Volksabstimmungen sind kaum käuflich, sagt Forscher Hanspeter Kriesi

Es ist schon viel geschrieben worden zur Frage, ob der Ausgang von Volksabstimmungen in der Schweiz käuflich sei oder nicht. Jetzt gibt der Zürcher Politologe Hanspeter Kriesi eine neuartige Antwort und kommt zu differenzierten Schlüssen..

Die Kritik
“Ja” sagte Hans-Peter Hertig 1982, als er die Frage nach der Käuflichkeit von Abstimmungsergebnissen beantwortete. 1994 pflichtete ihm der Oekonom Silvio Borner bei. “Kaum” erwiderte ihnen Wolf Linder, als er die Studienbelege sah. Hanspeter Kriesi, der führende Zürcher Politologe, stellte sich bisher dazwischen. Generell sagte er nein zur Käuflichkeit von Abstimmungergebnissen, einen Einfluss des Geldes gegen die Regierungsposition hielt er aber für erwiesen.

Nun kritisiert Kriesi in der Festschrift zur Emeritierung von Wolf Linder alle bisherigen schweizerischen Untersuchungen hierzu. Seine eigenen nimmt er nicht aus. Denn die Ausgaben in Abstimmungskämpfen seien keine unabhängige, sondern eine selber abhängige Grösse. Das Mass, in dem in einen Abstimmungskampf investiert wird, hänge nämlich vom erwarteten Ausgang ab. Und dieser sei, vereinfacht gesagt, umso geringer, je gespaltener das Regierungslager ist. Das gelte besonders bei bei fakultativen Referenden, während es bei obligatorischen und Volksinitiativen weniger klar zu Tage tritt.

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Die Grafik zeigt erstmals die Ausgaben der Regierungs- und Oppositionsseite bei eidg. Volksabstimmungen in Funktion des erwartbaren Ergebnisses (Quelle: Kriesi)

Die Befunde
Mit dieser Erwartunghaltung kann Kriesi in einem ersten Schritt die Ausgaben in Abstimmungskämpfen untersuchen. Dabei zeigt sich, dass das Regierungslager meist etwas mehr ausgibt. Absolut am meisten investiert es, wenn Ausgänge zwischen 50 und 70 Prozent erwartet werden können. Das Oppositionslager steckt dann viel Geld in eine Kampagne, wenn es aus seiner Sicht mit einer Zustimmung von mindestens 40 Prozent rechnen kann.

Berücksichtigt man dieses unterschiedliche Investitionsverhalten, gilt nach Kriesi: Die Ausgaben der Gegnerschaft sind (unverändert) der beste, aber bei weitem nicht einzige Prädiktor für eine hohe Ablehnung der Regierungsposition. Jene der Befürworter sind der beste für eine hohe Zustimmung. Führt die Regierungsseite jedoch klar, nutzt sich der Effekt für das Regierungslagers ab. Das gilt auch, wenn die Ausgaben des Regierungslagers jene des Gegnerlagers deutlich übertreffen.

Diese geldbezogenen Einflussgrössen auf den Abstimmungsausgang müssen in einen erweiterten Kontext gestellt werden. Die Abstimmungskonstellation ist eine eigenständige Erklärungsgrösse. Der Stand des Regierungsvertrauens modelliert die Zustimmungswerte zusätzlich, während undurchsichtige Konsequenzen einer Vorlage ihre Befürwortung verringern.

Kommentare
Das “sparsame Modell”, wie es Kriesi nennt, erklärt nicht weniger als die Hälfte der Varianz in den 218 Abstimmungsergebnissen zwischen 1981 und 2006. Das hat ihn bewogen, sich ganz Wolf Linders Einschätzung zur Käuflichkeitsthese anzuschliessen. Zu behaupten, die eine oder andere Seite könne Abstimmungsresultate kaufen, erscheint ihm “ziemlich übertrieben”. Nicht ausschliessen will er aber, dass bei einem ganz knappen Resultat auch ein geringer Effekt letztlich ausschlaggebend sein kann.

Ohne Zweifel präsentiert Kriesi das differenziertes Untersuchungsdesign, das die Schweiz hierzu bisher gesehen hat. Der spieltheoretische Einwand, wonach die Chancen des Abstimmungssieges das Investitionsverhalten mitbestimmten und Auswirkungen auf das Verhalten der anderen Seite haben, trifft die Beobachtungen in der Praxis gut. Das gilt auch für jede Einbettung finanzieller Kennwerte in einen grösseren, politischen Zusammenhang.

Es bleibt aber die Frage, ob die Ermittlung des erwarteten Ausganges nicht zu theoretisch ausgefallen ist. Gut denkbar, dass das neue Modell noch verbessert werden kann, wenn man diese anhand von Umfragenwerten und Aktionsfähigkeiten der campaigner bestimmen würde.

Claude Longchamp

Hanspeter Kriesi: Sind Abstimmungsergebnisse käuflich?, in: Adrian Vatter, Frédéric Varone, Fritz Sager (Hg.): Demokratie als Leidenschaft. Festschrift für Wolf Linder zum 65. Geburtstag, Bern 2009, pp. 83-106.

Volkswahl des Bundesrates: vermehrte Blockbildungen zu erwarten

“Volkswahl des Bundesrates” tönt gut. Denn so drückt sich der Volkswille bei der Bestellung der Schweizer Regierung unvermittelt aus. Denkt man jedenfalls. Doch die Erfahrung lehrt: Es kommt auf das Kleingedruckte an.

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Die angekündigte Volksinitiative zur “Volkswahl des Bundesrates” ist für die Politologen eine reizvolle Denkaufgabe. Institutionalisten sind herausgefordert, über die Wirkungen der Neuerung nachzudenken.

Das Berner Modell
Das Modell, das die SVP am Samstag für ihre Initiative zugunsten einer Volkswahl des Bundesrates gewählt hat, lehnt sich eng an das bestehende im Kanton Bern an. Gewählt wird nach dem (gemässigten) Majorzverfahren, mit einer Sitzgarantie für die Sprachminderheiten. Die Berner Erfahrungen legen nahe, dass die Wahlchancen von Parteien und KandidatInnen je nach Ausgestaltung unterschiedlich ausfallen. Im Wesentlichen kommt es auf zwei Faktoren an:

Erstens, sind vorgedruckte Wahlzettel erlaubt oder nicht? Und:
Zweitens, gehen die Parteien Allianzen ein oder nicht?

