ)

Wenn der Ständerat zur Schlussabstimmung schreitet, demonstriert er unverändert gerne überparteiliche Einstimmigkeit. Gelingt dies nicht, schart sich meist die SVP hinter das Zentrum und die Ratslinke auszulassen. Seltener kommt Umgekehrtes vor. Immerhin. die Häufigkeit des Bürgerblocks ist seltener geworden, zunehmend ist die Allianzbildung Mitte/Links. Ganz selten sind polarisierte Situation, bei denen die CVP zur Linken hält, die FDP zur SVP.

Das hat zunächst mit der Diskussionskultur im Ständerat zu tun. Diese ist eine Folge der Ratsgrösse, aber auch der parteipolitischen Zusammensetzung. Denn CVP und FDP haben seit der Gründung des Bundesstaates eine numerische Mehrheit in der kleinen Kammer, seit Beendigung des Kulturkampfes Ende des 19. Jahrhundert zwischen beiden Parteien bildet ihre Allianz gar das Rückgrad des Ständerates.

Das alles könnte sich 2011 ändern. Beide Parteien stellen heute noch 26 der 46 Parlamentarier in der kleinen Kammer. Wenige Sitzverluste bei den anstehenden Wahlen könnte das gewohnte Bild massgeblich auf den Kopf stellen.

Eine Uebersicht über die anstehenden Ständeratswahlen. publiziert im Tages-Anzeiger vom 12. Oktober 2011, benennt die unsicheren Wahlgänge, bei denen ein(e) Abgeordnete(r) aus CVP, FDP (und BDP, die wir hier dazu nehmen) über die Klinge springen könnte:

Erstens, von der SVP herausgefordert wird die FDP namentlich in Luzern und Neuenburg. Im Tessin ist die Lega die Konkurrenz (die sich der SVP-Fraktion anschliessen würde) und in Schaffhausen ist es Thomas Minder, der im Falle einer Wahl mit einem Beitritt zur GLP liebäugelt.

Zweitens, in aussichtsreicher Lauerstellung zur CVP ist die SVP in den Kantonen Uri und im Wallis.

Drittens, auf FDP oder CVP abgesehen hat es die SVP in St. Gallen.

Viertens stehen die SP und GPS in den Kantonen Aargau und Bern auf der Angreiferseite, wobei es FDP/BDP oder SVP treffen könnte.

Damit kommt auf mindestens 9 Wahlgänge, die über die Möglichkeiten Allianzbildung im Zentrum des Ständerates entscheiden.Gegenteiliges zeichnet sich nur in Graubünden ab, wo die FDP einen Sitz der SVP erben wird.

Am Sonntag abend wird man eine erste Auslegeordnung machen können, was Sache werden könnte; höchstwahrscheinlich weiss man dann noch nicht, ob die CVP/FDP-Mehrheit kippt, denn es dürften in verschiedenen der genannten Kantone zu einem zweiten Rundgang kommen. Bei dem wird entscheidend sein, wer sich mit wem verbindet, resp. wer unter welchen Auflagen auf eine Wahl verzichtet.

Was es heisst kann, in einem Rat zu politisieren, in dem es keine starke Mitte-Allianz mehr gibt, zeigt eine Studie des Genfer Politikwissenschafters Simon Hug. Gespaltene Situationen mit einer Trennlinie zwischen CVP und FDP kommen im Nationalrat vermehrt vor als im Ständerat, sind aber nicht der Trendsetter. Häufiger – und klar zunehmend – sind Blockbildungen, die von rechts oder links ausgehen, denn es braucht drei Parteien für eine Mehrheit. Das erhöht die Chancen der Polpartei, nicht nur auffällige parteipolitische Positionen einzubringen, sondern auch mit ihnen durchzukommen.

Ob das geling, hängt aber von verschiedenen Faktoren ab: der sachpolitischen Tendenz im Zentrum einerseits, der Kompromissfähigkeit der Pole auf der anderseits. Nimmt man die letzte Legislatur als Massstab, ging die Dynamik häufig zwischen Mitte und rechts Seite aus als umgekehrt. Doch überzeichnete die SVP ihre Position bieweilen, weil ihr die Darstellung der eigenen Position wichtiger war als die Entscheidung. So war, seit den Wahlen 2007, die Mitte/Links-Allianz unter Ausschluss der SVP im Nationalrat die häufigste Konstellation in den Schlusabstimmungen des Nationalrates.

Das ist genau das Umgekehrte als das, was man bisher im Ständerat hatte. Wie gesagt, nur wenige Sitzverluste im Zentrum der kleinen Kammer entscheiden darüber.

Claude Longchamp

Antwort an den Wahlkampfblog: Das Profil der Wahlgründe – je Partei ausgebreitet

Die mediale Logik zu den Wahlen hat diese Woche vollends umgeschlagen: Es geht nur noch ums Spekulieren. Das verkennt den Wert der Wahlforschung, auf den man wieder zurückgreifen wird, wenn die Wahlergebnisse verbindlich vorliegend. Denn dann geht es wieder um die Frage nach den Wahlgründen.

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Im letzten Wahlbarometer haben wir ein Profil der Parteien entwickelt, das aufzeigt, was nachweislich gewirkt hat – jedenfalls bis zum letzten Umfrage:

SVP-Wahl:
Wer die SVP wählt, macht es wegen ihrem Programm: Die Positionen in Finanz- und Migrationsfragen sind relevant. Oder anders gesagt: Themen-WählerInnen schätzen die SVP wegen ihrer restriktiven Einwanderungs- und Finanzpolitik. Die Entscheidungen sind damit nicht, wie in der Öffentlichkeit häufig angenommen, einzig eine Folge der Ausländerthemen. Sie haben auch mit dem skpetischen Staats- und Steuerverständnis der Wählenden zu tun. Der Wahlkampf kommt als Zweites hinzu. Von aussen oft kritisiert, entfaltet er nach innen die erwarteten Wirkungen. Das dritte Element, das zur Wahl der SVP führt, sind die anstehenden Bundesratswahlen. SVP-Wählende wünschen sich auf alle Fälle einen zweiten (oder dritten) Bun­desrat, sei es in einer rein bürgerlichen Regierung oder via Neubelegung der Konkordanz der grossen Parteiem. Abgerundet wird das Bild durch die klare Rechtspositionierung, die Identifizierung mit dem Parteipräsidenten oder das Misstrauen in die Institutionen. Im Vergleich zu 2007 mobilisiert dies ähnlich, wenn auch eindeutig weniger fixiert auf die Personenidentifikation, die damals via Bundesrat Blocher alles überschattete.

