2 Nein, 1 Ja – die erste Prognose für den 9. Februar 2014

Nein zu den Volksinitiativen “gegen Masseneinwanderung” resp. “Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache”, Ja zur Fabi-Vorlage zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs – das ist die erste Prognose zu den Volksabstimmungen vom 9. Februar 2014 des Blogs “50plus1”.

Wir kennen sie, die Parolenspiegel vor Volksabstimmungen. Zeitungen und politische Websites veröffentlichen sie regelmässig, um die BürgerInnen zu informieren, wer für resp. gegen eine Vorlage ist.
Einer der genauer als der Durchschnitt hinsieht, ist Oliver Strijbis, promovierter Politologe an der Universität Hamburg. Den Spezialisten für vergleichende Politikwissenschaft interessiert nicht eine Volksabstimmung, sondern möglichst viele. Mit Akribie hat er studiert, was passiert, wenn die SVP dafür, die SP dagegen sind und das Zentrum sich zwischen den Polen positioniert – und daraus ein einfaches Prognose-Tool erstellt.
Mit Blick auf den 9. Februar 2014 hat er die Parteien, die sich schon festgelegt haben, ausgewertet. Zudem hat er die ausstehenden Stimmempfehlungen aufgrund erwartbarer Parolen ergänzt. So kommt zu folgendem Schluss: Mit den kommenden Volksentscheidungen stützen die BürgerInnen die Positionen der Behörden gleich dreimal, ist seine Prognose, denn sie sagen Ja zur Fabi-Vorlage bzw. Nein zu den Volksinitiativen gegen freie Einwanderung und gegen die Abtreibungsfinanzierung.
Der Politologe geht noch weiter: Bei der Fabi-Abstimmung rechnet er mit einer Zustimmung von 63 Prozent; bei der Zuwanderungsinitiative mit einem Nein-Anteil von 60 Prozent, bei der Abtreibungsfrage gar von 66 Prozent.

Drei Mal klare Sache also? – So interessant die Vorhersagen aus Hamburg sind; so haben sie auch Schwächen: Die erste betrifft die Vergangenheitsorientierung der Prognosen, denn sie basieren auf dem Prinzip, dass das Gleiche geschieht, was bisher geschah. Das ist zwar kein schlechter Grundsatz, denn im Normalfall trifft er zu; doch bleibt der Mangel, dass er gerade in ausserordentlichen Lagen Tücken aufweist – und sie unterschätzt. Die zweite Schwäche zielt auf die Präsentation. Strijbis publiziert seine Prognosen auf seinem Blog “50plus1”, was alleine noch kein Handicap ist. Doch bleibt er ganz anders als in Fachartikeln äusserst sparsam, was Informationen zur verwendeten Methode betrifft.
Im konkreten Fall erwähnt der Prognostiker nur, dass er auf drei Sachverhalte abstellt: auf die Parolen als Ganzes, auf die Geschlossenheit der Mitte und auf den Themenbereich.
Das erste Kriterium ist eindeutig; es bedarf keiner weiteren Erörterung. Das zweite ist schon anfälliger, denn wie bestimmt man die Geschlossenheit der Mitte? Diffus bleibt auch das dritte Charakteristikum, den Politikbereich betreffend.
Wenn man das alles nicht weiss, bleibt die Prognose zwar heiss, aber schwer vage. Hilfreich wäre wenigstens zu wissen, welche Vorhersagen bei früheren Volksabstimmungen resultierten, und wie gut sie mit dem Abstimmungsergebnis übereinstimmten. Doch auch hier mangelt es an Informationen. Da hilft auch der Nachsatz nicht weiter, die Chance sei 1:19, dass die Einwanderungsinitiative angenommen werde.

