Der Prozess der Resultatermittlung bei der Personenfreizügigkeit

Die Börse zur Personenfreizügigkeit, aufgeschaltet auf der Webseite von SF, schliesst am Morgen des heutigen Abstimmungssonntages im Verhältnis von 52,8 zu 47,2. Damit rechnen die Händler, die sich an der kollektiven Wette beteiligt haben, mit einer recht knappen Zustimmung zur Personenfreizügigkeit in der Abstimmung. Das ist die letzte Annahme zur Volksentscheidung, bevor die Hochrechnung von heute nachmittag erstmals etwas über Ergebnisse bekannt geben wird.


Die Abstimmungskarte heute morgen auf www.tagesanzeiger.ch: mit Sicherheit nur ein Fake und kein Ergebnis

Wahlbörsen unterscheiden sich in dreierlei Hinischt von Befragungen der StimmbürgerInnen. Sie handeln mit Aktien, deren Kurswert angibt, was man für einen Ausgang erwartet. Der Aktienwert, der sich mit der Zeit meist einpendelt, gibt die mittlere Erwartung an. Die Teilnahme ist offen; wenn die Zahl der Teilnehmenden gross genug ist, und wenn die Wette lang genug läuft, mittet sich die kollektive Annahme meist ein.

Repräsentativ-Befragungen wiederum basieren auf einer systematischen Auswahl unter den Stimmberechtigten resp. der teilnahmewilligen BürgerInnen. Sie ermitteln per Interview die individuellen Stimmabsichten, die dann aggregiert eine Aussage über das voraussichtliche Ergebnis insgesamt und nach Merkmalsgruppen wie Parteibindung, Schicht oder Sprache zulässt.

Da Aussagen in Wahlbörsen anders als in Wahl- oder Abstimmungsbefragungen nicht auf einer repräsentiven Stichprobe von InformantInnen basieren, kann man hier auch keine Fehlerquoten angeben. Bei der erwähnten Abstimmungsbefragung betrug diese gerundet maximal +/- 3 Prozentpunkte.

Befragungen vor Abstimmungen müssen in der Schweiz 10 Tage vor dem entscheidenden Sonntag publiziert sein. Mit anderen Worten: Sie werden in der Regel in der 3. Woche vor dem Abstimmungssonntag letztmals aufdatiert. So reflektiert die letzte veröffentlichte Umfrage zur Personenfreizügigkeit, welche die SRG publiziert hat (50% bestimmt oder eher Ja, 43 % bestimmt oder eher Nein; 7 Prozent unentscheidene unter den Teilnahmewilligen), die Entwicklungen der Meinungsbildung in den letzten Tage nicht.

Befragungen und Wahlbörsen ermitteln aber keine Ergebnisse. Sie sind Bestandesaufnahmen (Befragungen) resp. Prognosen (Börsen). Ergebnisse gibt es erst, wenn fertig abgestimmt und gezählt worden ist.

Um 14 Uhr erscheint in den SRG-Medien die Hochrechnung zur Personenfreizügigkeit. Ausser das Ergebnis falle ganz knapp aus, weiss man dann, wie sich die Schweiz entschieden hat. Das provorische Endergebnis verkündet die Bundeskanzlei heute Abend um zirka 17 Uhr; dann nimmt auch der Bundesrat zum Ausgang der Entscheidung Stellung. Das definitive Endergebnis wird in zirka 6 Wochen im Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft erscheinen.

Claude Longchamp

Welche Kantone stimmen am 8. Februar 2009 ähnlich wie die Schweiz?

Acht Mal stimmte die Schweiz in den letzten 36 Jahren über ihre Verhältnis zur EU ab. 2 Abstimmungen betrafen Modalitäten des EU-Beitritts, 6 waren Entscheidungen über die Zusammenarbeit. Eine Uebersicht, was man aus der Kantonsanalyse hierzu für Schlüsse mit Blick auf die kommende Volksabstimmung zur Personenfreizügigkeit ziehen kann.