SP-Wahl: Nichts fürchten relevante Teile der SP-Wählerschaft so, wie einen Bundesrat, aus dem sie ausgeschlossen wären. Das ist seit dem Rücktritt von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey der wichtigste Grund, SP zu wählen. Es folgt das Programm, mit den Positionen in Fragen der öffentlichen Finanzen, der Migrationspolitik, der Umweltpolitik und der sozialen Sicherheit. Der Vorteil, der zu Beginn der Diskussion über den starken Franken und den Auswirkungen auf die Arbeitsplätze gegenüber der SP entstand, ist dagegen weitgehend verschwunden. Als nächstes folgt der eigene Wahlkampf, der eine positive Identifikation erlaubt, ergänzt durch die Positionierung der Parteien auf der Links/Rechts-Achse, der Hoffnung auf eigene Gewinne bei den Wahlen, der Identifikation mit dem Präsidenten, der Betonung solidarischer Werte und dem Einsatz für eine offene Schweiz. Dieser Mix geht etwa gleich gut auf wie jener 2007, der indessen viel stärker durch einen Anti-Blocher-Effekt geprägt war.

FDP-Wahl: Wahlberechtigte, welche die FDP wählen wollen, sind vom freisinnigen Programm überzeugt. Identifikationspunkte ergeben sich, ohne wirkliche Zuspitzung, bei Themen wie Arbeitsplätze und Wirtschaft, Umwelt, Migration, Sozialversicherungen und Gesundheitswesen. Es folgt der Wahlkampf, der den ParteigängerInnen gefällt. Mobilisiert wird die FDP-Wählerschaft, wenn sie an den eigenen Aufschwung glaubt resp. Gewinne der SVP befürchtet. Einen rein bürgerlichen Bundesrat unter Führung der SVP will man nicht, ebenso wenig wie einen ohne SVP oder unter Verlagerung eines eigenen Sitzes zur GPS. Werte wie Eigenverantwortung, Wirtschaftsorientierung und Rechtspositionierung kommen gegen den Schluss der Wirkungsfaktoren, knapp von der Identifikation mit dem eigenen Präsidenten. Damit kann man sich als liberale Partei bei Wahlen weder in der Mitte hal­ten, noch die Stammwählerschaft ernsthaft mobilisieren.

CVP-Wahl: Die Wahlwilligen der CVP identifizieren sich in erster Linie mit dem eigenen Wahlkampf. Thematisch finden sie die CVP-Familien-, -Umwelt- und -Gesundheitspolitik gut. Anders noch als vor einem Monat bietet die CVP-Wirtschaftspolitik jedoch keine wahlrelevante Identifikation mehr. Es folgt die mobilisierende Hoffnung auf eigene Gewinne, gepaart mit der Erwartung, FDP und Grüne würden einbrechen. Beim Bundesrat befördert der Kampf für den Status Quo die Wahlbereitschaft, genauso wie die Ablehnung eines Bundesrates mit Beteiligung der GPS. Der Parteipräsident als Wahlgrund folgt auch hier am Schluss. Mit diesem Profil kann man nicht zulegen, sich allenfalls aber schadlos halten.

GPS-Wahl:
Die Wahl der GPS kann man so erklären, dass der eigene Wahl­kampf gefällt, die Umweltpolitik wichtig ist, die Hoffnung auf einen eigenen Bundesrat wirkt, die Grünen dabei klar links positioniert bleiben müssen. Die Erwartung eigener Gewinne mobilisiert, verbunden mit der Erwartung, die SP verliere. Wertemässig schafft die Ökologie Verbindungen zur GPS, ganz anders als der Parteipräsident. Damit kann man sich halten, muss keine Einbrüche befürchten, kann aber auch nicht mit wirklichen Gewinnen rechnen.

GLP-Wahl:
“Kein rein bürgerlicher Bundesrat!” denken sich die GLP-Wähle­rInnen. Der Wahlkampf der neuen Partei gefällt, genauso wie die Fokussierung des Parteiprogramms auf die Umweltfrage. Weitere verallgemeinerbare Gründe die GLP zu wählen, lassen sich nicht benennen. Immerhin, das reicht, um zu gewinnen!

BDP-Wahl:
Schliesslich die BDP, wo sich alles um den Bundesrat dreht. Die Angst vor einem bürgerlichen Bundesrat unter Führung der SVP bewegt am meisten, gefolgt von allen anderen Varianten ohne Eveline Widmer-Schlumpf. Darüber hinaus schafft der eigene Wahlkampf positive Identifikation. Die Hoffnung, die polarisierenden Parteien würden geschwächt, beflügelt den Mix, die BDP zu wählen – die voraussichtlich zweite Wahlsiegerin.

Claude Longchamp

Schwarz und weiss – oder fliessende Uebergänge

Alles ist im Fluss, sagte Heraklit von 2500 Jahren. Das Wasser bewegt sich, reagiert auf das Gefälle, die Steine und den Wind. Und dennoch: Der Fluss behält Konturen, folgt seinem Bett, schwillt im Frühling an und trocknet im Sommer aus. Selbst wenn sich Vieles bewegt, sind wir in der Lage, die Richtung der Flüsse zu erkennen – sehr wohl im grossen Ganzen, auch wenn die Details immer wieder für Ueberraschungen gut sind.

Literaturclub vom 18.10.2011
Cafe Postgass in Bern, wo ich für den Literaturclub meine Bettlektüre fürs Wochenende vorgestellt habe …

Ich war erstaunt, wie in den letzten zwei, drei Wochen, alles was ich gesagt habe, zur unabänderlichen Vorhersage wurde, schwarz auf weiss, ohne fliessende Uebergänge. Geheuer ist mir die mediale Konstruktion der Prognose nicht. Denn sie erhöht das, was man weiss, um das, was man nicht wissen kann.

Da habe ich es geschätzt, dass mir der Literaturclub des Schweizer Fernsehens fünf Tage vor der Wahl eine carte blanche gegeben hat, um ein Buch meiner Wahl vorzustellen. Spontan habe ich zu “Geschichte der Schweiz – einmal anders” gegriffen.

Verfasst wurde das belesene und geistreiche Bändchen von Joelle Kuntz, einer Westschweizer Historikerin, heute als Kolumnistin bei Le Temps tätig. Sie kennt die Deutschschweizer Geschichtsschreibung à fonds, negiert sie nicht, dekonstruiert sie aber als Teil der grossen Mythenbildung. Dem Selbstbewusstsein der Schweiz im Spiegel stellt sie die Strukturen des Landes gegenüber, die die Ueberhöhungen korrigieren, sie mit Tiefe versehen.