So bleiben die folgenden Feststellungen: Am wenigsten überrascht die Prognose zur Abstreibungsinitiative; etwas unsicherer erscheint der Volksentscheid zur Fabi-Abstimmung, vor allem wenn man sich an die die Dynamik der Meinungsbildung bei der Vignetten-Entscheidung erinnert. Im Widerspruch zum vorherrschenden Medienklima vor allem in der deutschsprachigen Schweiz steht die recht klare Aussage in Sachen SVP-Initiative gegen die Personenfreizügigkeit.
Vielleicht hat die hier vorgestellte Methode aber genau hier ihren Vorteil: Denn der Hamburger Politikwissenschafter machte seine Analyse weitestgehend unbeeinflusst von der konkreten öffentlichen Meinung in der Schweiz. Denn sie ist nicht nur ein Rätselraten über den Bevölkerungsmeinungen; sie ist immer auch gefärbt die das erhoffte Abstimmungsergebnis. Dem hält der Politologe entgegen, dass er nur die Fakten ordnet.

Selber beobachte ich neben den Schlagzeilen der so oft dramatisierenden Sonntagspresse wie das allgemeine Klima ist, ebenso wie Strijbis, wie sich die Parteieliten im Parlament und an den Delegiertenversammlungen verhalten haben, wie sich der Abstimmungskampf entwickelt, und wie die Erfahrungen der Menschen mit den Abstimmungsthemen in ihrem heutigen Alltag sind.
Jedes dieser Kriterien gibt einen einzelnen Hinweis, wie sich die Ausgangslage entwickelt; die Gesamtheit der Indikationen erlaubt es, eine konsolidierte Einschätzung der Ausgangslage und der Meinungsbildung zu Volksentscheidungen vorzunehmen – nicht zuletzt ergänzt durch Voranalysen auf Befragungsbasis

Mehr nächstes Jahr, aber schon bald …

Claude Longchamp

Das politische System der Schweiz – neu dokumentiert und analysiert

589 Seiten sind ein langes Stück. Noch stärker ist allerdings das inhaltliche Stück Einsicht, das darin steckt. Denn Adrian Vatter legt mit dem UTB-Buch “Das politische System der Schweiz” ein neuartiges Werk vor, das sich rasch als Standard durchsetzen dürfte.

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Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern, Autor des neuen Buches “Das politische System der Schweiz”

Drei Gründe nennt der Berner Politikwissenschafter, weshalb man sich mit dem hiesigen Politsystem beschäftigen solle: den Mikrokosmos in Europa, der früh den Integrationsprozess zum Bundesstaat schaffte, die politische Willensnation auf multikultureller Grundlage, die durch Machtteilung befriedet wurde, und das moderne direktdemokratische Labor, das Vorreiterin für zeitgemässe Formen der unmittelbaren Bürgermitsprache ist.

Was der Professor für Schweizer Politik dann auftischt, ist nicht eine Institutionenkunde, wie man sie vom Staatsrechtshandbuch hinlänglich kennt. Nein, es ist eine genuin politikwissenschaftliche Analyse des hiesigen Demokratiemusters. Hierfür folgt der Autor, mit Modifikationen, dem weltweit führenden Theoretiker Arend Lijphard, der vor gut 10 Jahren zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratien zu unterscheiden begann und damit die bisherige Polarität von parlamentarischer und präsidentieller Demokratie ablöste.

Aus dieser Überlegung heraus entstehen im Buch Vatters 10 Kapitel – vom Wahlsystem, über Parteien und Verbände, Regierung und Parlament, der Gleichheit von Volk und Ständen, der direkten Demokratie, der Verfassung, dem Föderalismus bis hin zum Justizsystem. Jedes dieser Buchteile ist, wie es sich für Übersichtsbuch gehört, systematisch aufgebaut, beginnend mit einer historisch fundierten Herleitung, darauf aufbauend die Präsentation der politikwissenschaftlichen Forschungsergebnisse bis hin zum internationalen Vergleich der Schweiz. Eine Zusammenfassung des gegenwärtigen Diskussionsstandes mit Entwicklungslinien schliesst ein jedes Kapitel ab.