1972: EWG-Freihandelsabkommen; 72,5 % Ja, 22 Stände dafür (alle Karten: www.swissvotes.ch)

Die 6 Volksabstimmungen, die in der Schweiz abgehalten wurden, und das Verhältnis zur EU unterhalb des Beitrittsniveaus regelten, zeigten sehr unterschiedliche Ergebnisse: Das Freihandelsabkommen von 1972 und das Paket Bilaterale 1 wurden klar (fast) flächendeckend angenommen; sie erhielten Zustimmungswert von rund 70 Prozent. Das Paket Bilaterale II, auch unter dem Titel Abkommen von Schengen und Dublin bekannt, die (erste) Osterweiterung der Personenfreizügigkeit und die Ostzusammenarbeit, über die 2005 resp. 2006 entschieden wurde, kamen ebenfalls alle durch, wenn auch mit Zustimmmungswerten von 53 bis 56 Prozent einiges knapper. Abgelehnt wurde der Beitritt zum EWR 1992, als sic 16 Kantone und 50,3 Prozent der Stimmenden dagegen aussprachen.


1992: EWR-Vertrag; 49,7 % Ja, 7 Stände dafür

6 Mal zugestimmt haben Bern, Solothurn, Luzern, Zürich und Zug. Der EWR bildet hier die einzige Ausnahme.

4 Mal eine EU-Kooperationsvorlage bewilligt, zwei Mal abgelehnt haben Aargau und Graubünden. Auch hier ist der EWR die eine Ausnahme, die Abkommen von Schengen und Dublin sind die andere.


2000: Bilaterale 1; 67,2 % Ja, 22 Stände dafür

6 Mal zugestimmt haben Bern, Solothurn, Luzern, Zürich und Zug. Der EWR bildet hier die einzige Ausnahme.

4 Mal eine EU-Kooperationsvorlage bewilligt, zwei Mal abgelehnt haben Aargau und Graubünden. Auch hier ist der EWR die eine Ausnahme, die Abkommen von Schengen und Dublin sind die andere.


2005: Bilaterale II (Abkommen von Schengen/Dublin); 54,6 % Ja, keine Ständemehr nötig

Je 3 Ja und 3 Nein setzte es in Appenzell Ausserrhoden, St. Gallen, Thurgau und Schaffhausen ab. Verworfen wurden hier der EWR, das Schengen/Dublin-Paket und die Ostzusammenarbeit.

Mit 4 Nein sind die Ablehnungen in Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Glarus und Appenzell Innerrhoden in der Ueberzahl. Ja sagte man hier nur 1972 und 2000 beim Freihandel und dem ersten Paket zu den Bilateralen.


2005: Erweiterung Personenfreizügigkeit; 56,0 % Ja, keine Ständemehr nötig

Die konsequenteste Nein-Haltung in Fragen der Zusammenarbeit mit der EU findet man im Tessin. Nach der Befürwortung des Freihandelsabkommens mit der EWG 1972 setzte es in der Folge 5 Nein in Serie ab.

Wenn die hier vertretene Analyse stimmt, lohnt es sich am Abstimmungssonntag nicht, auf die Ergebnisse in Neuenburg oder Tessin zu schauen. Denn sie bildeten bisher die Extrempositionen ab, und das dürfte auch am 8. Februar 2009 so sein.


2006: Ostzusammenarbeit, 53,4 % Ja, kein Ständemehr nötig

Interessanter dürften Kantone wie Zürich, Zug, Aargau, Solothurn, Bern, Luzern und Graubünden. Denn sie bewegten sich bei den besprochenen Abstimmungen meist recht nahe am Schnittt der Schweiz. Die Ergebnisse in diesen Ständen eigenen sich damit viel eher für die hausgemachte Hochrechnung, die von einigen Teilresultaten auf das Ganze schliesst, wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit.

Immerhin: Zug und Solothurn waren bisher zweimal die Trendkantone, Graubünden und Zürich je einmal. Einzig für 1972 versagt die hier gemachte Retrognose. Damals stimmte die Schweiz praktisch gleich wie Baselstadt.

Claude Longchamp

Personenfreizügigkeit: Börsianer haben sich entschieden

Die gestrigen Umfragewerte zur Personenfreizügigkeit aus der SRG-Erhebung hatten auf die Abstimmungsbörse, die von der Internet-Seite des Schweizer Fernsehens unterhalten wird, kaum mehr einen Einfluss. Die Börsianer scheinen entschieden zu sein. Sie rechnen mit 52,8 Prozent Zustimmung zur Vorlage.