Deshalb ist die andere Geschichte der Schweiz eine der Städte, eine des Geldes, eine des Schreibens, die im Urbanen entstehen. Den Nabel der Schweiz findet sie nicht an den Gestaden des Vierwaldstättersees, jedoch in Genf, in Zürich, in Bern. Zürich ist die Lunge der Schweiz, die atmet und den Körper mit frischer Luft versorgt. Bern ist der Kopf, der entscheidet, was richtig und was falsch ist. Und Genf ist die Geburt von Wirtschaft und Staat. Denn die moderne Schweiz, so die These von Kuntz, ist mit der Reformation entstanden, dem Entstehen eines städtisch-bürgerlichen Bewussstseins, das sich von dem katholisch-halbfeudalen der Vorzeiten abgrenzte, das den Landklöstern urbane Kirchen gegenüber stellte, das sich mit dem Kapitalismus verband, der das enge auf sich konzentrierte zur Welt öffnete.

Es wäre zu einfach zu denken, Kuntz sei eine eingebildete Dame aus dem weltgewandten Genf. Wer sich durch die leicht lesbaren 250 Seiten des Buches ziehen lässt, spürt, dass da eine Historikerin über die Schweiz schreibt, die weiss, von was sie spricht, sich aber den Blick durch die bisherige Geschichtsschreibung nicht versperren lässt. Genau deshalb habe ich das Buch ausgewählt, um es in 90 Sekunden zu porträtieren. Denn nicht das Vorherrschend-Eindeutige macht die Schweiz so spannend, sondern das Vielseitig-Paradoxe, das in der Geschichte so oft oszilliert hat, und es auch in der Gegenwart immer wieder tut. Oder im Gefolge Heraklits: Nicht Alles ist im Fluss, aber Einiges bewegt sich. Auch jetzt!

Claude Longchamp

Harmonisierung statt Polarisierung

Die letzte Woche vor den Parlamentswahlen ist angebrochen – das ist auch die Woche des Blicks von aussen auf die Schweiz. Eine kleine Bilanz zum Gespräch mit der ORF.

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Raphaela Stefandl, bekannte Moderatorin von “Vorarlberg-heute”, ist seit kurzem neue ORF-Korrespondentin für die Schweiz. Das Geschehen beobachtet sie vom grenznahen Dornbirn aus. Heute war sie bei mir in Bern.

Natürlich ging das Gespräch um die Wahlen – und um den Wahlkampf. Ihre These war, der starke Schweizer Franken laste über dem Land. Was bisher ein Vorteil war, kehre sich nun in einen Nachteil. Das hätten die SchweizerInnen kurz vor der Wahl begriffen, weshalb sie im Kampf um die Parlamentssitze nicht aufs Aeusserste setzten, sondern das gemeinsame Interesse betonten.

Da konnte ich nur nicken. Philipp Hildebrand, unser Nationalbank-Präsident, sei zum einflussreichsten Wahlkämpfer geworden, fügte ich bei. Zur vorherrschenden Polarisierung der Politik zwischen rechts und links EWR-Beitritt, habe er, erstmals in einem Wahlkampf, eine Art Harmonisierung geschaffen. Zwar sei die Politik der Nationalbank anfangs des Jahres erheblich ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Christoph Blocher, sekundiert von der Weltwoche, haben sie attakiert, weil man in den rechtskonservativen Kreisen die Intervention beim Wechselkurs für unnötig hielt. Doch dann schwoll der abgehobene Diskurs zum breiten Politikum an. Von der SP eingebracht, drehte sich die Diskussion um die Anbindung des Schweizer Frankens an den Euro. Sekundiert wurde die Linke nicht nur durch Gewerkschaften und Konsumentenschutz; auch die Exportindustrie und der Tourismus machten sich Sorge zur drohenden Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland oder den Rückgang der Umsätze. Schliesslich kam es zum Kurswechsel beim Wechselkurs: Nationalbank und Bundesrat entschieden sich, einen Wechselkurs von 1.20 zwischen Franken und Euro mit allen Mitteln zu verteidigen – und beruhigten damit die Lage. Parteipolitische Potenziale für den Wahlkampf bot diese Frage kaum mehr.

2007 war das alles noch anders. Wirtschaftsfragen spielten im Schweizer Wahlkampf keine nennenswerte Rolle. Es dominierten Sicherheitsfragen, rund um die AusländerInnen, die seitens der SVP für die Kriminalität in der Schweiz verantwortlich gemacht wurden. Die Initiative der Nationalkonservativen traf den Zeitgeist und verstärkte ihn, weil sich alle damit und ihrer Symbolisierung mit dem Schäfchenplakat beschäftige. Schliesslich resultierte ein toller Wahlerfolg für die SVP. 2011 war die Einwanderung zwar erneut die Vorgabe der SVP, doch mobilisiert das Thema vor allem nach innen. Das Klima des Wahlkampfes prägten andere Momente: der Atomunfall in Fukushima zuerst, der starken danach und schliesslich der erneute Milliardenverlust der UBS. Keines dieser Ereignisse war geplant, jedes hatte seinen Ursprung im Ausland, wirkte sich aber auf die Befindlichkeit in der Schweiz aus.

Immerhin, ergänzte ich, wenn der Wahlkampf diesmal weniger kontrovers gewesen sei als noch vor 4 und 8 Jahren, habe das auch innenpolitische Ursachen. Die Linke habe nicht mehr auf jede Provokation der Rechten reagiert, denn das habe regelmässig Medienaufmerksamkeit für die SVP-Themen erzeugt. Bei den Zürcher Kantonalwahlen habe man dieses Verhalten erstmals angewendet – mit Erfolg, denn SP und GPS hielten sich, während die SVP erstmals in ihren neuen Hochburgen eine Wahl verlor. Unterstützt worden sei dies durch das Auftreten zweier neuer Parteien, der GLP und der BDP, die, bei übertriebenem Drehen an der Spirale des extremen Positionswahlkampfes für moderate WählerInnen rechts und links ein denkbares Auffangbecken darstellten. Einzig die Kämpen der Jungparteien, fällt mir beim Schreiben dieses Beitrags auf, duellierten sich nach vergangener Art, unterstützt von der Boulevardpresse und gewissen Internetforen, die Gegenwelten schufen, welche auch Vandalismus, besonders gegen Wahlplakate, beförderten.

Mein Gast schrieb eifrig mit, führte das Interview darauf aufbauend, sodass ich gespannt bin, was, voraussichtlich am kommenden Donnerstag, in der österreichischen ZiB2 gesendet werden wird.

Claude Longchamp

Szenarien für die Bundesratswahlen vom 14. Dezember 2011

Gegenwärtig bin ich häufiger Gast in ausländischen Botschaften. Mit schöner Regelmässigkeit erwartet man von mir Auslegeordnungen zu den anstehenden Bundesratswahlen. Hier meine Kernbotschaften.