Das Ganze endet in einer fulminanten Synthese, mit der Vatter seine These von der “durchschnittlich gewordenen Konsensdemokratie” begründet. Anders als im 19. Jahrhundert ist die Schweiz heute keine liberale Mehrheitsdemokratie mehr, denn diese liess sich nicht auf Dauer stabilisieren. Doch ist die Schweiz, anders als in der Mitte des 20. Jahrhunderts, heute auch kein exemplarischer Fall mehr für eine Konsensdemokratie, denn die aktuellen Entwicklungen namentlich im Eliteverhalten lassen Zweifel entstehen. Dennoch, in der Polarität Lijpharts gehört die Schweiz immer noch auf die Seite einer Konsensdemokratie, im internationalen Vergleich ist sie aber kein Vorbild mehr, sondern zum Normalfall geworden. Damit einher geht, dass die Demokratiequalität nicht mehr ganz top ist, die Schweiz aber immer noch in der Spitzengruppe der OECD-Staaten rangiert.

Zu den absoluten Stärken des neuen Buches zur Schweiz gehört, dass es die bisweilen verstreut vorliegenden Forschungsergebnisse zum Schweizer Politsystem aufgearbeitet hat. Davon zeugen die Literaturlisten nach jedem Kapitel, die Publikationen bis 2013 berücksichtigen. Deutlicher noch kommt es in der Vielzahl von Tabellen mit Daten zum Ausdruck, die ebenfalls so aktuell sind, wie wenn sie in der heutigen Zeitung erschienen wären. Schliesslich werden auch die zentralen Trends beschlossen, denen die Schweiz unterliegt, namentlich der Konfliktkultur, die in den letzten 10 Jahren an zahlreichen Orten ihre Spuren hinterlassen hat.

Vielleicht, könnte man sagen, gibt es da eine Schwäche im kommenden Standardwerk. Denn zu den grossen Einflussfaktoren auf das politische System der Schweiz gehören heute Globalisierung und Europäisierung. Die kommen im Schlussteil, bisweilen auch in den Kapiteln, kurz zur Sprache, werden aber nirgends zu einer integrativen Perspektive zusammengefasst, die erhellend aufzeigen würde in welchem Masse sich das System durch innere resp. durch äussere Kräfte verändert.

Das alles ist für jene halb so wild, die das Buch ganz bewusst als Nachschlagewerk verwenden werden. Denn sie finden zahlreiche Übersichten, die es bisher nicht gab oder erst mit den Vorarbeiten zu diesem Buch veröffentlicht wurde: So der Überblick über die institutionellen Grundlagen der Parlamentswahlen in jedem Kanton, so der erweiterte Stammbau der Schweizer Parteien, so die Ausbildung des Verbandssystems in den Kantonen, so die Koalitionstypen kantonaler Regierungen für die letzten 30 Jahre, so eine Typologie der direkten Demokratie in den 23 OECD-Staaten, so die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesgerichts und so eine Demokratiekarte der Kantone.

Man kann es nur so zusammenfassen: Wer sich für das politische System der Schweiz interessiert, der oder die wird hier sicherlich bedient, sei er oder sie StudentIn der Politikwissenschaft in der Vorlesungen Vatters, DoktorandIn im Ausland vor der Herausforderung stehend, sich kompetent im Forschungsstand zurechtfinden zu müssen, DozentIn an einer Hochschule, gestresst, die Vorlesungsunterlagen ganz rasch aufdatieren zu müssen, JournalistIn, mit dem Auftrag versehen über Eigenheiten der Schweiz berichten zu dürfen, bis hin zur PolitikerIn mit einem wachen Auge für Grundfragen des politischen Systems der Schweiz.

Bedient ist vielleicht nur das Vorwort, denn das neue Kompendium informiert von Geschichte zur Gegenwart, empirisch wie theoretisch, aus der Binnen- wie auch auch aus der vergleichenden Aussenperspektive. Genau deshalb sollte man sich das Buch gleich anschaffen. Als Weihnachtsgeschenk für sich, denn der Autor hat soeben der Schweiz ein solches überreicht.

Claude Longchamp

Neue Parteien, neue Werte, neues Regierungssystem?