Kombiniert kann man drei Szenarien unterscheiden, deren Auswirkungen hier kurz besprochen seien:

Szenario 1: Vorgedruckte Wahlzettel, gemeinsamer Vorschlag der Regierungsparteien
Voraussetzung hierfür ist, dass sich die Regierungsparteien einig sind, wer dazu gehört und wer auf wieviele Sitze Anspruch hat. Als Masstab hierzu könnte der WählerInnen-Anteil bei der jüngsten Nationalratswahlen dienen oder die Sitzzahl unter der Bundeskuppel. Können sich die Regeirungsparteien darüber hinaus auch auf die geeignetsten KandidatInnen einigen, unterbreiten sie den WählerInnen einen gemeinsamen Siebnervorschlag. Nicht auszuschliessen ist, dass sich auch Aussenseiter bewerben, ohne aber grosse Wahlchancen zu haben. Formell kommt es damit zwar zur Volkswahl des Bundesrates, doch ist es im Wesentlichen eine Bestätigung des stillschweigend eingegangene Proporzes. Gegenüber dem Status quo ändert sich nicht viel. Wahrscheinlich ist ein solches Szenario bei parteipolitischer Polarisierung nicht.

Szenario 2: Vorgedruckte Wahlzettel, mit mindestens zwei Blöcken

Vor allem dann, wenn es keine allgemein anerkannten Regeln gibt, auf welche Parteien und in welchem Masse die sieben Sitze zu verteilen sind, ist bei einer Volkswahl mit einer beschränkten Konkurrenzsituation zu rechnen. Zu erwarten ist ein linker Block, voraussichtlich aus SP und Grünen bestehend, ein rechter, der SVP und FDP umfassen dürfte, sowie ein Zentrumsblock mit CVP und kleinen Parteien. Jeder Block stellt Ansprüche, die über den eigenen Wähleranteile hinausgehen. Gegenwärtig könnten das vier oder fünf rechte Kandidaturen sein, zwei oder drei aus der Mitte und zwei oder drei von links. Damit kommt es zum Parteien- und KandidatInnen-Wettbewerb.Dieses Szenario ist in der gegenwärtigen Situation am wahrscheinlichsten, garantiert aber keine parteipolitische Stabilität, wie die Wahlen in kantonale Regierungen zeigen. Tendenziell bevorteilt es den stärksten Block, voraussichtlich die SVP mit der FDP.

Szenario 3: Keine vorgedruckten Wahlzettel; jede(r) gegen jede(n)

Die dritte Variante leuchtet unter dem Stichwort “Volkswahl” auf den ersten Blick am meisten ein. Demnach wären, wie das im Kanton Bern 2010 erstmals auch der Fall sein wird, vorgedruckte Wahlzettel nicht erlaubt. Allianzbildung zwischen den Parteien sind dann weniger wichtig, weil sie die Aussichten der eigenen KandidatInnen schmälern. Selbst wenn man sich formell gegenseitig empfiehlt, gibt es ohne vorgedruckte Wahlzettel nämlich keine Garantie, dass man übers Kreuz auf die KandidatInnen anderer Parteien wählt. Doch hat auch dieses Szenario zwei Nachteile: Einerseits sind die Amtsinhaber begünstigt; anderseits können sich neue BewerberInnen nur mit landesweiten Wahlkampagnen durchsetzen. Die Werbeausgaben einerseits, die Medienberichterstattung anderseits bestimmen die Wahlchancen in erheblichem Masse mit. Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios halte ich für mittel, geringer ist es, dass die sinnvollste Einschränkung, die Amtszeitlimitierung, beispielsweise auf 8 Jahre, gleichzeitig eingeführt wird.

Erste Bilanz
Kurz gesagt: Bei einer Annahme der “Volkswahl für den Bundesrat” ist damit zu rechnen, dass vorgedruckte Wahlzettel möglich sind, es zur verschärften Blockbildung innerhalb der Regierungslager kommt, der Wettbewerb unter ihnen verstärkt wird und die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates floaten wird. Bevorteilt ist dabei der stärkste Block, und innerhalb dieses die stärkste Partei. Politische Stabilität auf der Basis der Konkordanz wird leiden. Als Varianten kommen reine Bestätigungswahlen in Frage, allenfalls auch der Durchstart zu Bundesratswahlen mit eigentlichen Wahlkämpfen à la américain. Oder noch klarer: In keinem zu erwartenden Fall wird die Parteienmacht gebrochen, allenfalls durch die Medienmacht ergänzt.

Claude Longchamp

Die Implosion der SPD

Die erste Analyse der Wählerwanderungen kommt bei der SPD zu einem eindeutigen Befund: Die Partei ist regelrecht implodiert.
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Die SPD schmerzen nicht nur die 11,3 Prozent, die sie am WählerInnen-Kuchen seit den Bundestagswahlen 2005 verloren hat. Schlimmer noch ist der Befund der Analyse zur WählerInnen-Wanderung, die eine negative Bilanz in alle Richtungen kennt. Bei der Bilanz von Zu- und Abwanderung hat die SPD ein Minus von rund 5 Millionen Wählenden aus dem Jahre 2005.

Den grössten Verlust kennt die SPD gegenüber den Nicht-WählerInnen.
An zweiter Stelle steht die Abwanderung zu anderen Linksparteien.
Als Drittes folgt der Uebergang zur neuen bürgerlichen Koalition.
Und selbst gegenüber Parteien, die kein Mandat erringen konnten, verliert die SPD Stimmen.

Keine Partei kennt ein so umfassend negatives Profil. Die CDU/CSU hat zwar ähnlich wie die SPD Mühe, bestehende WählerInnen zum Wählen zu motivieren, verliert aber nur im bürgerlichen Lager. Und die Linke ist für die Grünen beschränkt zur Konkurrenz geworden.

Das Mobilisierungsprobleme der ehemaligen Volksparteien ist eklatant. Es ist der sichtbarste Ausdruck der grossen Koalition, des Mangels an thematischer Trennschärfe und der fehlenden Wahlkampfstimmung. Bei der SPD kommen wohl auch das Fehlen einer Machtperspektive hinzu, denn ihr blieb letztlich nur die Hoffnung auf die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit CDU/CSU.

Die Situation der SPD erschwert eine eindeutige Korrektur. Geht die Partei nach links, muss sie mir weiteren Abgängen an die Regierungskoalition rechnen. Weicht sie dagegen nach rechts, ist mit einem verstärkten WählerInnen-Anteil insbesondere der Linken, vielleicht auch der Grünen zu rechnen.

In einer solche Situation gibt es in der Regel nur eins: Die Grundposition nicht radikal verändern, das Spitzenpersonal aber gründlich erneuern, die VerterterInnen der verschienen Strömungen besser einbinden und die parteiinterne Arbeit neu machen, bis der Magnet wieder funktioniert.

Wichtiger ist die generelle Erneuerung der Partei, denn sie ist in der bisherigen Form implodiert.

Claude Longchamp

Live-Bloggen zur Hochrechung am Abstimmungssonntag

Die Schweiz stimmt ab, über die befristete Erhöhung der IV-Zusatzfinanzierung und über den Verzicht der Einführung einer neuen allgemeinen Volksinitiative. Hier berichte ich aus dem Hochrechnungsstudio über meine Eindrücke zum Ausgang und zu den Gründen hierfür, die Ergebnisse selber findet man hier.

