Szenarien für die Bundesratswahlen vom 14. Dezember 2011

Gegenwärtig bin ich häufiger Gast in ausländischen Botschaften. Mit schöner Regelmässigkeit erwartet man von mir Auslegeordnungen zu den anstehenden Bundesratswahlen. Hier meine Kernbotschaften.

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Niemand weiss, was am 14. Dezember 2011 geschieht. Weil die Bundesversammlung den Bundesrat wählt. Und die Wahl der neuen Bundesversammlung am 23. Oktober 2011 erst beginnt und mit den zweiten Wahlgängen für den Ständerat am 30. November 2011 endet. Die neue Zusammensetzung des Nationalrates kann man noch einigermassen erahnen, die des kommenden Ständerates ist unklarer.

In solchen Situation verzichtet man am besten auf jegliche Prognose. Machbar aber sind aber Szenarien: mögliche Zukünfte, bei denen man zwischen Wünschbarkeit und Wahrscheinlichkeit unterscheidet. Wissenschaftlich von Belang ist nur die Ausprägung möglicher Szenarien, verbunden mit ihrer Probabilität. Entscheidungen zur Wünschbarkeit sind Sache der Politik.

Ich halte (gegenwärtig) fünf Szenarien für hilfreicht; einigermassen realistisch sind drei, wobei zwei noch je ein Subszenario beinhalten:

erstens der Status Quo,
zweitens die Rückkehr zur alten Zauberformel und
drittens die Neudefinition der Regierungskonkordanz.

Status Quo
Beim Status Quo geht man vom Machterhalt aus. Das ist die normalste Logik bei Bundesratswahlen. Es bleibt alles wie es ist. Veränderungen in der parteipolitischen Zusammensetzung sind erst bei Rücktritten angesagt. Und auch dann nur, wenn sich das Parteiegefüge nachhaltig verändert hat. An diesem Szenario interessiert ist vor allem die BDP. Sukkurs erhält sie von der CVP. Auf Status Quo setzen aber auch SP und FDP, denn sie könnte je einen Sitz verlieren. Kein Interesse an dieser Variante hat die SVP. Die sie bliebe bis auf Weiteres halb drinnen und halb drassen. Allerdings, die SP risikiert am meisten, denn sie hat die Nachfolge von Micheline Calmy-Rey im Bundesrat zu regeln. Um diese geht es im letzten Wahlgang. Das ist der Moment aller Wadenbeisser, die sanktionslos zuschlagen können. Ohne Absicherung bei den anderen Parteien wird das für die SP zur Zitterpartie, denn die SVP hat bereits angekündigt, dass sie ihren zweiten Sitz notfalls auch gegen die SP holen wolle.

Alte Zauberformel
Das macht ein vorgängiges Arrangement der interessierten Parteien denkbar. Gefordert sind vor allem SVP und SP, allenfalls auch FDP. Die drei (voraussichtlich auch inskünftig) wählerstärksten Parteien in der Schweiz könnten sich auf die alte Zauberformel einigen. Sie bekämen je zwei VertreterInnen im Bundesrat, die vierte Partei einen. Damit wird das machtpolitische Gerangel beseitigt. Allerdings wäre das auch das Ende der kleinen BDP als Bundesratspartei, und Eveline Widmer-Schlumpf würde abgewählt oder würde sich im letzten Moment zurückziehen. Hauptinteressent an dieser Variante ist die SVP, Denn die Parteienlandschaft hat sich seit 1959, als diese Regel erfunden wurde, massgeblich verändert. Die SVP ist stark gewachsen, die FDP und die CVP sind stark geschrumpft. Neu hinzugekommen sind die Grünen. Das liefert denn auch den Haupteinwand: die 2:2:2:1 Formel findet in der Parteienlandschaft keine wirkliche Entsprechung mehr. Das Subszenario käme dann zum Tragen, wenn die CVP die FDP im Nationalrat überholen sollte. Dann würde nicht nur die BDP-Bundesrätin über die Klinge springen müssen, auch ein FDP wäre dann gefährdet. Das gäbe der CVP die Möglichkeit, der BDP eine Fraktionsgemeinschaft anzubieten, ihre Bundesrätin zu belassen um dereinst den Sitz zu erben. Die SVP würde dann zulasten der FDP bedient. Im Hauptszenario hat die SP ein Problem, denn bei 2 SVP und 2 FDP wäre die Mehrheit, die den Ausstieg aus der Kernenergie hergestellt hatte, nicht mehr gegeben. Die SP würde den Vorwurf riskieren, den eigenen Machterhalt über die Sachpolitik gestellt zu haben.

Neue Regierungskonkordanz
Das dritte Szenario geht davon aus, dass die Regierungskonkordanz neu definiert werden muss. Die Proportionalität der Regierungszusammensetzung würde erhöht, wenn die BDP nicht mehr vertreten wäre, die SVP mit einem zweiten Sitz bedient würde, die FDP aber einen an die Grünen (und da an die GPS) abtreten müsste. Der zweite Wahlgang bei den Bundesratswahlen, der zu Eveline Widmer-Schlumpf liefe genau gleich ab wie im zweiten Szenario, doch dann käme es bei der Wiederwahl eines der beiden FDP-VertreterInnen zu einer neuerlichen Wende: Sollte die FDP die Parlamentswahlen klar verlieren, die CVP nicht wirklich gewinnen, Rotgrünschwarz aber eine Mehrheit in der Bundesversammlung haben. wäre ein solcher Ausgang denkbar. Er hätte den Vorteil, dass die Regierungsmehrheit weiterhin von Parteien gebildet würde, die in Sachen Kernenergie ausstiegswillig sind. Ein wenig wahrscheinliches Subszenario hierzu wär, dass sich die abgewählte Eveline Widmer-Schlumpf gegen die FDP austellen lasse würde, wofür aber SP, CVP, BDP und GLP eine Parlamentsmehrheit bräuchten. Denn die GPS dürfte einem solchen Vorgehen kaum zustimmen, ist aber Hauptnutzniesserin der Neudefinition der Regierungskonkordanz.

Andere Szenarien
Selbstredend gibt es auch noch weitere Szenarien: eine Regierung ohne SP oder ohne SVP. Doch das wäre der definitive Bruch mit der Regierungskonkordanz. Die Rückkehr zur Zauberformel, 2009 und 2010 bei den damaligen Bundesratswahlen angelegt, wäre die theoretisch reinste Form Konkordanz. Der Verbleib beim Status Quo würde die SVP vor den Kopf stossen, was man zu mindern versuchen könnte, indem der Sitz der BDP beim Rücktritt von Widmer-Schlumpf an die SVP ginge. Die neuen Konkordanzformel hängt in erster Linie vom Wahlergebnis ab. Mit dem wird man auch die Wahrscheinlichkeit der Szenarien bestimmen können.

Uebergeordnete Prinzipien bei der anstehenden Wahl sind die Stabilität des Landes, die Abbildung der politischen Kräfte und die Bestückung der Regierung mit fähigen PolitikerInnen. Das führt fast zwangsläufig zur letzte Frage, die mir in Botschaften regelmässig gestellt wird: Wer wird neu das Aussenministerium leiten? Das ist gar nicht vorhersehbar, pflege ich zu antworten – und mit dem Hinweise zu ergänzen, es sei auch gar nicht so wichtig. Denn anders als in geführten Regierungen, wie der oder die AussenministerIn in der Regel die Nummer 2 der Regierung ist, ist das Prestige des Postens in der Schweiz deutlich tiefer. ChefIn im EDA zu werden, ist eigentlich nur für den Chef im VBS ein Aufstieg.

Claude Longchamp