1983 veröffentlichten Erich Gruner und Hanspeter Hertig das Buch „Der Stimmbürger und die neue Politik“. Eine epochale Wende sahen sie auf die Schweizer Politik zukommen. Im Rückblick auf die 30 Jahre seither werden drei Veränderungen sichtbar.

Erstens, die Veränderung der Parteienlandschaft.
1983 wurden erstmals Grüne in den Nationalrat gewählt. Nach vier weiteren Jahren machte ihr die Autopartei Konkurrenz. Genau Gegenteiliges vor Augen, politisierten beide Parlamentsneulinge unkonventionell.

Nach ihrer Wahlniederlage 1987 reagierte die SP auf die grüne Herausforderung; seither bilden beide Parteien den linken Pol der Schweizer Politlandschaft. Auf der rechten Seite ging die Freiheitspartei, seit 1994 Nachfolgerin der Autopartei, weitgehend in der neuen SVP auf.

Dabei sollte es nicht bleiben: Bis 2003 wuchsen der rechte wie der linke Pol bei Wahlen und spalteten die Schweizer Politik wie nie unter Konkordanz-Bedingungen. Dabei gingen FDP und CVP ihrer einstigen Vormachtstellung aus der bürgerlichen Mitte heraus verlustig, was sie im Nationalrat von weiteren Partnern abhängig macht.

Erst 2007 wurde der Aufstieg der SP gestoppt; 2011 traf es auch die GPS und die SVP. Parteiabtrünnige, neu in der GLP und BDP vereint, mobilisieren Unzufriedene mit den etablierten Parteien und mischen seither die zerbrochene Mitte auf: Zu neuen Allianzen bereit, brechen sie zementierte Mehrheiten wie in der die Energie- oder Bankenpolitik auf. Die Schweizer Politik ist volatiler geworden.

Zweitens, die Veränderung der politischen Werte.
Zu typisch schweizerischen Werten wie Neutralität, Unabhängigkeit, aber auch Mässigung und Pragmatismus sind der Post-Materialismus und der Neo-Nationalismus hinzugekommen. Ersterer brachte vor dem Hintergrund des ökonomischen Erfolgs ökologische Politik in die Behörden, Selbstentfaltung vor allem von Frauen in Gesellschaft und Politik, und wirkt sich heute mit
Nachhaltigkeitsgeboten bis tief in die Wirtschaft aus.

Der neue Nationalismus konstituierte sich als Reaktion auf die Oeffnung gegenüber der EU. Vor allem die von Volk und Ständen abgelehnten EWR-Verträge 1992 liess den Widerstand der Urschweiz erwachen, angefeuert durch populistische Politiker, die isolationistisch ausgerichtet, selbst gutschweizerische Institutionen verhöhnen, um ihren Unmut auszudrücken. Eine bisweilen herftig ausbrechende, neue Leidenschaft hat die Schweizer Oeffentlichkeit erfasst.

Zwar setzten sich die öffnungswilligen Behörden bei der UNO-Abstimmung 2002 und bei den Volksentscheidungen zu den Bilateralen zwischen 2000 und 2009 immer durch; doch müssen sie dies angesichts mehrheitlicher Vorlieben für restriktive Asylpolitik Mal für Mal hart erkämpfen. Denn die Schweiz ist nach einer progressiven Phase in den 90er Jahren zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder konservativer geworden.

Drittens, die Veränderungen des Regierungssystems.
Vom Musterbeispiel für Konkordanz hat sich die Schweiz einiges entfernt. Unverrückbar ist nur der Föderalismus, revitalisiert wurde die Politik via Volksrechte, problematisch geworden ist dagegen Kollegialsystem. Nach den turbulenten Bundesratswahlen 2003 und 2007 gilt, dass wir mit und ohne Volkswahlen Regierungen haben, die mehr Parteien und WählerInnen als nötig zählen; allerdings blieb die proportionale Vertretung der Parteien auf der Strecke.