Abstimmungsbörse zur Personenfreizügigkeit auf “Wahlfieber“, Stand nach der letzten SRG-Befragung

Die gestrigen Werte aus der StimmbürgerInnen-Befragung lagen 2 Wochen vor der Abstimmung bei 50 Prozent bestimmt oder eher “Ja”, 43 Prozent bestimmt oder eher “Nein” und 7 Prozent Unentschiedenen. Anders als bei der Publikation der ersten SRG-Befragung hatte die neuerliche Veröffentlichung von Umfrage-Werten keinen Einfluss mehr auf die Einschätzungen der Börsianer, die unter “Wahlfieber” Aktien zum Abstimmungausgang handeln. Der Wert der Ja-Aktie lag heute morgen fast unverändert bei 52,75 Punkten, jener für die Nein-Aktie bei 47,25. Das spricht dafür, das man unter den HändlerInnen mit einer Zustimmung zur Personenfreizügigkeit rechnet, wenn auch einer recht knappen.

Das ist zwar keine Auskunft über die Stimmabsichten, aber ein Gradmesser für Erwartungshaltungen. Sie schwankten anfänglich stark, gingen mit der Veröffentlichung der ersten Umfrage nach oben, und stabiliserten sich danach schrittweise mit einem knappen, aber recht konstanten Vorsprung für das Ja.

Umfragen dürfen ab jetzt keine mehr publiziert werden, die Börsen-Spekulationen gehen aber bis zum Abstimmungssonntag weiter.

Mal sehen, was daraus wird!

Claude Longchamp

SozialeKontrolle2.0 bei Volksabstimmungen

Die Pioniere der politischen Abstinenzforschung in der Schweiz argumentierten mit der nachlassenden sozialen Kontrolle in der Massengesellschaft als Ursache für die sinkende Stimmbeteiligung. Jetzt setzen die jungen BefürworterInnen der Personenfreizügigkeit auf ein Video, welches die soziale Kontrolle inszeniert, falls man am 8. Februar 2009 nicht stimmen gehe.


Das Vorbild aus dem US-amerikanischen Wahlkampf

Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf gab auch hier das Vorbild ab. Die Plattfrom www.youtube.com stellte clips ins web, wonach 1 Stimme die Wahl zwischen Barack Obama und John McCain entschieden habe, – zugunsten des Republikaners. Die Reaktionen im Clip waren harsch: Die Oeffentlichkeit empörte sich, und die Medien identifizierten den Uebeltäter. Denn es war ein Nicht-Wähler, der für Obama stimmen wollte, welcher der Wahl fern blieb. Wehe ihm, sagt seine Verwandschaft, wenn wir ihn kriegen. Doch das alles war nicht echt. Es war Realität 2.0, die Betroffenheit schaffen wollte und Teil der Kampagne für Obama war.

Man weiss es: Soweit wie im Jahr 2000, als der Sieg von Georges W. Bush über Al Gore nur durch Messers Scheide entschieden wurde, kam es 2008 nicht. Obama siegte mit 54:45 ungefähr mit dem Vorsprung, den man erwartet hatte. Die Beteiligung indessen erreichte mit 63 Prozent Beteiligung den höchsten Wert seit 1960.

Das scheint nun die Ja-Seite der Personenfreizügigkeit beflügelt zu haben. Seit heute morgen zirkuliert ein Clip, der nach ähnlichem Muster aufgebaut ist. Verbreitet wird er mit viralem Marketing. Man erhält es via email, und man wird gebeten, es auf dem gleichen Weg weiter zu leiten.


Die Nachahmung, nicht auf youtube erhältlich, da sie auf individualisierte Ansprache im Video setzt!

Wer sich den Streifen ansieht, wird gleich zu Beginn geschickt. Eine Sondersendung der Tagesschau, täuschend echt moderiert von Charles Clerc, berichtet über den Abstimmungssonntag. Die Personenfreizügigkeit sei mit einer Stimme abgelehnt worden, heisst es. Gezeigt wurd ein Transparent, auf dem der eigene Name als Schuldiger erscheint. Der Rest ist dann noch etwas Wiederholung der Botschaften für die Personenfreizügigkeit.

Es ist klar: Eine höhere Betroffenheit kann man nicht auslösen. Eine Person gibt den Ausschlag, und man ist sie gleich selber. Das sitzt. Und genau das lädt ein, den Joke weiter zu vertreiben, bei FreundInnen oder MitarbeiterInnen, die auch ausschlaggebend sein könnte.

Falls es so knapp wird, wie berichtet. Falls man Ja-Stimmen wollte und es doch unterlassen sollte. Und falls man sich von den Jungparteien auf der Ja-Seite ein schlechtes Gewissen einbildern lässt.