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Niemand weiss, was am 14. Dezember 2011 geschieht. Weil die Bundesversammlung den Bundesrat wählt. Und die Wahl der neuen Bundesversammlung am 23. Oktober 2011 erst beginnt und mit den zweiten Wahlgängen für den Ständerat am 30. November 2011 endet. Die neue Zusammensetzung des Nationalrates kann man noch einigermassen erahnen, die des kommenden Ständerates ist unklarer.

In solchen Situation verzichtet man am besten auf jegliche Prognose. Machbar aber sind aber Szenarien: mögliche Zukünfte, bei denen man zwischen Wünschbarkeit und Wahrscheinlichkeit unterscheidet. Wissenschaftlich von Belang ist nur die Ausprägung möglicher Szenarien, verbunden mit ihrer Probabilität. Entscheidungen zur Wünschbarkeit sind Sache der Politik.

Ich halte (gegenwärtig) fünf Szenarien für hilfreicht; einigermassen realistisch sind drei, wobei zwei noch je ein Subszenario beinhalten:

erstens der Status Quo,
zweitens die Rückkehr zur alten Zauberformel und
drittens die Neudefinition der Regierungskonkordanz.

Status Quo
Beim Status Quo geht man vom Machterhalt aus. Das ist die normalste Logik bei Bundesratswahlen. Es bleibt alles wie es ist. Veränderungen in der parteipolitischen Zusammensetzung sind erst bei Rücktritten angesagt. Und auch dann nur, wenn sich das Parteiegefüge nachhaltig verändert hat. An diesem Szenario interessiert ist vor allem die BDP. Sukkurs erhält sie von der CVP. Auf Status Quo setzen aber auch SP und FDP, denn sie könnte je einen Sitz verlieren. Kein Interesse an dieser Variante hat die SVP. Die sie bliebe bis auf Weiteres halb drinnen und halb drassen. Allerdings, die SP risikiert am meisten, denn sie hat die Nachfolge von Micheline Calmy-Rey im Bundesrat zu regeln. Um diese geht es im letzten Wahlgang. Das ist der Moment aller Wadenbeisser, die sanktionslos zuschlagen können. Ohne Absicherung bei den anderen Parteien wird das für die SP zur Zitterpartie, denn die SVP hat bereits angekündigt, dass sie ihren zweiten Sitz notfalls auch gegen die SP holen wolle.

Alte Zauberformel
Das macht ein vorgängiges Arrangement der interessierten Parteien denkbar. Gefordert sind vor allem SVP und SP, allenfalls auch FDP. Die drei (voraussichtlich auch inskünftig) wählerstärksten Parteien in der Schweiz könnten sich auf die alte Zauberformel einigen. Sie bekämen je zwei VertreterInnen im Bundesrat, die vierte Partei einen. Damit wird das machtpolitische Gerangel beseitigt. Allerdings wäre das auch das Ende der kleinen BDP als Bundesratspartei, und Eveline Widmer-Schlumpf würde abgewählt oder würde sich im letzten Moment zurückziehen. Hauptinteressent an dieser Variante ist die SVP, Denn die Parteienlandschaft hat sich seit 1959, als diese Regel erfunden wurde, massgeblich verändert. Die SVP ist stark gewachsen, die FDP und die CVP sind stark geschrumpft. Neu hinzugekommen sind die Grünen. Das liefert denn auch den Haupteinwand: die 2:2:2:1 Formel findet in der Parteienlandschaft keine wirkliche Entsprechung mehr. Das Subszenario käme dann zum Tragen, wenn die CVP die FDP im Nationalrat überholen sollte. Dann würde nicht nur die BDP-Bundesrätin über die Klinge springen müssen, auch ein FDP wäre dann gefährdet. Das gäbe der CVP die Möglichkeit, der BDP eine Fraktionsgemeinschaft anzubieten, ihre Bundesrätin zu belassen um dereinst den Sitz zu erben. Die SVP würde dann zulasten der FDP bedient. Im Hauptszenario hat die SP ein Problem, denn bei 2 SVP und 2 FDP wäre die Mehrheit, die den Ausstieg aus der Kernenergie hergestellt hatte, nicht mehr gegeben. Die SP würde den Vorwurf riskieren, den eigenen Machterhalt über die Sachpolitik gestellt zu haben.

Neue Regierungskonkordanz
Das dritte Szenario geht davon aus, dass die Regierungskonkordanz neu definiert werden muss. Die Proportionalität der Regierungszusammensetzung würde erhöht, wenn die BDP nicht mehr vertreten wäre, die SVP mit einem zweiten Sitz bedient würde, die FDP aber einen an die Grünen (und da an die GPS) abtreten müsste. Der zweite Wahlgang bei den Bundesratswahlen, der zu Eveline Widmer-Schlumpf liefe genau gleich ab wie im zweiten Szenario, doch dann käme es bei der Wiederwahl eines der beiden FDP-VertreterInnen zu einer neuerlichen Wende: Sollte die FDP die Parlamentswahlen klar verlieren, die CVP nicht wirklich gewinnen, Rotgrünschwarz aber eine Mehrheit in der Bundesversammlung haben. wäre ein solcher Ausgang denkbar. Er hätte den Vorteil, dass die Regierungsmehrheit weiterhin von Parteien gebildet würde, die in Sachen Kernenergie ausstiegswillig sind. Ein wenig wahrscheinliches Subszenario hierzu wär, dass sich die abgewählte Eveline Widmer-Schlumpf gegen die FDP austellen lasse würde, wofür aber SP, CVP, BDP und GLP eine Parlamentsmehrheit bräuchten. Denn die GPS dürfte einem solchen Vorgehen kaum zustimmen, ist aber Hauptnutzniesserin der Neudefinition der Regierungskonkordanz.

Andere Szenarien
Selbstredend gibt es auch noch weitere Szenarien: eine Regierung ohne SP oder ohne SVP. Doch das wäre der definitive Bruch mit der Regierungskonkordanz. Die Rückkehr zur Zauberformel, 2009 und 2010 bei den damaligen Bundesratswahlen angelegt, wäre die theoretisch reinste Form Konkordanz. Der Verbleib beim Status Quo würde die SVP vor den Kopf stossen, was man zu mindern versuchen könnte, indem der Sitz der BDP beim Rücktritt von Widmer-Schlumpf an die SVP ginge. Die neuen Konkordanzformel hängt in erster Linie vom Wahlergebnis ab. Mit dem wird man auch die Wahrscheinlichkeit der Szenarien bestimmen können.