Parallel dazu ist der Konsens klein, die Kompromisssuche gar zur Ausnahme geworden; vorherrschend geworden ist der Konfliktstil, selbst die Dominanz parlamentarischer Mehrheiten gehört zum heutigen Normalfall. Das alles hat einen Hauptgrund: die Verbände, die einst in der vorparlamentarischen Phase künftige Regierungspolitik vermittelten, haben an Macht eingebüsst, seit auch sie vermehrt der schweizerischen, europäischen und globalen Oeffentlichkeit Red und Antwort stehen müssen.

Das hat Platz für zwei aufstrebende Akteure Platz geschaffen: zunächst für die Verwaltung, die eine Art Politik ohne PolitikerInnen betreibt, welche die Schweiz pragmatisch europäisiert und die Exekutivpolitik beeinflusst, demokratisch aber schwach legitimiert ist; sodann für die Massenmedien, die den Marktgesetzen ausgesetzt staatskritisch geworden sind, politisch aber den Takt aus oppositioneller Warte vorgeben. Wo sie parlamentarische Politik mediengerecht inszenieren können, gehören sie selbst bei Volksabstimmung bisweilen zu den Gewinnern der direkten Demokratie.

Stärken und Schwächen sind sichtbar geworden.
Bei all dem ist die Schweiz in den letzten drei Dekaden nicht untergegangen. Ihre Leistungen in Wirtschaft sind unverändert Weltspitze! Dennoch, ausserordentlichen Herausforderungen auf globalem und europäischem Parkett ist das schweizerische Regierungssystem trotz neuen Staatssekretariaten nicht gewachsen. Und die mit neuen Medien ausgestattete Zivilgesellschaft mischt sich mittels Volksinitiativen immer munterer in die Regierungspolitik ein, ohne von dieser bisher angemessene Antworten zu erhalten.

Wahrlich, der vor 30 Jahren angekündigte Wertewandel hat mehr verändert, als es Politologen von damals prophezeiten.

Claude Longchamp

Auf Vertrauen kann kein funktionierendes Politsystem der Welt verzichten

Vertrauen ist eine zentrale Ressource, ohne die kein politisches System auf die Dauer Bestand hat. Das war meine zentrale Aussage in der gestrigen Gastvorlesung zur Politischen Soziologie an der Universität Bern. Hier die Zusammenfassung des Hauptgedankens.

Vetrauen kennen wir aus dem zwischenmenschlichen Bereich. Vertrauen in der Politikwissenschaft ist etwas anderes: Es geht um eine grundlegende Beziehung zu Institutionen, ohne die Arbeitsteilung nicht möglich wäre. Wennn Regierungen regieren müssen, setzt das Vertrauen voraus, vom Parlament, von den BürgerInnen, von der Oeffentlichkeit. Vertrauen bedeutet dabei nur in der einfachsten Form Uebereinstimmung. Sozialwissenschaftlich gängiger ist die Definition, es handle sich um Vertrauen in die Fähigkeit von Institutionen, Kontrolle über Ressourcen, Handlungen und Ereignisse im Sinne der Bevölkerung auszuüben.

Eine dieser Tage veröffentliche Uebersicht über das Institutionenvertrauen in den OECD-Ländern belegt, dass das Institutionenvertrauen in der Schweiz speziell ist: zunächst, was die Höhe des Regierungsvertrauens betrifft, dann was die aktuelle Entwicklung betrifft. Denn in keine OECD-Land kommt es so ausgeprägt vor wie in der Schweiz, und ganz anders, als in fast allen Vergleichsstaaten hat es sich seit Beginn der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise nach oben entwickelt.

Die Analyse legt drei Gründe nahe: zuerst die Wirtschaftslage und -entwicklung, der wichtigsten Determinante des Institutionenvertrauens, die vergleichsweise sehr gut ist, und in der allgemeinen Krisensituation hierzulande kaum Spuren hinterlassen hat; dann die politische Kultur, die gerade im internationalen Vergleich wenig auf Elitenbildung ausgerichtet ist, mit dezentralem Föderalismus, zahlreichen Volksabstimmungen. Schliesslich kommt das Regierungssystem hinzu, das mit dem Kollegialsystem die Suche nach Gemeinsamkeiten wie auch das gemeinsame Tragen der Verantwortung befördert und damit gerade präsidentiellen Systemen diametral entgegen gesetzt ist. Gerade in der heutigen Mediengesellschaft hat die schweizerische Form des Regierens Vorteile, den sie mindert die Personalisierung der Politik – und damit auch den schnelle Verbrauch von Glaubwürdigkeit exponierter PolitikerInnen.