09 30
Das Hochrechnungsteam ist vollzählig vor dem Zürcher Studio Leutschenbach eingetroffen. Je sechs Personen arbeiten für die Analyse und als Telefonteam. Wichtig ist, dass die Infrastruktur klappt, und die Teams plangemäss zusammenarbeiten. Doch funktioniert alles nur, wenn uns die rund 100 Referenzgemeinden ihre kommunalen Resultate übermitteln. Hoffen wir das beste!

10 00
Das Studio 8, aus dem normalerweise die Arena gesendet wird, bevölkert sich. Marianne Gilgen, die verantwortliche Redaktorin, begrüsst alle. Sie zeigt mir die Wege intern, denn ich arbeite für SF, DRS und TSR – in verschiedenen Studios. Zum Schluss gibt es einen Fliegentest, weil ich mich heute für blau entschieden, was auf dem Bildschirm gerne flimmert. Ich habe Glück, meine bevorzugtes Accessoire besteht die kritische Prüfung.

1100
“Das ist ein Ausreisser!” Da höre ich genau hin. Doch ich würde besser hinsehen. Denn es ist kein Gemeindeergebnis, sondern ein Haar an meiner Augsbraue. In der Maske wird es gekappt. Wäre es eines der Resultate aus einer ausgewählten Gemeinde gewesen, hätte wir das nicht machen dürfen. Denn das verfälscht das Bild!

1130
Die ersten Resultate aus den Referenzgemeinden sind da. Es sind solche Orte, die um 10 oder 11 Uhr die Urnen geschlossen haben und rasch auszählen. Das ist in Kantonen wie Aargau, Graubünden und Zürich möglich. Einen ersten Eindruck habe ich so, doch das reicht nicht einmal für eine Trendaussage. Es ist bloss das interne Signal: Von nun an gilt es ernst. Meinen Einsatzplan findet man übrigens hier.

1215
Seit 10 Minuten läuft alles auf Hochtouren. Bei der allgemeinen Volksinitiative werden wir um 1230 eine Aussage haben. Das ist bei der IV-Zusatzfinanzierung an sich schwieriger. Denn es geht nicht nur um eine Zahl zum Volksmehr, sondern auch eine zum Ständemehr. Und das kann knapp werden. Da ist Vorsicht angesagt, wenn man zwischen 50 und 55 Prozent Zustimmung ist.

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1315
In der Zwischenzeit ist viel gegangen. Ein klares Ergebnis zeichnet sich bei der Volksinitiative auf. Der Verzicht auf ihre Einführung wird gemäss Hochrechnung mit 68 Prozent Ja und Zustimmung in allen Kantonen eindeutig angenommen. Bei der IV-Zusatzfinanzierung wird es eine positive Zustimmungsmehrheit beim Volksmehr geben. Bei Ständemehr ist aber alles offen. Hier liegen Ja und Nein vorerst gleich auf.

1415
Die Unsicherheit bei der IV-Zusatzfinanzierung verkleinert sich. Das Volksmehr ist im Ja und beim Ständemehr ist es momentan 11 zu 10 Standesstimmen. Es fehlen noch zwei Kantone: Bern und Aargau. Wenn einer dafür ist, ist es mit dem kinappest möglichen Ergebnis Ja beim Ständemehr, sonst nicht. – Gerade in solchen Momenten war die Unterstützung durch das Team, das im Hintergrund recherchiert, komplementiert und avisiert, was Sache ist, von höchster Bedeutung.

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1438
Der Kanton Bern ist gemäss Hochrechnung im Ja. Das ist zwischenzeitlich klar. Das heisst die Hochrechnung zeigt ein Ja zur IV-Zusatzfinanzierung. Das Volksmehr liegt bei 54,6, und das Ständemehr ist bei 12:11.
Die Ergebnisse stehen fest. Unser Telefonteam ist mit der Arbeit fertig. Gut gemacht!

1515
Zwischenzeitlich ist es definitiv: 54,5 Prozent haben der IV-Vorlage zugestimmt, und bei den Kantonen sind es 12 zu 11 Standesstimmen. Das ist nun offiziell. Letztmals aufgetreten ist ein so knapper Ausgang beim UNO-Beitritt. Bis auf vier Kantone finden wir in beiden Abstimmung das gleiche Resultat. Vom Nein in Ja ewechselt haben Tessin und Graubünden, vom der Zustimmung zur Ablehnung übergegangen sind die Kantone Solothurn und Zug. Sonst ist alle gleich.

1535
Die Stimmbeteiligung liegt bei rund 40 Prozent. Das ist weniger als im Schnitt der letzten Jahre. Bei der IV stimmten etwas mehr, bei der Volksinitiative etwas weniger. Die Ereignisse während des Abstimmungskampfes waren ganz durch die Bundesratswahlen bestimmt, und durch die Libyen-Affäre. Kampagnen gab es zur allgemeinen Volksinitiative gar nicht, zur IV schon. Doch letztlich mobilisierten sie nicht so, wie man das in der Konstellation kannte. Ein einziger Kanton kannte heute eine überdurchschnittliche Beteiligung: Uri. Die lokale Auseinandersetzung rund um die HarmoS-Schulreform gab da den Ausschlag!

1615
Die Erstanalyse der IV-Zusatzfinanzierung gibt drei Hinweise: Zunächst den Unterschied zwischen den Sprachregionen, vor allem zwischen den Sprachregionen. Dann die Wirkung der SVP-Opposition, die im eigenen Umfeld sehr gut funktioniert hat, darüberhinaus aber nur beschränkt wirkte. Und schliesslich der Faktor Betroffenheit: Je höher der Anteil IV-BezügerInnen insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz ist, desto stärker fiel die Zustimmung zur Zusatzfinanzierung aus. Das heisst: Die politische Oppositon gegen die Vorlage hatte vor allem dort seine Grenze, wo man selber oder im Umfeld negative Konsequenzen für IV-BezügerInnen befürchtete. – Die Erstanalyse der zweiten Vorlage ist einfacher: Dort, wo man gewöhnlich mit den Behörden stimmt, war die Zustimmung hoch; wo das auch sonst nicht der Fall ist, gab es mehr Nein-Stimmen. Oder anders: Am Schluss votierte man nicht wegen der Sache, sondern wegen der Konstellation dafür.

1645
Mein Analyseteam packt zusammen. Was man heute sagen konnte, ist berechnet, interpretiert und kommuniziert. Die Diskussionen hier im Studio Leutschenbach verlagern sich. Die Schweizer Abstimmungen verlieren an Aufmerksamkeit, dafür steigt die Sensibilität für alles, was in Deutschland bei den Wahlen geschieht. Ich werde mich schnell kundig machen müssen.

1820
Die Schweiz hat abgestimmt: Sie hat Ja gesagt zur IV-Zusatzfinanzierung. Damit wird die Mehrwertsteuer für 7 Jahre leicht angehoben. Das bedingte eine Verfassungsänderung, weshalb Volk und Stände zustimmen mussten. Das Volk hat das mit einer recht klaren Mehrheit gemacht; die Kantone waren de justesse dafür. Die zweite Vorlage war dagegen unbestritten. Mit zwei Drittel der Stimmen und allen Kantonen hat die Schweiz beschlossen, auf die Einführung eines Volksrechtes zu verzichten. Ich nehme den Zug nach Bern und schaue mir via Internet den Service der Kollegen in Deutschland an.