Uebergeordnete Prinzipien bei der anstehenden Wahl sind die Stabilität des Landes, die Abbildung der politischen Kräfte und die Bestückung der Regierung mit fähigen PolitikerInnen. Das führt fast zwangsläufig zur letzte Frage, die mir in Botschaften regelmässig gestellt wird: Wer wird neu das Aussenministerium leiten? Das ist gar nicht vorhersehbar, pflege ich zu antworten – und mit dem Hinweise zu ergänzen, es sei auch gar nicht so wichtig. Denn anders als in geführten Regierungen, wie der oder die AussenministerIn in der Regel die Nummer 2 der Regierung ist, ist das Prestige des Postens in der Schweiz deutlich tiefer. ChefIn im EDA zu werden, ist eigentlich nur für den Chef im VBS ein Aufstieg.

Claude Longchamp

Bundesbernsehen

“Treffpunkt Bundesplatz”, die grosse Plattform der SRG zu den Parlamentswahlen im Herbst 2011, gehört der Vergangenheit an. Ein guter Moment, um eine Bilanz zu ziehen.

Der Start war verhalten. Denn vor 10 Tagen war schlechtes Wetter – ein Killer für jede Freiluftveranstaltung, wie das beim Treffpunkt Bundesplatz der Fall war. Die SP, die sich an diesem Tag präsentierte, stand förmlich im Regen. Doch dann taute Politbern auf und erstrahlte in der herbstlichen Sonne, welche die Vorstellung der anderen 9 anderen grösseren und kleineren Parteien überstrahlte. Erst am letzten Tag zogen vorübergehend dunkle Wolken auf, wenigstens im übertragenen Sinne, denn die FDP beschwerte sich lauthals, im Parteienporträt schlecht weggekommen gewesen zu sein, sodass ein veränderter Film ausgestrahlt werden musste.

Im Zentrum der regulären Politikvermittlung kurz vor den Wahlen standen PräsidentInnen-Frühstücks im Radio, PolitikerInnen-Diskussionen im Fernsehen und Reden von Hoffnungsträger der Parteien auf dem Bundesplatz. aufgenommen wurde alles in den improvisierten Medienräumen der SRG SSR, zu sehen und zu hören war es jedoch im ganzen Land. 2 bis 3 Kantone waren zudem je einen mit Regierungsdelegationen, Folklore und Souvenirständen zu Gast. Spontan zur Musik aus der Bündner Herrschaft stiess Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, um sie im Bad der Menschenmenge zu stärken, bevor in weniger als 3 Monaten über ihre politische Zukunft entscheiden wird.

Vom Fernsehen ins Bild gerückt wurden resp. durch das Radio zum Wort gekommen kam in den 10 Tages des Treffpunktes Bundesplatz eine grosse Zahl an Prominenz wie alt-Bundesrat Adolph Ogi, der frühere Staatssekretär Franz von Däniken, die Diplomatin Gret Haller und der Auslandjournalist Haig Simonian. Das gilt auch für zahlreiche ExpertInnen der Analyse von Finanzmärkten, der Lehre in Schweizer Geschichte oder der Lehre in politischer Kommunikation. Ja, zahlreiche Politikwissenschafter gaben sich in diesen 10 Tagen die Hand. Ich selber war ich in den vier Wahlarenen zu Migrationsfragen, zur Gesundheitspolitik, zum Ausstieg aus der Kernenergie und zu Ursachen und Folgen des starken Frankens.

Der Rahmen für alle diese Auftritte war würdig. Im südlichen Hintergrund das Bundeshaus, in dem die ParlamentarierInnen zum letzten Mal in der bestehenden Formation tagten, um rechtzeitig vor den Wahlen den Ausstieg aus der Atomenergie zu besiegeln, die integrierte Versorgungskette im Gesundheitswesen einzuführen und das Namensrecht für Verheiratete neu zu regelen. Auf der östlichen Seite stand die Schweizerische Nationalbank fest in der Brandung der Euro-Krise, welche die Schweiz reich und bedroht zugleich macht, ohne dass man das viel beschäftigten Präsidium viel gesehen hätte, während im Westen die 26 Brunnen, je einen Stand im Bundesstaat repräsentierend, die permanente Erneuerung der Kraft im Bundesstaat durch Wahlen darstellten. Im Norden schliesslich ging es fast nahtlos auf den Bärenplatz über, der an Zeiten erinnert, als die Eidgenossenschaft ihre Autonomie im Kaiserreich erlangte, in die italienischen Kriege aller Herren Länder verwickelt war, rasches Geld machte, was dann zur Reformation, der moralisch-sittlichen Gegenbewegung, führte.

Die Reaktionen, die ich hatte auf die ganze Veransaltung hatte, waren überwiegend positiv. Politik machte für einmal Freude. Angesprochen wurde man an jeder Ecke, und gegrüsst wurden man quer durch alle Reihen. Nicht immer sprach man von den Wahlen, aber immer öfter. Von Hoffnungen war die Rede, die politischen Konfrontation möge endlichen ihren Tiefpunkt durchschritten haben, sodass der Gedankenaustausch unter BürgerInnen und mit PolitikerInnen wieder mehr Beachtung geschenkt werden. Vor allem ältere Leute auf dem Platz schätzen es, dass ein Gemeinschaftsgefühl aufkam. Männer und Frauen jeden Alters spielten mit PolitikerInnen Schach oder klopften mit Mediengrössen einen Jass, und jüngere BürgerInnen genossen es, rasch auf ein Bier oder Cüpli vorbeikommen zu können, um einen Hauch von der anstehenden Entscheidung mitzubekommen.

Ich weiss, auf meinen Reisen durch die Schweiz in diesen Tagen bin ich auch negativen Stimmen begegnet. Die sagten, es sei zu viel, worüber man informiert werde. Es werde auch zu viel Propaganda gemacht. Das erzeuge Zwietracht unter (N)Eidgenossen. Davon zeugten die geteilten Reaktionen in der Presse. Ein ehemaliger Chefredaktor des Schweizer Fernsehens, jetzt bei der Konkurrenz tätig, sprach von einer penetranten PR-Offensive der SRG, welche die Politik in Sachen Online-Werbegelder auf ihre Sache ziehen wollen. Andere JournalistInnen wiederum lobten die Dichte an Informationen, die an interessierte Publikum gezielt vermittelt wurden. Meinerseits bekam ich erstmals einen Eindruck von der viel gepriesenen Konvergenz zwischen Senderarten, Landesteilen und neuen Medien. Vorbildlich empfand ich auf jeden Fall die schnelle und informativen Zusammenfassungen der Kernaussagen auf dem Bundesplatz auf Internet. So war man überall dabei, ohne dass man immer vor Ort sein musste!