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Das politische System der Schweiz lässt sich, in der politikwissenschaftlichen Analysen sowohl output- wie auch inputseitig sehen: In fast allen Rankings, welche Systemleistungen für Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch Umwelt messen, liegt die Schweiz weit oder ganz vorne. Umgekehrt hat die Mischung aus Kleinräumigkeit und starken Angeboten der BürgerInnen-Partizipation jene Voraussetzung geschaffen, dass reale und gefühlte Einflussnahme breit vorhanden sind.

Dennoch, tauscht man die Aussen- mit der Binnenperspektive, gibt es erhebliche Anzeichen der Entfremdung. Nicht zuletzt war die Volksinitiative für die Volkswahl des Bundesrates ein Zeichen hierfür. Denn ihre Annahme hätte einen Bruch mit dem Kollegialsystem bedeutet, denn die nationale Volkswahl wäre ohne vermehrten Medien- und Werbeeinsatz undenkbar gewesen, hätte die Unabhängigkeit von Regierung und Parlament erhöht und schliesslich die direkte Demokratie, die auf Sachentscheidung aus ist, konkurrenzieren können. Nun kennen wir alle das Ergebnis: Mehr als drei Viertel der Stimmenden waren dagegen, befürwortet wurde das Begehren von knapp 24 Prozent der Stimmenden. Mehr waren es bei den WählerInnen der SVP, beschränkt auch in den unteren Schichten und bei Männern. Die VOX-Analyse zeigte auf, dass die Entscheidungen in hohem Masse von Heuristiken abhängig war: Vom Regierungsmisstrauen zuerst, aber auch von Werten, die eine traditionelle Schweiz begründen. Die SRG-Trendbefragungen im Vorfeld legten zudem nahe, dass es keine kurzfristige Meinungsbildung gab, vielmehr dass das Resultat schon weit im Voraus feststand.

Mit den Worten der politischen Kulturforschung kann man das wie folgt zusammenfassen: Erstens, direkte Demokratie gibt, über die Wahldemokratie hinaus, Anlässe wie den specific support; besagte Beispiel belegt, wie Volksabstimmungen auch Systemunterstützung bedeuten können. Zweitens, politische Kultur im Sinne der mentalen Verfassung eines Landes definiert über Kampagnen, Akteursentscheidungen und das politische Klima hinaus den diffuse Support, auf den funktionierende politische System angewiesen sind. Dazu zählen meist Präferenzen für Politikangebote, gelegentlich auch das Institutionenvertrauen und die Demokratieunterstützung.

Das politische System der Schweiz hat die Erschütterungen gerade dieser basalen Voraussetzung der Politik im Nachgang zur EWR-Entscheidung, aber auch mit dem Versuch, das Regierungssystem via die Wahl Christoph Blochers in der Bundesrat zu ändern, überwunden. Das Erleben der Vorteile der Schweiz angesichts grundlegender Erschütterungen im Umfeld hat zu einer neuen Identität zwischen Behörden einerseits, Bevölkerung anderseits geführt, die noch nicht alle verstanden haben, von der aber alle profitieren.

Claude Longchamp

30 Jahre als Politikwissenschafter unterwegs

Politik- und Sozialforscher, Dozent an Universitäten und Fachhochschulen, Medienmensch vom Fernsehen über Radio zu Blogs bis Twitter und Lokalhistoriker – das sind die festen Bestandteile meines Berufslebens. Auf den Tag genau 30 Jahre übe ich diese Rollen in einer festen Anstellung resp. in selbständiger Tätigkeit aus. Eine kleine (Zwischen-)Bilanz.