Claude Longchamp

Das vorläufig amtliches Endergebnis national, kantonal und nach Bezirken gibt es hier.

“Volkswahl des Bundesrates”: indirekte Wirkungen wichtiger als direkte

Das Volk lehnte bis jetzt die Wahl des Bundesrates in Volksabstimmung immer ab. Dennoch hatten entsprechende Initiative oder Projekte indirekte Wirkungen, stärkten sie doch die Vertretung der Parteien, welche die Initiativen lancierten, im Bundesrat früher oder später.

1900
Das Ergebnis der Abstimmung von 1900 zur KK/SP-Initiative: 35 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 59 Prozent der Stimmberechtigten.

Bereits zweimal wurde über die Volkswahl des Bundesrates abgestimmt: 1990 aufgrund einer Volksinitiative, getragen von den Katholisch-Konservativen und den Sozialdemokraten; 1942 als Folge eine Volksinitiative der SP. In beiden Fällen mobilisiert das Thema im Schnitt; zweimal scheiterte das Anliegen in der Volksabstimmung klar: 1900 votierten 65 Prozent dagegen, und es lehnte 14 Kantone ab; 1942 waren 68 Prozent und alle Kanton gegen die Vorlage.

1942
Das Ergebnis der Abstimmung von 1942 zur SP-Initiative: 32 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 62 Prozent der Stimmberechtigten.

Das Abstimmungsergebnis erhellt nicht nur der Blick auf den räumlichen Kontext der Resultate. Der Zeitpunkt der Entscheidung ist mindestens so wichtig.

1900 befand sich die KK im Aufstieg zum Regierungspartei. Seit 1891 war sie als Minderheit mit einem Sitz im siebenköpfigen Bundesrat; im Parlament, vor allem im Ständerat hatte sie aufgrund ihres regionalen Profiles aber mehr Gewicht. 1942 war die SP auf dem Weg in den Bundesrat. Was ihr seit Längerem von bürgerlicher Seite verwehrt wurde, sollte 1943 effektiv erstmals erfüllt werden.

Volksinitiativen für die Volkswahl des Bundesrates gehören damit zu den Instrumenten, die Parteien einsetzen, welche ihre Macht in der Regierung stärken wollen. Sie kennen deshalb ein ausgesprochen taktisches Element. Von einer eigentlichen Konfliktlinie, die alle bestimmen würde, kann damit, wenigstens im historischen Rückblick, nicht gesprochen werden. Die Initiativen scheiterten recht deutlich, da sie keine soziologisch oder ökonomisch beschreibbares Potenzial kannten.

Angewendet auf die Gegenwart heisst dies: Die SVP fühlt sich im Bundesrat untervertreten. Sie verspricht sich, dass von der diskutierten Initiative Druck aus geht; das war schon im Jahr 2000 so, und es dürfte auch momentan der Fall sein. Direkte Wirkungen zeigten die Initiative nicht, weil sie in der Volksabstimmung scheiterten; indirekte Wirkungen stellten sich aber bisher immer ein: 1919 wurde die KK mit zwei Vertretern im Bundesrat bedient, und 1943 wurde die SP erstmals in die Bundesregierung aufgenommen. Bei der SVP reichte schon die Ankündigung der Initiative, dass die Verdoppelung ihrer Vertretung 2003 vorbereitet werden konnte.

Claude Longchamp

Terminator am Ende?

Kalifornien lehnt die Vorschläge zur Haushaltssanierung, die Gouverneur Arnold Schwarzenegger vorgebracht hat, in einer Volksabstimmung weitgehend ab. Der Bundesstaat im Westen der USA braucht jetzt eine harte Haushaltssanierung und wohl auch einen Reform der parlamentarischen wie auch direktdemokratischen Entscheidungsverfahren.


Am Tag davor: Gouverneur Schwarzenegger wirbt für seine Haushaltssanierung, die er im Parlament durchgebracht hat. IN der Volksabstimmung von gestern scheitert er aber deutlich.

Arnold Schwarzenegger, der Gouverneur von Kalifornien, weilte am Dienstag in Wahington, um der Verkündung neuer Umweltstandards für amerikanische Autos beizuwohnen, die Präsident Barack Obama auf der Basis von Vorschlägen Schwarzeneggers beschlossen hatte. Gleichentags wie dieser in der Hauptstadt grosse Erfolge feierte, erlitt er in seiner Wahlheimat drastische Niederlagen. Fünf der sechs Propositionen, die Schwarzenegger zur Sanierung der maroden Staatshaushaltes vorgelegt hatte, scheiterten in der Volksabstimmung mit Nein-Anteil von 60 Prozent und mehr. Einzig angenommen wurde der Vorschlag, die Politikergehält einzufrieren, solange der Staat Defizit ausweise.

Das Ergebnis der Referenden ist ein herber Rückschlag für Gouverneur Schwarzenegger, der die Wählënden in allen sechs Initiativen um Zustimmung gebeten hatte, denn bei Ablehnung droht ein Budgetdefizit von 21 Milliarden Dollar. Nötig geworden waren die vorgeschlagenen Reformen, weil Kalifornien derzeit ganz besonders unter der Wirtschaftskrise leidet. Erstmals seit 1938 fehen in diesem Jahr die Steuereinnahmen in absoluten Zahlen zurück. Korrigieren wollte ihre Gouverneur das, in dem er die Einkommens-, Mehrwert- und Fahrzeugsteuer erhöhte. Zudem hätte mit einer Zustimmung in der Volksabstimmung die Möglichkeit bestanden, eine grossen Geldanleihe aufzunehmen, um die Löhne der Staatsangestellten garantieren zu können.

Vergeblich hatte Schwarzenegger die Stimmenden vor einem Nein gewarnt. Jetzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als den dicken Rotstift anzusetzen. Vor allem Schulen sowie das Sozial- und Gesundheitssystem müssen mit drakonischen Einsparungen rechnen. 5000 Staatsbediensteten droht die Entlassung. Außerdem will Schwarzenegger sieben wertvolle Immobilien verkaufen – darunter das Gefängnis San Quentin bei San Francisco und das Sportstadion Los Angeles Coliseum.

Bruno Kaufmann, Präsident von iri europe, der Schwarzenegger und Kalifornien gut kennt und eine Denkfabrik für direkt Demokratie leitet, glaubt, dass es nötig sein wird, die Entscheidungsstrukturen der parlamenarischen wie auch direkten Demokratie in Kalifornien zu überprüfen, um die Regierungsunfähigkeit der volkswirtschafltich bedeutsamen Bundesstaates der Vereinigten Staaten von Amerika zu verhindern. Er würde sich freuen, wenn seine Organisation nächstes Jahre den ersten Weltkongress für direkte Demokratie in den US durchführen könnte, um mitzuhelfen, alle Möglichkeiten der Institutionenreform auszuloten.

