Joe Stiglitz’ Stimme: Kritik des Ersatzkapitalismus’

Im Interview mit der heutigen “Sonntagszeitung” nimmt Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz kein Blatt vor den Mund. Er kritisiert Wirtschaft und Politik für ihr Fehlverhalten in der Finanzkrise. Er wirft dem Staat vor, einen Ersatzkapitalismus zu betreiben, und geisselt das Verhalten der Banker, die während der Krise ein Time-out genommen hätten.

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Joe Stiglitz: Kritiker des Ersatzkapitalismus, indem sich die Wirtschaft darauf verlässt, vom Staat gerettet zu werden.

“Das System hat nicht funktioniert. Wir konnten einzig mit Ach und Krach verhindern, dass es nicht kollabiert”, bilanziert Joesph E. Stiglitz das Verhalten der Regierungen auf die Finanzkrise. Der dafür bezahlte Preis sei hoch, “Menschen stehen auf der Strasse, weil sie ihr Haus verloren haben, und die Löhne des Mittelstandes stagnieren, ja sie fallen sogar”, fährt der Oekonomieprofessor fort, um zur Bilanz zu gelangen: “So haben sich die Menschen einen funktionierenden Kapitalismus weiss Gott nicht vorgestellt.”

Stiglitz hat für die Kritik der gängigen Markttheorien mit anderen den begehrten Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen. Effizient wären die Märkte, doziert er, wenn die Information perekt wäre, das heisst alle Marktteilnehmer alles wüssten. Doch das stimme in der Praxis nie; vielmehr seien die Informationen ungleich verteilt, was zu Verzerrungen und zu Blasen führe.

Führende Oekonomen, vor allem in der US-amerikanischen Notenbank unter Alan Greenspan und Ben Bernanke, würden das gerne übersehen, täuschten sich erstens jedoch, verklärten zweitens das Marktverhalten zur Religion und begründeten drittens ein Anreizsystem, das mit riesigen Boni zu dummem Handeln anleite.

Stiglitz wendet sich vor allem gegen den Ersatzkapitalismus, weil in dem vor allem die Banker risikolos mit der Herde laufen könnten. Letztlich hätten sie immer darauf gesetzt, dass der Staat sie retten würde. “Wir waren alle Keynsianer – für sechs Monate”, scherzt er im Interview, und doppelt gleich noch nach: Nach dem Ausbruch der Krise hätten die Waalstreet-Banker ein Time-out genommen, seien nach Florida gegangen, um Ferien zu machen. Jetzt, wo sie dank Rettungsplänen wieder Boden unter den Füssen hätten, kämen sie wieder an die Börse und würden vom Staat verlangen, den Gürtel enger zu schnallen, um die Staatsdefizite zu senken.

Die Antwort des kritischen Oekonomen ist anders: Der Staat müsse intelligent investieren, um Wachstum zu ermöglichen, mit dem man Schuldenabbau betreiben könne. Besser Schulen und bessere Infrastrukturen empfiehlt er hierfür; Ausgaben für Militär bezeichnet er dagegen als Geldvernichtung, um Feinde zu bekämpfen, die nicht existierten. Generell plädiert er für eine sinnvolle Partnerschaft zwischen Staat und Markt, wie sie etwa in Kanada praktiziert werde.

Der frühere Berater Bill Clintons rechnet damit, dass die Vereinigten Staaten in absehbabrer Zukunft die grösste Volkswirtschaft bleiben, ihr politischer Einfluss in der Welt aber abnehmen werde, nicht zuletzt weil der soziale Zusammenhant in der amerikanischen Gesellschaft schwinde, Interessengegensätze zwischen Banken und Gewerbe zunähmen. Das blockiere nun die Politik.

Ein erhellendes Interview, das die Gegenwartspolitik in ihren Zusammenhängen und einer vertieften Diskussion Wert ist, füge ich (nach einer Ferienwoche und Abwesenheit auf dem Blog) hinzu.