Noch besser gefallen hat mir, dass Bern, ganz anders als vor vier Jahren nicht durch Politkrawall zwischen SVP und Schwarzem Block auffiel, sondern als Polit-Schweiz in Erscheinung trat. Wie selten bekam man das Gefühl zu spüren, was man mit Politzentrum meinen könnte. So bleiben mir zwei Hoffnungen auszusprechen: Dass die Wahlen mit einem Beteiligungserfolg ausgehen, und dass die SRG auch in Zukunft in die Hauptstadt investiert.

Deshalb: Auf Wiedersehen, Bundesbernsehen!

Claude Longchamp

Wahljahr im Zeichen der Schuhe

Diese Woche war ich jeden Abend unterwegs. In Wahlsendungen, auf Podien und als Vortragsredner. Um über Wahlen, Wahlkämpfe und Wahlanaysen zu sprechen. Hier meine Einleitung zum Hauptreferat.

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“Meistens seien meine Analysen relevant, schrieb jüngst die BernerZeitung. Seltene Abweichungen davon bestätigen die Regel, füge ich bei. Dennoch bin ich vorsichtiger geworden als ich auch schon war: Um mich zu vergewissern, ob ich nur mit dem Kopf arbeite oder auch mein ganzer Körper mitgeht, achte ich auf meine stillen, bisweilen auch unbewussten Veränderungen.

Im Wahljahr 2011 ziehe ich nach 9 Monaten folgende Bilanz: Noch nie habe ich so viele Schuhe gekauft!

An den Schwestern Penelope und Monica Cruz kann es ja nicht liegen. Deren Kampagne für Vögele Schuhe wurde wegen offensichtlichem Misserfolg vorzeitig eingestellt. Wahrscheinlich gehörte ich auch nicht zur anvisierten Zielgruppe. Denn dafür bin ich dann doch zu politisch.

Die ersten Schuhe, die im Wahljahr meine Aufmerksamkeit erheischten, kamen am 1. Januar 2011 mit der Neujahrskarte von Micheline Calmy-Rey. Sie zierten, als offensichtlicher eye-catcher, die Neujahrsgrüsse der Bundespräsidentin. Mancher Genossin dürfte die Atem stecken geblieben sein, denn das Bild hätte auch der Lauterkeitskommission der Werbung zustellt werden können – wegen sexistischer Reduktion einer Frau auf ihre Füsse und Schuhe.

Man hat in der welschen Presse spekuliert, es sei MCR selber gewesen, die in verführerischen Pumps an uns vorbei ging. Genau genommen: aus dem Bild lief. Im Nachhinein könnte man meinen, sie kündigte ihren Rücktirtt aus der Bundesregierung auf ihre Art und Weise an. Dabei verpasste sie es nicht, eine Botschaft zu hinterlassen: Die Kugeln am Boden deutete die Sozialdemokratin wie folgt: “Die Konkordanz ist zerbrechlich, tragen wir ihre Sorge!” Für viele überraschend, die zertretenen Kugel lagen links, rechts bestanden sie noch.

Auf solche Eleganz in der Kommunikation verzichtet das zweite Bild zu meiner These, wir befänden uns im Wahljahr der Schuhe. Dabei geht es nicht um feine Highheels, nein, es dreht sich alles um mächtige Stiefel. Gemeint ist das Wahlplakat, das die SVP laudauf, landab schalten lässt, um die Wähler zu mobilisieren. Da läuft auch niemand davon, nein, da wird eingewandert. Massenhaft. Man glaubt auch zu erkennen, es seien keine Frau daruntern, nur Männer, wohl direkt aus …

Lassen wir das! Fakt ist, verwendet wird eine faschistische Symbolik – von einer nicht-faschistischen Partei. Die Grenzüberschreitung hat System: Es geht um Provokation, an die Adresse der Gutmenschen, die hysterisch aufschreien sollen. Damit sich die Presse dem Ganzen annimmt, damit die Geschichte bis zu den Wahlen weiter erzählt werden kann, wibei man genau weiss: Kein Schweizer Gericht wird auf denkbare Klagen wegen Verletzung der Rassismusnorm eintreten.

Meine Damen und Herren: Beide Bilder bewegen, aber unterschiedlich. Das ein kleidet die Haut, damit wir uns fragen, wo wir stehen. Das andere geht unter die Haut, damit wir keine Fragen mehr stellen, sondern handeln. Herrn Segert, dem Werber der SVP, rufe ich zu: Bingo! Ihr Bild kam selbst in meinen Träumen vor, was beweist, dass sie eine meiner Emotionen getroffen haben, auch wenn mein Kopf das nicht zugehen will. Das beweist, dass man Veränderungen in Kampagnen gefühlmässig mindestens so klar erkennen kann wie verstandesmässig. Wer Kampagnenanalysen vor Wahlen betreibt, sollte das nicht vergessen. Und nun zu Sache selber!

Claude Longchamp

PolitologInnen in der Medienöffentlichkeit

Ich bin seit der BZ-Publikation über PolitologInnen im Wahlkampf mehrfach angegangen worden, weshalb es PolitologInnen in der Oeffentlichkeit brauche. Nicht nur von PolitologInnen, auch von PolitikerInnen, JournalistInnen und BürgerInnen. Hier mein Versuch einer allgemeinen Antwort.

Im deutschen Sprachraum hat sich keiner so gründlich mit Sprechern in der modernen Oeffentlichkeit auseinander gesetzt, wie der Soziologe Friedhelm Neidhardt. Oeffentlichkeit, bestimmte der ehemalige Präsident des Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, müsse Transparenz herstellen, Fakten spiegeln, Meinungen prüfen, um dem Publikum Orientierungshilfen anzubieten. Da etablierte Positionen wie jene des Staates oder der organisierten Akteure in der Medienöffentlichkeit tendenziell mainstreaming seien, komme SprecherInnen in Medien die Aufgabe zu, untervertretene Standpunkte zu artikulieren: Sie repräsentieren mitunter das Volk, statt das den Behörden zu überlassen; sie sprechen für die Minderheit statt für die Mehrheit; sie sind Fachleute, wo Laienstandpunkte vorherrschen; und sie moralisieren, wo der Eigennutzen im öffentlichen Auftritt seine Begrenztheit übersieht.

Bezogen auf PolitologInnen als Sprecher in der Oeffentlichkeit schliesse ich auf drei mehr oder minder akzeptierte Medienrollen:

Sie informieren als ExpertInnen,
sie intervenieren als Intellektuelle, und
sie handeln als FürsprecherInnen.

