Die Zukunft Chimerikas

Er ist der Optimist unter allen Analytikern der USA in der Zeit nach der Finanzkrise: Niall Ferguson, 45, britischer Historiker an der amerikanischen Harvard University. Der begnadeste Geschichtsprofessor seiner Generation, publizistisch vor allem im Fernsehen und mit Artikeln und Büchern dazu aktiv, erfand (mit Moritz Schularik) auch den Begriff “Chimerika”, ein Schachtelwort aus China und Amerika, weil die Oekonomien beider Länder engstens miteinander verhängt seien.

Stellt man sich die Wirtschaft beider Länder als die eines einzigen vor, kommt dieses Chimerika auf 13 Prozent der Landmasse, stellt ein Viertel der Erdbevölkerung, kommt auf etwa ein Drittel des Bruttosozialprodukts und auf circa die Hälfte des globalen Wirtschaftswachstums der letzten sechs Jahre.

Sehr einfach ausgedrückt, besorgte die eine Hälfte, die Westchimeriker, das Sparen und die andere, die Ostchimeriker, das Ausgeben. Die USA erzeugten Wachstum durch Bauen mit Schulden, während die Chinesen mit höher Produktion zu tiefen Löhnen Kredite vergaben. Doch dann enthüllte eine Welle geplatzter Hypotheken an Kreditnehmer mit schlechter Bonität, wie instabil Chimerika war.

“Wie immer bei Blasen”, sagt der Wirtschaftshistoriker, “ging schnelles Geld mit einer laxen Kreditvergabe und glattem Betrug einher.” Der Kollaps am Immobilienmarkt habe deshalb so verheerend gewirkt, weil die Banken die ursprünglichen Kredite gebündelt, in Scheibchen geschnitten und durcheinander gewürfelt und sie an Investoren in aller Welt verkauft hätten. Die Rating-Agenturen ihrerseits hätten die Premium-Etage dieser Produkte als AAA eingestuft: Quintessenz der Finanz-Alchemie. Als sich das vermeintliche Gold erst in Blei und dann in Giftmüll zurückverwandelt habe, waren die Folgen fatal.

Eine unausweichliche Konsequenz der Kreditkrise ist, dass die Vereinigten Staaten in absehbarer Zeit langsamer wachsen werden: eher ein als zwei Prozent pro Jahr statt der drei oder vier Prozent wie bisher. Dagegen kann Chinas Semi-Planwirtschaft, angetrieben von staatlich verordneten Investitionen in die Infrastruktur und wachsender Nachfrage der Konsumenten, auch weiterhin bequem um acht Prozent jährlich wachsen.

Mit einem von Amerika abgekoppelten China scheint das Ende Chimerikas nahe. Und mit dem Ende Chimerikas muss sich das globale Machtgleichgewicht verschieben, prognostiziert der Historiker. China kann andere Sphären globaler Einflussnahme erkunden, zum Beispiel im rohstoffreichen Afrika.

“Jedoch”, bilanziert Ferguson, “die Geschichte hat einen Dreh. Kommentatoren sollten, bevor sie Niedergang und Fall der Vereinigten Staaten prophezeien, immer zögern, sagt der Optimist. Die USA haben schon mehr als eine katastrophale Finanzkrise überlebt und sind jeweils geopolitisch gestärkt aus ihr hervorgegangen, galubt Ferguson aus der Geschichte herauslesen zu können. Der Grund dafür ist, dass solche Krisen, so schlimm sie daheim auch scheinen mögen, Amerikas Rivalen offenbar noch härter treffen.”

Ferguson ist für seine publizistischen Offensiven zugunsten der amerikanischen Finanzwelt ist in Fachkreisen vielfach kritisiert worden. Ein Teil der Kritik betrifft die mediale Präsenz, der andere die Nähe zur Propagnada für den Turbokapitalismus. Der Vorwurf, Halbwahrheiten mit phantasievollen Spekulationen, akademisch gekleidet, aber nur spärlich belegt zu veröffentlichen, hat dem Tausendsassa der gegenwärtig Historikerzunft nicht geschadet. 2010 kehrt er nach Grossbritannien zurück, um an der LSA über die Finanzgeschichte der Welt zu forschen und zu lehren.

Claude Longchamp

Niall Ferguson: The Ascent of Money: A Financial History of the World, Penguin Books 2008 (dt. Der Aufstieg des Geldes. Die Währung der Geschichte, Berlin 2009)