Claude Longchamp

Hochrechnungen zum Abstimmungssonntag

17. Mai 2009. Abstimmungstag. Die Volksentscheidungen über die Biometrischen Pässe und die Komplementärmedizin werden gefällt. Ein Bericht in Raten, wie ich die von unserem Institut gfs.bern geleitete Verarbeitung der Abstimmungsergebnisse erlebte.

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11 00
Im Studio ist die Zeit des Probens. Die Schminke ist auch schon gesetzt. Jetzt kommen die ersten Ergebnisse. Gemeinden, die um 10 Uhr die letzte Urne schliesslich, melden ihre Resultate. Unser Telefonteam ist im vollen Einsatz. Und das Analyseteam verfolgt die news-Lage interessiert.

11 30
Gespannte Ruhe. Eigentliche Prognosen wagt niemand. Nur über das Wetter wird gelästert. Einen sonningen Tage im Freien, das wünschen sich hier die meisten, die im Dienst sind. Von Westen her drohe ein Gewitter, wirft jemand ein. Man ärgere sich nicht zu früh, heisst es. Ob das politisch gemeint sei, fragt die Redaktion sicherheitshalber nach. Wie gesagt, für Prognosen ist es nicht der Moment.

12 35
Die Komplementärmedizin wird gemäss Trendrechung klar angenommen. Bei der Biometrie ist alles offen; eine Trendaussage in die eine oder andere Richtung ist nicht möglich.
Das bestätigen auch die Kantonsergebnisse, die schon vorliegen. Glarus sagt zur Biometrie nein, mit 5 Stimmen Differenz. Derweil sind die vorliegenden vorläufigen Kantonsergebnisse in der Romandie eher im Nein, in der deutschsprachigen Schweiz nicht ganz einheitlich, aber ganz knapp mehrheitlich im Ja.

13 10
Die Komplementärmedizin ist angenommen. Gemäss Hochrechnung sind 67 Prozent dafür. In der Extrapolation der Gemeindeergebnisse erscheinen auch alle Kantone auf der Ja-Seite. Das doppelte Mehr ist hier ausser Zweifel.
Bei den biometischen Pässen zeichnet sich ein ganz knappes Ergebnis ab. Eine Hochrechnung liegt noch nicht vor, und die Trendrechnung ist zu nahe bei 50 Prozent um die Richtung anzugeben.

13 45
In der Tat, die Hochrechnung zu den Biometrischen Pässen gibt gerundet 50:50. Die Differenz aufgrund der vorläufigen Extrapolation ist so gering, dass keine weiterreichenden Schlüsse gemacht werden können. Bei der Beteiligung zeichnet sich ein tiefer Teilnahmewert ab. Er wird unter 40 Prozent liegen.

14 15
Knapp, knapp, knapp, so knapp wie seit 7 Jahren nicht mehr! Damals ging es um die SVP-Asylinitiative. Den Ausschlag gaben die AuslandschweizerInnen, welche die Vorlage kippten. Es brauchte aber eine Nachzählung, bis das Resultat klar war.
Momentan weiss man nicht, ob das alles auch hier auf uns zukommt.

15 15
Es ist entschieden: Die Hochrechnung von 14 50 gab 50,1 Ja zu den Biometrischen Pässen, das vorläufig amtliche Endergebnis von 1505 weist einen Ja-Wert von 50,14 Prozent aus. In Stimmen sind das gut 5508 an Differenz.
Die Stimmbeteiligung liegt bei hochgerechneten 37 Prozent.

15 40
Die kleine Pause war verdient. Ein Stück Käsekuchen und ein Orange-Jus. Doch wird sind mit dem Zeitplan im Verzug, wegen dem knappen Ja zur Biometrie.
Jetzt geht die Analyse los: 38 Prozent effektive Beteiligung sind nicht nur wenig, sondern auch unterdurchschnittlich für schweizerische Volksabstimmungen. Das ist so etwas wie die “Basis-Mobilisierung +”. Die BefürworterInnen erhielten die Unterstützung von den praktisch sicheren Teilnehmenden. Die GegnerInnen haben darüber hinaus wohl ein wenig zusätzlich mobilisieren können. Dafür spricht, dass die Beteiligung in der Romandie etwas mehr ist, als der Sockelwert erwarten lässt, und dort die Biometrischen Pässe etwas verstärkt umstritten waren.

Räumliche Verteilung von Zustimmung Ablehnung bei Komplementärmedizin (links) und Biometrischen Pässen (rechts)
komplementaaerbiometrie
Quelle: BfS

16 15
Die Erstanalyse der Komplementärmedizin gibt eine klare Abweichung. Sie betrifft die Gebiete mit einer überdurchschnittlichen SVP-Stärke. Sie sind die einzigen, die statistisch signifikant weniger stark zugestimmt haben. Die Effekte werden vor allem in der deutschsprachigen Schweiz sichtbar, kaum aber in der Romandie.
Die parteipolitische Aufladung gesundheitspolitischer Vorlagen ist und bleibt aber schwierig. Parteipolitische Opposition wird maximal von den treuen Parteianhängerschaften verstanden, strahlen aber kaum darüber hinaus. Die Basis der Grünen, der SP, der CVP und der FDP will, dass die Komplementärmedizin wieder in die Grundsversicherung aufgenommen wird.

16 40
Auch zu den Biometrischen Pässen liegt die Erstanalyse vor. Wo die CVP, genereller auch die Mitte-Wählenden überdurchschnittlich stark vertreten, stimmt man eher zu. Das gilt exemplarisch für den Kanton Luzern, der am klarsten von allen Ja sagte. Auf der anderen Seite zeigt sich die verstärkte Ablehnung durch die Regionen, in denen insbesondere rot-grün verstärkt gewählt wird. Hier war das Nein über dem Mitteln. Nur sehr beschränkt kann das auch für Regionen mit SVP-Dominanz gesagt werden.
Von den generellen Konfliktmuster schlägt aber nur das zur Sprache systematisch an. Alles andere bleibt zurück.
Das Ja zu den biometrischen Pässen stammt demnach aus dem politischen Zentrum, das kräftig in den Schwitzkasten genommen wurde. Da das von verschiedener politischer Seite, ergibt die Nein-Karte ein neuartiges Patchwork. .
Der politische Druck kam von aussen auf das Parlament. Dieses tut gut daran, ihre diesbezüglichen Modernisierungsvorhaben nicht nur juristisch und technisch zu beurteilen, sondern auch politisch zu gewichten.

18 00
Was bleibt von diesem Abstimmungssonntag? Sicher das knappe Ja zu den Biometrischen Pässen, dann die klare Sache bei der Komplementärmedizin. Und schliesslich die auch für die Schweiz tiefe Beteiligung.
Die Debatten waren diesmal weniger durch Konfrontation, Emotion und Werbemitteleinsatz geprägt. Vielmehr berichteten Zeitungen und Internetseiten über das Pro- und Kontra. Das Wesentliche war dann irgendwann gesagt, sodass die Kampagnen am Schluss förmlich aufliefen. Die Entscheidungen dürften vielmehr aus den Lebenswelten heraus getroffen worden sein, und sind denn auch politisch nicht eindeutig zu fassen.
Das Zentrum hat sich heute zweimal durchgesetzt. Die Linke hat einmal gewonnen, einmal verloren. Die SVP unterlag mit ihren zwei Nein-Parolen zwei Mal.