ExpertInnen unter den PolitikwissenschafterInnen haben Routinen im Umgang mit neuen Gegebenheiten, kennen die Sache aus eigener Erfahrung und sind zu Abstraktionen fähig, welche es ihnen erlaubt, ihr überdurchschnittliches Wissen mit Erfolg auf neue Situationen anzuwenden. ExpertInnen sind auf ihrem Gebiet Spitze; sie haben sich als Instituts-, Forschungs- oder Projektleiter etabliert. Sie haben sich durch Literaturkenntnisse und eigene Publikationen nicht nur eine interne Reputation erworben; sie verfügen auch über Kommunikationskompetenzen, die ihnen externe Reputation bring. In der Milizkultur der Schweiz, sind ExpertInnen angesichts globaler Phänomene, welche die Oeffentlichkeit beschäftigen, internationaler Trends, die vor den Grenzen nicht halt machen, aber auch der Spezialisierung der Diskurs gefragter denn je. Voraussetzung dafür ist allerdings, sehr gute Sprachfertigkeiten haben, live im Fernsehen zu bestehen, de persister en direct à la radio, or to be active as wellknown blogger. ExpertInnen in der Oeffentlichkeit sind sachorientiert, können schnell denken, sind verständlich in ihrer Argumentation, und rheorisch gewandt in der Diskussion.

Intellektuelle PolitologInnen haben ihr Fenster der Gelegenheiten. Denn sie leben davon, dass es in der Medienöffentlichkeit immer wieder übervertretene Standpunkte gibt, zu denen sie Gegensteuer geben. Schon deshalb sind sie parteiisch, verfolgen sie ausgewählte Themen, haben sie ein Projekt. Intellektuelle Politologen misstrauen den Mächtigen, haben eine republikanische Gesinnung, sind die Sachwalter der Moral, wenn sie vor die Hunde zu gehen droht. Intellektuelle emören sich, um Widerstand zu organisieren. In der Oeffentlichkeit intellektuell zu intervenieren, darf indessen nicht zur Routine werden; im Zweifelsfalle gilt: Hättest Du geschwiegen, wärst Du eine oder ein Intellektuelle(r) geblieben! Intellektuellen unter den PolitologInnen geht es ähnlich wie denen unter den Schriftstellern: nicht jede(r), der sich dazu zählt, taugt als dazu. Intellektuelle Bücher dürfen uns nicht einfach unterhalten, sie müssen uns zu Veränderungen inspirieren.

Fürsprecher unter den PolitwissenschafterInnen haben Mandate, vertreten aber nicht einfach ihren Mandanten, vielmehr ihre eigene Sache, die zu der ihrer Mandaten werden kann. Fürsprechen müssen Transparenz walten lassen, wen sie vertreten,. ohne dass sie deshalb zu schlechten Sprechern werden. Da sind die AnwältInnen den PolitologInnen noch voraus. Fürsprecher arbeiten meist als Selbständige für den Staat, für die Verbände, für die Parteien, für Bewegungen oder Denkfabriken, um ihre Mandaten auf Konflikte vorzubereiten oder sie in einer öffentlichen Debatte zu stärken. Letztlich sind sie BeraterInnen. Man erwartet, dass sie klare Standpunkte einnehmen, dafür Positionen beziehen, Interessen vertreten. Doch müssen sie akzeptieren, dass auch das Gegeninteresse mit Fürsprechern auffährt. Das fordert von ihnen eine professionelle Selbstbeschränkungen, von ihren Mandaten eine gewisse Selbstbegrenzungen, und von den Medien minimale Fairness.

Ich weiss, AbsolventInnen eines Politologiestudium können auch ganz anderes machen. Sie können ihre Ausbildung als GeneralistInnen-Training verstehen und danach irgend einen Beruf ergreifen. Oder sie werden GeneralsekretärInnen von Parteien, LeiterInnen von Public Affairs Abteilungen in Verbänden, oder in Denkfabriken für Bewegungen arbeiten. Wenn sie als das in der Oeffentlichkeit auftreten, sind sie vor allem RepräsentantInnen ihrer Organisationen. Das gilt weitgehend auch für PolitologInnen, die in die Medien gehen, zu PublizistInnen werden, sich als Meinungsführer betätigen, oder in Regierungen gewählt werden. Ihr Status als ausgebildete PolitikwissenschafterInnen in Medien- und Politikberufen qualifizert sie nicht als PolitologInnen in der Oeffentlichkeit – ausser auch sie nehmen eine der drei Rollen ein, die ich zu den spezifischen und akzeptierten gezählt habe.

Claude Longchamp

Mein Spinnennetz

Sieben BundesrätInnen hat die Schweiz – und sieben medienwirksame PolitikwissenschaftInnen. Das jedenfalls suggeriert die Bernerzeitung mit ihrem heutigen Rating (Bericht auf newsnetz, Rating selber leider nicht) zu unserer Berufsgilde unter dem Titel “Das Schattenregime der Politologen”.

Top_Politologe

Die Auslegeordnung, die BZ-Journalist Jürg Steiner mitten im Wahlkampf riskiert, liesst sich gut. Denn sie kommt im richtigen Moment, und sie ist nicht ohne Augenzwinkern gemacht. Verwendung findet nämlich das Spinnennetz von smartvote, das Instrument also, das Politwissenschafter gebrauchen, um Politiker zu bewerten, ausser dass nun der Medienschaffende die Politologen bewertet.

Als “Vermessener” danke ich zuerst: Denn selten wurden die Kriterien, nach denen wir PolitologInnen in der Praxis von JournalistInnen taxiert werden (können), so klar und deutlich offen gelegt, wie in diesem Zeitpunkt-Beitrag. Und selten konnte man sich so klar in Beziehung setzen zu den medialen Mitbewerbern.

So entnehme ich den Spinnennetzen, Wissenschaftlichkeit, Prägnanz, Unterhaltungswert, Originalität, Parteilichkeit, Geschwindigkeit, Relevanz und Präzision sind von journalistischem Belang, um im Wahlkampf an unsere Gilde zu gelangen. Ich weiss jetzt auch, dass Michael Hermann in Sachen Geschwindigkeit, Prägnanz und Wissenschaftlichenkeit besser sei als ich, Regula Stämpfli wieder origineller und unterhaltsamer, und Adrian Vatter präziser. Meine Gesamtbilanz ist durchaus robust, und ich selber werde, was mich freut, als der relevanteste taxiert!

Doch: Warum fehlt Andreas Ladner, der Politologe von TeleZüri, auf der Liste, kommt dafür Hans Hirter vor, der Pensionär. Und warum ist die Verständlichkeit unserer Analysen kein Beurteilungskriterium? Schliesslich: Was macht es aus, das Politgeograf Hermann für einen Medienschaffenden der wissenschaftliste Politologe ist? Zu gerne würde man auch solches erfahren, denn die BZ kritisiert unsere Berufsgilde mitunter wegen mangelnder Transparenz – ohne selber offen zu legen, wie sie zu ihren Schlüssen kommt.