Denn die heutige Abstinenzforschung ist nämlich gar nicht mehr so sicher, ob soziale Kontrolle heute noch so entscheidend sei. Sie argumentiert vielmehr, dass okkasionelles Nicht-Stimmen mit Unschlüssigkeit zu tun habe, wennl keine Seite wirklich überzeugen konnte.

Claude Longchamp

Die Vorbereitung der Hochrechnung zur Personenfreizügigkeit beginnt

Keine drei Wochen geht es mehr bis zur Volksabstimmung vom 8. Februar 2009. Zeit mit den Vorbereitungen der Hochrechung zur Personenfreizügigkeit zu beginnen. Und erstmals einen Einblick zu gewähren in die Arbeit des Teams, das es an Abstimmungssonntagen weiss, bevor man es weiss.

Hochrechnungen basieren darauf, dass man aus Teilresultaten auf das gesamte Ergebnis schliesst. Das ist ganz einfach. Weniger einfach ist aber die Frage, welche Teilresultate geeignet sind.

Die erste Annahme, die wir für Hochrechnungen hatten, war: Es gibt eine oder einige zuverlässige Gemeinden, die immer so stimmen, wie die Schweiz. Schön wärs, sage ich heute, nachdem ich seit dem 6. Dezember 1992 alle eidgenössischen Volksabstimmungen hochgerechnet habe, denn es gibt die schweizerische Mustergemeinde nicht. Es gibt maximal pro Themen- oder Konfliktbereich wiederkehrende Gemeinden, die im Landesmittel stimmen. Doch selbst das gibt keine hinreichend genaue Hochrechnung.

Die zweite Annahme ist schon besser: Es gibt Kantone, die in einem Themenbereich oder Konfliktmuster genau gleich wie die Schweiz stimmen oder in einem wiederkehrenden Verhältnis zum nationalen Mittel abweichen. Damit kann man erfahrungsgemäss schon besser arbeiten. Den es ist zwar schon deutlich präziser, aber nicht besonders schnell. Verbessert werden kann es, wenn man bei den schnellsten Kantonen weiss, wie viel sie in der Regel vom nationalen Mittel abweichen. Und nur mit ihnen rechnet.

Die dritte Annahme ist die beste: Es gibt in jedem Kanton Gemeinden, die in einem Themenbereich oder Konflitkmuster gleich wie der Kanton stimmen und schnell sind. Sie können stellvertretend für das Kantonsergebnis verwendet werden, bis dieses vorliegt, und diese lässt, effektiv oder mit Stellvertretern Rückschlüsse auf das gesamtschweizerischen Resultat zu.

Letzteres, und nur letzteres, nennen wir Hochrechnung.
Das Mittlere entspricht der Trendrechnung.
Das Erste heisst bei uns high-speed.

Die high-speed-Rechnung wird nie veröffentlicht. Sie dient dem Hochrechnungsteam nur als erster Gradmesseer, um sich auf möglicher Ergebnisse einzustellen. Die Ergebnisse der Trendrechnung werden über die Sender der SRG kommuniziert, jedoch nur in qualitativer Hinsicht. Der maximale Schätzfehler beträgt hier noch 5 Prozent. Deshalb geben wir keine Zahlen heraus, aber Einschätzungen zur Mehrheit. Die Hochrechnung selber ist das Herzstück. Sie muss an Abstimmungssonntage spätestens um 14 Uhr kommuniziert werden, und sie muss bis auf 2 Prozentpunkte mit dem Abstimmungsergebnis übereinstimmen.

Was sie auch tut: Die mittlere Abweichung der Hochrechnung vom Endergebnis beträgt genau 1 Prozent. Im Einzelfall sind wir schon mal genauer; es kommt aber auch vor, dass wir 2 Prozent abweichen.

So einfach ist das. Wenn man weiss, was der Themenbereich resp. das Konfliktmuster beträgt. Das nämlich ist der Trick. Doch davon später …

Claude Longchamp

Wie soll man ein allfälliges Nein zur Personenfreizügigkeit interpretieren?

Den Volkswillen bei Abstimmungen zu interpretieren, ist heikel. Politisch wie wissenschaftlich. Denn Entscheidung ist Entscheidung. Doch es ist sinnvoll, diese zu analysieren. Im Normalfall, wie auch im möglichen Spezialfall. Deshalb ist es Zeit, sich ein paar zusätzliche Gedanken zu machen, wie ein allfälliges Nein zur Personenfreizügigkeit untersucht werden müsste.