19 00
Ich sitze im Zug nach Bern. In Olten ziehen von Westen her dicke Regenwolken auf. Die Prognose lag goldrichtig.

Nachtrag Montag morgen
Unsere Hochrechnung zum Kanton Zürich ergab schnell 51,8 Prozent Ja. Jene auf der Website des Kantons zeigte dagegen 54,7. Hätten wir jene des Kantons übernommen, wären wir von Beginn weg bei rund 50,5 Prozent Ja für die eigenössische Hochrechnung gewesen. Die Trendaussage hätte aber auf einem tendenziellen Irrtum basiert. Denn der Kanton Zürich lag am Schluss effektiv bei 52,0 Prozent Ja.

Claude Longchamp

frühere Live-Blogs zu Abstimmungshochrechnungen

Spaltungen der Schweiz bei Volksabstimmungen systematisch untersucht

Ein Forschungsprojekt von Berner PolikwissenschafterInnen hilft, die Vielfalt von Gegensätzen in den Abstimmungsergebnissen historisch und typologisch zu überblicken.

Wer erinnert sich nicht an die Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992, als die Schweiz in einer denkwürdigen beim Volksmehr knapp, beim Ständemehr deutlich entschied, dem EWR nicht beizutreten. Vom “Röschtigraben” war damals sinnbildlich die Rede, weil die Trennlinie zwischen mehrheitlicher Zustimmung und Ablehnung praktisch mit der Sprachgrenze zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz zusammenfiel, und die Sprachregionen (mit Ausnahme der deutschsprachigen Grossstädte) fast gänzlich gegensätzlich stimmten.

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Cleavages oder Konfliktlinien nennt die Sozialwissenschaft gesellschaftlich bedingte Spaltungen, die historisch zurückliegende Konflikte reflektieren, nachwirken, verschiedenen Interessen oder Identitäten zum Ausdruck bringen und durch entschprechende Organisationen immer wieder mobilisiert werden. Das kann man erfolgreich für die Entstehung der Parteiensysteme verwenden, aber auch für Analyse von Volksabstimmungsergebnisse verwenden.

Ein Forschungteam der Universität Bern, geleitet von Wolf Linder, hat sich dieses Raster auf alle Volksabstimmungen seit 1874 angewendet und die raumbezogenen Resultate erstmals eine systematischen statistischen Analyse über die Zeit unterzogen. Die Ergebnisse ihrer Studie wurde vor kurzer Zeit im Band “Gespaltene Schweiz – Geeinte Schweiz. Gesellschaftliche Spaltungen und Konkordanz bei den Volksabstimmungen seit 1874″veröffentlicht (und ist teilweise auf via Web abrufbar).

Konfliktlinie “Stadt vs. Land” bei Volksabstimmungen
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Regula Zürcher und Christian Bolliger, welcher die empirischen Arbeiten geleistet haben, kommen zum Schluss, dass der Stadt/Land-Gegensatz nicht nur der wichtigste über die ganzen Betrachtungsperiode ist. Er nimmt auch klar zu. Oder anders gesagt: In Volksabstimmung der Schweiz ist die Konfliktlinie zwischen Stadt und Land am häufigsten relevant, um Zustimmung und Ablehnung zu kennzeichnen.

Konfliktlinie “Kapital vs. Arbeit” bei Volksabstimmungen
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An zweiter Stelle figuiert bei ihnen die Konfliktlinie “Arbeit/Kapital”; sie war zwischen 1895 und 1925 ausgeprägt wirksam und bei Volksabstimmungen die wichtigste. Seit 1986 ist die wieder zunehmend, bleibt aber hinter der erstgenannten zurück.

Konfliktlinie “deutschsprachige vs. französischsprachige Schweiz” bei Volksabstimmungen
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Damit sind die beiden interessenbezogenen Spaltungen an der Spitze. Die beiden identitätsorientierten Konfliktlinien, die ebenfalls untersucht wurden, folgen danach: Zuerst erwähnt wird der Sprachengegensatz (hier vereinfacht dargestellt durch die Spaltung zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz), während die konfessionelle Teilung der Schweiz (gemessen an der Polarität zwischen Katholizismus und Protestantismus) an letzter Stelle folgt.

Konfliktlinie “Katholisch vs. reformiert” bei Volksabstimmungen
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Der grosse Vorteil dieser Art von Analyse ist, die Uebersicht zu erhalten und zu bewahren, wobei die Aufgeregtheit, mit der einzelne Phänomene gelegentlich kommentiert werden, relativiert wird. Das gilt notabene auch für die “Spaltung” der Schweiz beim EWR, die aus der Sicht der Abstimmungsgeschichte nur eine vorübergehende Episode war: ein Grund mehr, diese Konfliktlinie nicht bei jeder Gelegenheit zu bemühen!

Claude Longchamp

Zwei Nein-Parolen verschlechtern Annahmechancen, ohne alles zu entscheiden

Sind zwei Regierungsparteien gegen eine Vorlage, die Bundesrat, National- und Ständerat verabschiedet haben, sinken die Chancen eine Annahme in der Volksabstimmung: In 7 von 10 Fällen resultierte ein Nein. Sicher ist die Ablehnung indessen nicht. Und verallgemeinernde Regeln gibt es ebenfalls nicht.

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Toni Brunner (SVP) und Christian Levrat (SP): Beide Präsidenten rufen ihre ParteianhängerInnen auf, die biometrischen Pässe abzulehnen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen (Quelle: Blick)

An diesem Wochenende haben zwei Regierungsparteien ihr (unterschiedlich begründetes) Nein zu den biometrischen Pässen entschieden. Sowohl die SP wie auch die SVP haben sich gegen die vorgelegte Form der Einführung eines e-Passes in der Scwheiz ausgesprochen.

Unter Konkordanzbedingungen (4 resp. 5 Parteienregierung, seit 1959) ist eine abweichende Partei fast schon der Normalfall. Der Ausgangs ist davon nur beschränkt betroffen.

Stellen sich dagegen 2 grössere Parteien gegen die Behördenentscheidung, handelt es sich um etwas Spezielles: 6 Mal formierte sich die Opposition aus den Reihen von SVP und FDP, 2 Mal empfahlen SP und CVP gemeinsam ein Nein, und je ein Mal war die SP mit der FDP resp. mit der SVP auf der ablehnenden Seite.

Die aktuelle Konstellation gab es in Referendumssituationen erst einmal: 2003, als der Souverän über ein neues Volksrecht, die allgemeinen Volksinitiative, entschied, waren SVP und SP gemeinsam dagegen.