Als “Doyen des politologischen TV-Auftritts” erlaube ich mir eine Methodenkritik: Sieben der acht Kritierien im Rating sind so ausgerichtet, dass es positiv ist, je mehr Ratingpunkte man bekommt. Beim achten versagt diese Logik. Es betrifft die Parteillichkeit, bei der Regula Stämpfli in der BZ auf den Idealwert kommt, dafür aber regelmässig gescholten (und bisweilen auch geschnitten) wird! Und so frage ich: Sollen wir parteilich oder unparteileich sein? Das ist nicht nur ein rhetorisches Nachhaken: Die Erwartung des Publikums ist nämlich durchwegs “unparteilich”, die der JournalistInnen nicht wirklich – nicht zuletzt, damit sich die VerfasserInnen von Artikeln oder Interviews dahinter verstecken zu können, wie Roger Blum, emeritierter Professor für Medienwissenschaft, einst so treffend analysierte.

Damit bin ich beim springenden Punkt: In den meisten Zusammenhängen, in denen ich beispielsweise medial zitiert werde, stützen sich Medienschaffende entweder (ohne Nachfrage) auf ältere Aussagen, die in ihrer Mediendatenbank abgelegt sind, oder auf Antworten zu Fragen, welche sie selber formuliert haben. Da kann man nur mitmachen oder absagen; Einfluss nehmen auf die Stossrichtung kann man kaum. Nur im Ausnahmefall setzen wir mit Studien oder Essays die Themen oder Argumente, die schliesslich vermittelt werden. Die Macht der PolitologInnen kleiner als die Macht der Berichte über sie.

Eines sollte man nicht übersehen: Die “Parade der Politologen” wird nicht durch die Politwissenschafter organisiert, sondern von den Medienhäuser bestimmt. Die MedienpolitologInnen sind deshalb auch “Schattenregime”, sondern IndividualistInnen mit Rivalitäten, die sich nie koordinieren werden, um gemeinsame Positionen zu vertreten!

Ueberhaupt: Die “heimliche Macht”, die uns der Aushang unterstellt, kann nur ausserhalb von Oeffentlichkeit entstehen – basiert Macht auf Oeffentlichkeit, wie das bei der Medienpolitologie per definitionem der Fall ist, ist sie nicht heimlich.

Claude Longchamp

Die Piratenpartei entert in Berlin – und in Bern?

Sicher, der Aufstieg der Piratenpartei in Berlin gehört zu den Besonderheiten der Wahl von gestern. Fast 9 Prozent aus dem Stand sind viel. Die entscheidende Frage dazu ist: Zeichnet sich ein neuer Trend über Berlin oder gar die deutschen Grenzen hinaus ab?

Piratenpartei-Berlin

2006 gegründet, profitierte die deutsche Piratenpartei anfänglich von Debatten im Internet, welche den freien und sicheren Zugang zu e-Infomationen betrafen. 2008 beteiligte man sich an den Bundestagswahlen, blieb aber unter 2 Prozent Wählendenanteil stehen. Schon damals zeigte sich, was Kollege Gero Neugebauer aus Berlin heute mehrfach sagte: Die Piraten sind ein Grossstadtphänomen. Denn auch 2008 erreichten sind verschiedenen Berliner Stadtbezirken einen Anteil von rund 10 Prozent.

Ausgehend von den Berliner Piraten hat die Partei ihr ursprüngliches Profil verändert. Sie hat verschiedene gesellschaftspolitischen Forderungen in ihr Parteiprogramm übernommen. So das Grundeinkommen für alle, so auch die Gratisfahrten im öffentlichen Nahverkehr. Das hat sie bei linken WählerInnen empfohlen.

Die heute präsentierte Wählerwandungsanalyse bestätigt das. Zur Berliner Piratenpartei gibt es vier Zugänge: Man war bisherige(r) NichtwählerInnen, man stimmte das letzte Mal für die SPD, die Linke oder die Grünen. Andere Wanderungsgewinne sind in Berlin deutlich geringer.

Jörg Schönenborn, der Wahlkommentator von ARD, analysierte die gestrige Wahltagsbefragung auf seinem Blog so, dass die Wahl der Piratenpartei in erster Linie altersabhängig ist. Bei den unter 35jährigen machten sie jede 6. Stimme. Je älter die Wählenden sind, desto kleiner wurde der Anteil Piraten unter ihnen. Uebervertreten sind die Piraten auch bei selbständig Erwerbenden und bei Männern. Selbstredend ist eine hohe Internetaffinität die wichtigste Voraussetzung der Wahl.

Die eigentliche Kernwählerschaft der jungen Partei dürfte sehr klein sein. Denn noch im Juli war sie im Berliner Politbarometer kaum erkennbar, stieg dann aber von Woche zu Woche auf knapp 7 Prozent an, um schliesslich bei 8,9 Prozent zu enden.

Und in der Schweiz? Ja, es gibt sie auch, die Piratenpartei. Sie entstand 2009 in der Stadt Zürich. In Winterthur eroberte sie ihren ersten Sitz in einem Stadtparlament. In Bern, wo sie bei den letzten Grossratswahlen antrat, haperte es indessen. Die neue Partei blieb bei 0.7 Prozent der Stimmen stehen.

Programmatisch entspricht man in der Schweiz eher noch der Ursprungsidee der Piraten, die ihren Anfang in Schweden hatten: Unzensurierter Zugang zu Daten, Informationen und Wissen steht in der Schweiz im Zentrum der Forderungen. Förderung der Bürger- und Menschenrechte ergänzt das ganze zaghaft.

Zu den Problemen der Partei zählt, dass sie nur gering ausgeprägte Parteistrukturen hat. Das unterscheidet sie zwar nicht von neuen Parteien. Es erschwert jedoch eine verbindliche programmatische Diskussion und den gezielten Aufbau des politischen Personals.

In der Schweiz kommt hinzu, dass sich mit den Grünliberalen in den letzten 5 Jahren eine neue Partei in zahlreichen Kantonen am etablieren ist, die ebenfalls von der parteipolitisch wenig gebundenen urbanen Wählerschaft lebt. Für Neuwählende ist sie genau so interessant wie für enttäuschte WählerInnen von SP bis FDP. Das macht jeder weiteren Partei, die von vergleichbaren Potenzialen leben könnte, das Leben schwer.

So wäre es meines Erachtens eine Ueberraschung, wenn die Piraten auch im Bundeshaus entern würden, wie man heute auf dem neu eröffneten “Treffpunkt Bundesplatz” spekuliert hat.

Claude Longchamp