Wie kann man interessenbasierte Interpretationen eines allfälligen Neins zum 8. Fabruar 2009 verhindern?- Eine Herausforderung für die angewandte Politikwissenschaft, halte ich fest, mit der Absicht, sich ihr zu stellen

Die aktuelle Situation
Man erinnert sich: Kaum im Amt als Bundesrat, erklärte Christoph Blocher, es sei nicht die Aufgabe des Bundesrates, den Volkswillen zu interpretieren. Er solle sich an die Entscheidungen des Souveräns halten, und er solle danach handeln. Heute ist alles ganz anders: Schon vor der Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit ist ein Interpretationsstreit entbrannt, wie man ein allfälliges Nein interpretieren solle. Speziell die SVP-Exponnenten sind bemüht, ihre Sicht der Dinge durchzubringen, wonach ein Nein am 8. Februar 2009 nur ein Nein zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit sei, nicht aber zu dieser als solcher und damit auch kein Verstoss gegen die Bilaterale I.

Zu den Positionen der Gegnerschaft
Die gestrige “Arena“-Sendung zur Volksabstimmung 2009 zeigte, dass die Sache komplizierter ist, denn auf Seiten der Opponenten wurden alle Positionen vertreten: “Nein” heisse Nein zur Erweiterung, meinte etwa Lukas Reimann von der SVP; “Nein” heisse Nein zur Personenfreizügigkeit an sich, konterte Ruedi Spiess von den Schweizer Demokraten. Ein “Nein” am 8. Februar 2008 wäre ein Nein zur gesamten Vorlage, über die abgestimmt würde, erwiderte Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, was der Bundesrat bis Ende Mai 2009 der EU mitteilen müsste, womit die Bilaterale Verträge, die seit 2002 in Kraft seien, nach 6 Monaten automatisch auslaufen würden.

Politisch kann diese Diskussion nur entschieden werden, wenn alle Akteure, die an der Entscheidung beteiligt sind, mitsprechen können: der Bundesrat und das Parlament, die Stimmberechtigten und die Europäische Union.

Die Möglichkeiten der angewandten Politikwissenschaft
Die angewandte Politikwissenschaft kann der Politik in einem Punkt Hilfen anbieten: Sie kann die stark interessen-geleiteten Interpretationen der Akteure auf schweizerischer und europäischer Ebene, die sich auch in der Deutung des Volkswillens äussern, mit vertiefenden Untersuchungen spiegeln, kritisieren und einer vernünftigen Interpretation zuführen.

Statt normative Abstimmungsanalysen zu machen, empfiehlt es sich solche empirisch zu leisten. Ganz einfach gesagt: Die Stimmenden selber sollen sagen können, was sie mit ihren Entscheidungen beabsichtigten.

Gegenwärtig wird unter den Analytikern, die so oder so die Volksabstimmung zur Personenfreizügigkeit untersuchen werden, überlegt, wie angesichts der üblichen, aber unübersehbaren Diskussion zur Interpretation eines Neins am 8. Februar 2009 die VOX-Nachbefragung erweitert werden könnte. Klar herausgearbeitet werden müsste in der Nachanalyse der Volksentscheidung, die diesmal das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern leistet, …

… wie man im Lager den Nein-Stimmenden seine Ablehnung verstanden hat
… wie man zu einer weiteren Volksabstimmung in der Sache steht,
… wie man bei einer Trennung der Entscheidungen über Fortsetzung und Erweiterung(en) stimmen würde.

Das Ganze macht nur dann Sinn, wenn die Konsequenzen unterschiedlicher Entscheidungen nicht gleich wären, wie ein allfälliges Nein am 8. Februar 2009. Um keinen schweizerischen Bias zu haben, müsste auch erörtert werden, ob man zu Konzessionen in anderen Dossiers wie der Banken-, Steuer-, Landwirtschafts- oder Forschungspolitik bereit wäre, um Verhandlungen zu einer modifizierten Personenfreizügigkeit zu erreichen. Und: Ob bei einem Nein die Bilateralen zu Ende sind, und was danach kommen soll, – Alleingang oder EU-Beitritt?