Ja in % Jahr Vorlage
70.4 2003 Aenderung Volksrechte (Opposition SVP/SP)
68.0 2006 Familienzulagen (SVP/FDP)
63.3 1987 Abstimmungsverfahren Volksinitiativen (SVP/FDP)
45.5 1988 Koordinierte Verkehrspolitik (SVP/FDP)
45.3 2000 Förderung erneuerbarer Energien (SVP/FDP)
44.5 2000 Energielenkungsabgabe (SVP/FDP)
43.1 1985 Innovationsrisikogarantie (SVP/FDP)
37.2 2004 Gegenvorschlag Avanti-Initiative (SP/CVP)
33.0 1996 Arbeitsgesetz (SP/CVP)
28.5. 1978 Schwangerschaftsabbruch (SP/FDP)

Eine einfache Verallgemeinerung aus der Ausgangslage einerseits auf das Abstimmungsergebnis anderseits ist nicht möglich. In den 10 Fällen setzten sich 7 Mal die opponierenden Parteien durch, drei Mal die anderen. Eine gesicherte Regel, wie sich die doppelte Themenopposition auf den Abstimmungsausgang auswirkt, gibt es nicht.

Das hat mit weiteren erklärenden Faktoren zu tun, wie der Bedeutung der Abstimmung, die Intensität der Kampagnen und der Alltäglichkeit der Vorlage.

Uebrigens: Gemeinsam erfolgreich waren die politischen Kontrahenten SVP und SP mit ihrem Zangenangriff auf eine Behördenvorlage noch nie!

Claude Longchamp

Schlag auf Schlag: Live-Bloggen aus dem Abstimmungsstudio zur Personenfreizügigkeit

Die Schweiz sagt Ja zur definitiven Personenfreizügigkeit mit der heutigen Europäischen Union. Das Tagebuch von Claude Longchamp am Abstimmungssonntag vom 8. Februar 2009.


Ergebnis der Hochrechnung von gfs.bern für die SRG-Medien Am Abstimmungssonntag um 15 Uhr

18 30
Das ganze Hochrechnungsteam hat Leutschenbach verlassen. Die TelefonistInnen konnten schon um 14 Uhr gehen, denn unsere Referenzgemeinden waren ausnahmslos super schnell und zuverlässig. Für das Analyseteam war um 16 Uhr Schluss, und ich habe mir um 18 Uhr eine kleinen Apfelsaft-Drink gegönnt. Wir hatten alle unsere Wette abgegeben, im Team. Am besten war Laura Kopp, unsere neue Projektleiterin, die heute erstmals im Studio mit dabei war. Sie hatte zur verbreiteten Ueberraschung auf 60 Prozent Ja und 40 Prozent Nein gesetzt. Gratulation!

17 10
Im Studio nebenan kreuzen sich Ständerat Urs Schwaller von der CVP und Nationalrat Hans Fehr von der SVP die politische Klinge. Ich höre Bekanntes aus dem Abstimmungskampf und frage mich deshalb: Wie geht es weiter? Das rotgrüne Lager kündigt, wenn auch verhalten, eine neue EU-Beitrittsdebatte an. Ich zweifel, ob das gut ankommt. Denn es braucht hierfür eine solide Allianz von mindestens 3 grossen Regierungsparteien. CVP und FDP müssten in ihrer Mehrheit dafür sein, doch sie ziehen den Bilateralen Weg vor. Auch die Aussenministerin, Micheline Calmy-Rey von der SP, unterstützt den raschen Schritt nach vorne nicht. Sie zieht ein Rahmenabkommen mit der EU vor, das das Verhältnis der Schweiz zu ihrem europäischen Umfeld regelt. Es soll von der Einzelfallbetrachtung im Bilateralismus zu einer übergeordneten, dauerhaften und dynamischen Betrachtungsweise führen. Und es soll verträglich mit der direkten Demokratie sein. Ich denke das wäre gut, denn der 2001 eingeschlagene Bilaterale Weg ist in Regierung, Parlament und Stimmvolk das zukunftsweisende, mehrheitsfähige EU-Projekt der Schweiz.

16 40
Die Meldung auf dem news-Ticker, SVP-Präsident Toni Brunner befürworte, eine Volksinitiative gegen die Personenfreizügigkeit zu lancieren, sorgt für Irritation im Studio. Es ist heute die fünfte Volksabstimmung zu den Bilateralen seit 2001. Es das fünfte Mal, das die Stimmenden Ja sagen. Einen zeitlicher Trend in Richtung Nein gibt es nicht. Die SVP hat viermal die Nein-Parole beschlossen, und vier Mal verloren. Das kann man nur so zusammenfassen: Ihre Opposition in dieser Frage ist nicht mehrheitsfähig. Wenn die SVP das Thema mit eigenen Initiativen weiter politisieren will, ist das natürlich ihr freies Recht als politische Partei. Sie wird sich aber gefallen lassen müssen, dass man sie kritisiert, das aus rein parteitaktischen Gründen zu machen. Anmassend wirkt, dass die nun auch noch per Communique behauptet, der Volksentscheid von heute sei “nicht interpretierbar”. Ich werde das Thema morgen bei der Redaktion der VOX-Analyse aufnehmen.

16 10
Man ist geneingt, fast schon wieder zu sagen: Der Vergleich der Zustimmung zur Personenfreizügigkeit in einem Kanton einerseits, dem Ausländeranteil anderseits zeigt das, was die Sozialwissenschaften schon lange wissen: Wo der Ausländeranteil tief ist, ist auch ihre Ablehnung am stärksten. Wer nie mit AusländerInnen zu tun gehabt hat, reagiert am negativsten auf ihr Bild, das Kampagnen zeichnen. Wo er überdurchschnittlich ist, hat man gelernt, mit den Veränderungen vorzugehen, sieht Vor- und Nachteile und stimmt deswegen nicht isolationistischer. Das gilt eigentlich flächendeckend für die ganze deutschsprachige Schweiz, wo die Kampagnen regelmässig das Gegenteil behaupten. Daran sollte man sich ein ander Mal rechtzeitig erinnern. Und noch eines: Nicht einmal in Zürich, wo die Immigration von Deutschen am grössten ist, hat die Ablehnung der Personenfreizügigkeit nicht zugenommen, nein, sie ist zurückgegangen.

15 20
Die Beteiligung an der Abstimmung ist unverändert ein Thema im Studio. Ein Produkt der Schlussmobilisierung? Ich neige dazu. Warum? Die individualisierte Videobotschaft der BefürworterInnen, die vor 14 Tagen lanciert worden ist, könnte ihre Wirkungen gehabt haben. Entlehnt war sie aus dem Obama-Wahlkampf im November 08, denn auch da setzte man auf Erfolg durch Mobilisierung. Hat die Schweiz hier nicht nur ein Novum erlebt, sondern auch eine entscheidende Auswirkung auf das Abstimmungsresultat gesehen. Rund 400’000 versandte Aufforderungen zur Beteiligung in gut 10 Tagen sind schon ein starkes Indiz.

14 45
AP und SDA vermelden das vorläufige Endergebnis der Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit: 59,6 Prozent Ja, 40,4 Prozent Nein. Der verbindliche Wert für die Stimmbeteiligung liegt noch nicht vor; in der Hochrechnung liegen wir bei knapp 52 Prozent.

14 30
Kleine Verschnaufpause, Suppe mit Wurst, und ein wenig Süsses darüber hinaus. Das gibt Zeit, um nachzudenken. Was ist Fakt? Hier eine Zusammenfassung:

. Die Schweiz sagt in einer Volksabstimmung Ja zur Personenfreizügigkeit. Damit wird diese 7 Jahren nach ihrer provisorischen Einführung definitiv verlängert, und die Personenfreizügigkeit wird auf die neuen EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien ausgedehnt.
. Erneut bestätigt die Schweiz damit den Bilateralen Weg, den sie selber gefordert und den die EU akzeptiert hatte. Das ist nach 2000 mit überwältigenden Ja und den Abstimmunngen 2005 und 2006 mit recht knappen Zustimmungsraten die fünfte Zustimmung in einer Volksabstimmung. Die Anteile sind seit 2005 schwankend, aber nicht, wie man erwartet hatte sukkzesive abnehmend.
. Die Zustimmung zur Personenfreizügigkeit 2009 ist höher als 2005. Damit hat niemand gerechnet. Vielleicht müssen wir umlernen: In wirtschaftlichen Krisenzeiten setzt man nicht mehr auf mehr Schweizer statt Ausländer, wie das die nationalkonservative Opposition will. Vielmehr ist man gegen Experimente bei den bewährten Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU, unserem wichtigsten Handelspartner.

14 10
Die Zustimmung zur Personenfreizügigkeit ist 2009 höher als 2005. Der Wandel ist mit Ausnahme des Tessins fast flächendeckend. In der deutschsprachigen Schweiz zeichnet sich ein bemerkenswerter Wandel: Auch in der Zentralschweiz stimmen Mehrheiten in Ob- und Nidwalden zu, und auch im Kanton Uri ist der Ja-Anteil kräftig gewachsen. Es bleibt das Nein in Schwyz und, recht knapp, in Glarus. Appenzell Innerrhoden kommt noch dazu.

13 45
Die Hochrechnung ist klar: 59 Prozent Ja zur Personenfreizügigkeit. Die Schätzung zur Mobilisierung liegt bei gut der Hälfte. Die Beteiligung und die Zustimmung waren damit höher, als in der letzten Umfrage. Das spricht dafür, dass es zu einer kräftigen Schlussmobilisierung gekommen ist, bei der die Ja-Seite klar besser gewirkt hat als das Nein-Komitee. Man kann das auch so deuten: Die Ambivalenz, die im Abstimmungskampf deutlich sichtbar wurde, ist am Schluss in eine recht klare Entscheidung zugunsten der Bilateralen, der Personenfreizügigkeit und der damit verbundenen Unterstützung für die Wirtschaft gekippt. “Jetzt erst recht den eingeschlagenen Weg fortsetzen”, dürfte die Stimmung angesichts drohender Krise am besten treffen.

13 10
Eine ereignisreiche Stunde liegt hinter uns. Klar ist, dass die Schweiz der verlängerten und erweiterten Personenfreizügigkeit zustimmt. Der Anteil-Anteil wird gemäss Trendrechnung über 55 und unter 60 Prozent liegen. Er dürfte auch höher sein als 2005. Die Zustimmung ist in der Romandie sehr deutlich, wohl flächendeckend. In der italienischesprachigen Schweiz ist es Nein, im Verhältnis zwei zu eins. In der deutschsprachigen zeichent sich eine mehrheitliche Zustimmung vor allem im Mittelland ab, während in der Zentralschweiz und wohl auch in der Ostschweiz einige Kantone ablehnend sein werden.

12 10
Für die Hochrechnung ist das technisch gesprochen die entscheidende Phase. Denn jetzt treffen schnell viele Ergebnisse ein. Wir können sie mir der Erwartung vergleichen. Diese basiert in erster Linie auf der Abstimmung zur Personenfreizügigkeit von 2005. Das Muster stimmt in den 13 Kantonen, in denen wir bereits Aussagen machen können. Wir entscheiden, unverändert danach zu arbeiten. Eine direkte Aussage über die Zustimmungshöhe ist das noch nicht, aber eine über die räumliche Verteilung. Ich bin froh, denn jetzt zeigt unser Check, dass die Vorbereitungen grundsätzlich stimmten.

11 55
Der erste Kurzeinsatz steht bevor. Die zentrale Frage ist: Ziehen die SchweizerInnen, wie es die SVP will, die Notbremse, indem sie die Personenfreizügigkeit kippen, oder wollen sie keine verunsichernden Einschränkungen für die angeschlagene Wirtschaft, wie es SP, CVP, FDP und BDP empfehlen? Wir werden es bald sehen.

11 30
Alle sind auf ihren Posten. Die Tagesschau hat geprobt, das Abstimmungsstudio ist bereit, und die HochrechnerInnen sind bereits am Arbeiten. Die Ergebnisse aus den Gemeinden, die um 10 Uhr schliessen, treffen ein. Bis 12 Uhr herrscht aber totale Informationssperre. Durchgespielt werden die Szenarien: “leichter Ja-Trend” bedeutet, es gibt 55 Prozent Zustimmung; “leichter Nein-Trend” meint, wir rechnen mit 55 Prozent Ablehnung. Alles dazwischen wird in der Trendrechnung mit “keine Trend-Aussage möglich” kommuniziert.

11 00
Maske ist angesagt. Langes Wandern durch die Gänge des Fernsehstudios. Mein Gesicht wirke etwas fahl, heisst es. Stirn, Backen und Augenbrauen bekommen Farbe. Heute soll es konturenhaft zu und her gehen. Im Hintergrund läuft der Hauskanal von SF. Man kann die Stimmung im “Haus zur Freiheit” in Ebnat-Kappel, wo SVP-Präsident Toni Brunner sitzen wird, erahnen. Sie wirkt mindestens so fahl wie mein Gesicht, – vor der Schminke. Gut, im Restaurant in der Ostschweiz hat es auch noch kaum Leute; das wird sich schon noch ändern.

10 00
Das Hochrechnungsteam von gfs.bern trifft im Studio Leutschenbach ein. Die letzten Vorbereitungen im Studio 8 können beginnen. Computer hochfahren, Kabel prüfen, News-Lage checken. Vor den Studios rauchen die Zigaretten der RaucherInnen. Das Notfall-Szenario wird noch heftig besprochen, sollte es ein Nein geben. Denn allgemein glaubt mann/frau in der Redaktion, es werde ein Ja geben.

Ich montiere meine Fliege. Hell ist sie heute. Denn hell ist freundlich!

Berichte von den Abstimmungsfesten:
Befürwortende Jung-Parteien

Live-Blogs von früheren Abstimmungen:
11. März 2007
26. Mai 2006