Besser wissensbasierte Interpretionen als interessenbasierte Annahmen
Ich denke, es ist sinnvoll, diese Fragen zu klären. Das ist keine Aussage zum Ausgang der Volksabstimmung vom 8. Februar. Aber es ist eine rechtzeitige Auslegeordnung für den Fall B, denn die Nachanalyse startet so oder so am Montag nach der Volksabstimmung. Und sie soll, wie immer, zu einer wissens-, interessenbasierten Interpretation des Volkswillens führen.

Claude Longchamp

Personenfreizügigkeit aus historischer, juristischer, ökonomischer und politologischer Sicht

Schweiz – Europa: wie weiter?” heisst ein kleines Buch in der Reihe “Die neue Polis” des NZZ-Verlags, das Georg Kreis jüngst editiert hat. Es versammelt vier Aufsätze, die sich historisch, juristisch, ökonomisch und politologisch mit der anstehenden Volksabstimmung zur Personenfreizügigkeit beschäftigen. Entstanden sind die Texte am Europa-Institut der Universität Basel, das der Herausgeber leitet.


“Ein langer Weg in Etappen”, das erste Kapitel, stammt vom Historiker Kreis selber. Den Text zur “Fortführung und Ausdehnung” hat die Juristin Christa Tobler verfasst. “Hohe Integration ohne Beitritt” wiederum stammt aus den Tasten des Oekonomen Rolf Weder, während “Die Einführung der Personenfreizügigkeit durch die Schweiz” durch den Politologen Laurent Goetschel verfasst wurde.

Dabei wird mehrfach die Wandlungsfähigkeit der Schweizer EU-Politik betont. Kreis etwa schreibt. “Zwischen 1992 und jetzt legte die Schweiz einen weiten Weg zurück. Sie machte in den letzten 15 Jahren einen Entwicklung durch, die manche zuvor kaum für möglich gehalten hatten. Die beachtliche Oeffnung, die in diesem Jahren eintrat, muss man sich vor Augen halten und sich nicht nur an den ewigen Verweigern orientieren, wenn man von der Schweiz spricht.”

Alle vier AutorInnen aus Basel sind in ihrer Grundhaltung liberal oder sozial inspirierte BefürworterInnen der Personenfreizügigkeit. Das könnte den Nutzen des Buches mindern. Wenn das dennoch nicht der Fall ist, hat das seinen Grund: Alle vier AutorInnen haben sich bemüht, ein aktuelles Sachbuch, gut verständlich und leicht nachvollziehbar zu schreiben. Es ist nicht nicht ohne Standpunkt, interveniert aber eigentlich nie parteiisch. Es folgt der Logik, die sich in Volksabstimmung bisher mehrfach bestätigt hat, dass der bilaterale Weg, von der Schweiz verlangt, auch über die kommende Abstimmung hinaus weiter beschritten werden soll.

Wenn ich dennoch nicht restlos glücklich geworden bin bei der Lektüre, hat das mit dem Titel zu tun: Die aufgeworfene Frage nach dem “Wie weiter?” wird explizit nicht diskutiert und beantwortet. Keine Szenarien für die nächsten 10 Jahre der Europa-Politik runden den Band ab, obwohl man genau das erwartet hätte, wenn man ihn öffnet.

Denn über dem Bilateralismus, der Basis der Personenfreizügigkeit im schweizerischen Sinne, schwebt nach Ansicht von Fachleuten wie dem zurückgetretenen EDA-Staatssekretär Franz von Däniken das Damokles-Schwert, eine Projekt auf Zeit zu sein. Eine systematische Auseinandersetzung mit dieser wissenschaftlich bisher kaum erörterten Annahme aus Sicht dr EU und der Schweiz hätte das Buch über die Abstimmung hinaus zur Referenz auf Dauer gemacht.

Claude Longchamp

Schweiz – Europa: wie weiter? Kontrollierte Personenfreizügigkeit, herausgegeben von Georg Kreis, Zürich 2008

Rückblick auf den Politologie-Kongress 2009

Der Kongress der Schweizer Politologie ist vorbei. Er war gut organisiert. Doch er hat keine Wellen geworfen. Und er hat mich nur ausnahmsweise inspiriet. Ein Lob auf die Ausnahme!

Das bekannte Ritual
Für Daniele Caramani, dem Gastgeber in St. Gallen, war es wichtig, dass der Kongress gut durchgeführt wurde. Das war er auch. Für das, was bei den Sessions herauskomme, könne er keine Garantie geben, sagte er mir. Zu recht.

Denn eigentliche Durchbrüche der politikwissenschaftlichen Forschung in der Schweiz konnten kaum registriert werden. Das Medienecho war denn auch entsprechend. Vielleicht wurden auch nicht relevante Bemühungen hierzu präsentiert. Denn Kongresse sind auch Rituale. Und je ambitionierter Beitragende sind, eine neue Stelle an einer Uni zu erhalten, um so ritueller verhalten sie sich in der Regel. Das kennt man.


Aussichten aus St. Gallen, wo der Jahreskongress der Schweizer PolitologInnen stattfand.

Die unbekümmerte Ausnahme
Die grosse Ausnahme davon war Deniz Danaci. Der junge Politikwissenschafter aus Zürich hielt in seiner ganzen Unbekümmertheit das für mich anregendste Referat der Tagung. Der Mitarbeiter am IPW der Uni Zürich stützte sich auf seine Recherche für den NF, die den Titel trug: “Der Islam in der Schweiz. Eine empirische Analyse kantonaler Volksabstimmung über die Rechte religiöser Minderheiten”.

Hilfreich erscheinen mir die nachstehenden Thesen, die mir, auch ohne Tabellen zu studieren und Zusammenfassungen zu lesen, aus dem Vortrag geblieben sind:

. Erstens, Grundrechtskataloge in Verfassungen sind dazu da, Gleichheit unter den Menschen zu garantieren. Direkte Demokratie ist dagegen ein Verfahren für politische Entscheidungen, das unter Stimmberechtigten Mehrheiten beschafft, was zu Problemen mit dem Gleichheitsgedanken führen kann.

. Zweitens, Entscheidungen zu Rechten religiöser Minderheiten fallen nicht aufgrund juristisch-sachlicher Ueberlegungen, sondern aufgrund kulturell bestimmter In- und Outgroups in Eliten und Bevölkerung.

. Drittens, Elitekonflikte ist ein nötiger, aber nicht hinreichender Indikator, um den Ausgangs entsprechender Volksabstimmungen voraussagen zu können. Der Elite-Konflikt reflektiert sich in der Regel in den Zustimmungsraten; doch können sie auch ohne grössere Konflikte tief sein, wenn es sich um Outgroups handelt.

. Viertens, in den 15 kantonalen Volksabstimmungen zu den Rechten religiöser Minderheiten der letzten 50 Jahre gingen die Entscheidungen zu jüdischen Minderheiten in der Regel positiv aus. Kritischer waren sie gegenüber gegenüber neue Rechten von Freikirchen, und nicht selten resultierten negative Mehrheiten gegenüber Rechten isalmischer Minderheiten.

Die praktische Relevanz der Ausführungen von Danaci ergab sich für mich aus der anstehenden Volksabstimmung über die Minarett-Initiative. Die Forschungslücken dazu stehen im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur politischen Bedeutung der Entscheidung.

Meine Bilanz
Das Referat von Danaci, so unvollendet seine Analyse aus der Diplomarbeit auch ist, hat mich aber wie kein anderes angeregt, auf einer geläuterten Basis selber als Forscher aktiv zu werden. Mehr kann man von einem Kongress nicht erwarten!

Danke, Deniz, und danke der Vereinigung, einem Newcomer der Politikwissenschaft in der Schweiz eine Plattform geboten zu haben!

Claude Longchamp

Börsianer und Personenfreizügigkeit

Abstimmungsbörsen auf Internet geben nicht nur die Erwartungen der Händler zum wahrscheinlichsten Abstimmungsausgang wieder. Sie folgen den Ergebnissen veröffentlichter Umfragen, ob diese real oder fiktiv sind. Das mindert den Wert von Wahlbörsen als unabhängige Abstimmungsprognosen erheblich.


Quelle: Wahlfieber zur Personenfreizügigkeit

Seit längerem gibt es auf Internet auch zu politischen Themen der Schweiz die Rubrik “Wahlfieber”. Die Chancen von Bundesräten gewählt zu werden oder von Abstimmungsvorlagen durchzukommen, werden dabei wie an Aktienmärkten gehandelt. Sie entstehen zwischenzeitlich weltweit Prognosen dazur, was die Erwartungshaltung der anonymen Händler sind.

Gestern abend 17 Uhr erschien die erster der beiden SRG-Umfragen zur Volkabstimmung vom 8. Februar 2009 zur Personenfreizügigkeit. Das Hauptergebnis lautete: 49 Prozent sind bestimmt oder eher dafür, 40 Prozent bestimmt oder eher dagegen. 11 Prozent der beteiligungswilligen BürgerInnen sind unentschieden.

Die Veröffentlichung des Ergebnisses brachte Bewegung in die Abstimmungsbörse “Wahlfieber”. Der Marktwert der Ja-Aktien stieg postbewendend von 50 auf 54. Jener verringerte sich leicht, von gut 50 auf knapp 50.

In den Tagen zuvor war fast nichts gegangen in der Abstimmungsbörse zur Personenfreizügigkeit. Der Wert der Nein-Aktie lag meist leicht über dem des Ja-Papiers. Die letzte wirkliche Bewegung hatte es an Weihnachten gegeben. Damals schnellt der die Nein-Aktie auf über 53, ihrem bisher höchste Wert, während die Ja-Aktien vorübergehen einen Wert von 48 notiert. Vorausgegangen war damals die Publikation einer Umfrage durch den “Blick”. Die Werte, die genannt wurden (40 dafür 50 dagegen, 10 unentschieden), erwiesen sich nachträglich als erfunden.

Was lernt man daraus? Abstimmungsbörsen wurden eingeführt, weil man annimmt, dass eine genügend grosse Zahl von Händlern, die auf den Ja- resp. Nein-Anteil wetten, den Einfluss individueller Präferenzen auf den erwarteten Abstimmungsausgang verringern. Das ist möglicherweise auch der Fall. Doch die Händler an der Politbörse lassen sich insgesamt durch die gleichen Ereignisse beeinflussen. In erster Linie durch Umfragen in Massenmedien, und zwar unabhängig davon, ob die Veröffentlichungen auf realen oder fiktiven Erhebungen basieren.

Das relativiert den Wert von Wahlbörsen als unabhängige Prognose-Instrumente doppelt!

Claude Longchamp

swissvotes – die neue Datenbank zu Schweizer Volksabstimmungen

Gerade rechtzeitig fertig geworden, um am Kongress der Schweizer Politologen präsentiert werden können, ist die neue Abstimmungsdatenbank www.swissvotes.ch.

Entstanden ist die neue Datenquelle am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern als Frucht mehrerer Forschungsprojekte unter der Leitung von Wolf Linder. Christian Bolliger, ein junger Schweizer Politikwissenschafter, der eine vorzügliche Dissertation zu politischen Parteien und Volksabstimmungen verfasst hat, zeichnet für den Aufbau der Datenbank verantwortlich; Yvan
Rielle und Dominik Wyss halfen bei der Entstehung der neuen Fundgrube zu Volksabstimmungen. Denn sie enthält erstmals zu allen eigenössischen Volksabstimmungen seit 1848 in der Schweiz …

… Eckdaten zum Typ der Vorlage und dem Thema, zur Urheberschaft und der Anzahl der gesammelten Unterschriften,
… Meilensteine des politischen Entscheidungsprozess und die dazugehörigen Quellen,
… Abstimmungsempfehlungen von Bundesrat und Parlament sowie von Parteien und Verbänden,
… Abstimmungsergebnisse der Gemeinden, Bezirke und Kantone als Tabellen oder Karten zum Herunterladen,
… Originalquellen und Verweise auf die Protokolle des Parlaments, die Botschaften des Bundesrates und weiterführende Literatur,
… Beschriebe aller Abstimmungen seit 1966 des Jahrbuchs Schweizerische Politik (Année Politique Suisse) und
… Grundlageninformationen zur Geschichte der Volksrechte oder zur Entwicklung der Parteien und der Verbände.

Fündig wird hier nicht nur, wenn Informationen sucht, sondern auch Daten beziehen will. Der gesamte Datensatz, welche der Datenbank zugrunde liegt, steht für die Forschung zur freien Verfügung. Das Ganze ist handlich, und wird sich hoffenlich schnell in der Forschung durchsetzen.

Nur eines vermisse ich auch hier: eine Dokumentation zu Abstimmungskämpfen, die es ähnlich wie ballotpedia in den USA erlauben würde, eine Geschichte der politischen Abstimmungskommunikation zu entwerfen.

Schade auch, dass diese Innovastion am Kongress nur auf der Leinwand beim Kaffee präsentiert wurde, und niemand der Wert dieser neuen Quelle für historische und politologische Forschung in einer Session in Evidenz brachte!

Claude Longchamp