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Es war der 1. Dezember 1983. Die Universität Bern stellte den 27jährigen Jung-Wissenschafter fest an. Fortan sollte ich als Assistent von Erich Gruner als Forscher am Forschungszentrum für schweizerische Politik amten. Uebertragen wurde mit die Leitung der VOX-Analysen eidg. Volksabstimmungen. Zudem wurde ich (vorübergehend) Mitarbeiter an der Jahreschronik “Année politique suisse”; etwas später kamen ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Forschungsprojekt zur “Politischen Kultur im Wandel”, von Wolf Linder geleitet, sowie verschiedenen Lehrveranstaltungen zur Wahl- und Abstimmungsforschung hinzu. 1991/2 hielt ich während dem Sabbatical meines Chefs die Einführungsveranstaltung in Politikwissenschaft an der Universität Bern. Nach einem mehrjährigen Unterbruch bin ich seit 2008 wieder als Dozent an den Lehrstühlen von Adrian Vatter und Silja Häusermann für Wahl- und Abstimmungsforschung, aber auch für Christoph Frei im Bereich der Lobbying-Analyse an den Universitäten St. Gallen, Bern und Zürich tätig. Zudem geben ich regelmässig Seminare am MAZ in Luzern, an der ZHaW in Winterthur, am VMI in Fribourg und am IDHEAP in Lausanne.

Bereits 1986 hatte ich begonnen, ein zweites Standbein zu entwickeln. Das GfS-Forschungsinstitut, damals noch unter der Leitung von Werner Ebersold, berief mich als Projektleiter, um die Monitoring-Projekte zur Oeffentlichen Meinung voran zu treiben. 1992 machte ich daraus die Berner Filiale des Instituts, und ab 1993 leitete ich gemeinsam mit Peter Spichiger das GfS-Forschungsinstitut. 2004 verselbständigten sich die beiden Standorte in Zürich un Bern; fortan war ich Institutsleiter von gfs.bern, seit vielen Jahren bilde ich gemeinsam mit Lukas Golder und Urs Bieri auch die Geschäftsleitung. 2004 wurde ich Verwaltungsrat des Betriebs; seit 2008 bin ich dessen Präsident und seit 2011 Alleinaktionär. Parallel dazu bin ich Mitglied des Verwaltungsrats des gfs-Befragungsdienstes, dem Dienstleistungsunternehmen, dass für die gfs-Gruppe die Umfragen realisiert.

Zahlreiche Projekte sind daraus entstanden, die heute in der schweizerischen Oeffentlichkeit ein Begriff sind: die VOX-Analysen (gemeinsam mit der Bundeskanzlei und drei Universitäten), das Sorgen- resp. Identitätsbarometer (mit der Credit Suisse), der Gesundheitsmonitor (mit der Interpharma), aber auch der Finanzmonitor (mit Economiesuisse). Nicht zuletzt sei an die SRG-Hochrechnungen (seit 1992), das Wahlbarometer (seit 1999) für die SRG-Generaldirektion) und die Trendanalysen zu den Volksabstimmungen (seit 1998 für die Chefredkatorenkonferenz der SRG-Medien) erinnert. Der bisher letzte Monitor in dieser Serie ist dem “Zusammenleben in der Schweiz” gewidmet, an dem ich seit 4 Jahren arbeite und der im Februar 2014 vorgestellt werden wird.

Mein drittes Standbein besteht aus der Medienarbeit für Medien. Bereits 1987 hatte ich einen kurzen Auftritt nach den Wahlen beim Schweizer Fernsehen; seit 1991 war ich lückenlos Analytiker aller eidg. Parlamentswahlen; seit der EWR-Abstimmung kam mir diese Aufgabe als Gesprächspartner von Filippo Leutenegger bis Urs Leuthard auch in allen Live-Sendungen von SRF zu den gesamtschweizerischen Volksabstimmung zu. Darüber hinaus war ich wohl für alle politischen Sendegefässe der vor allem in der deutschsprachigen, aber auch in der französisch- und italienischen Schweiz aktiv. Gleichsam ein Höhepunkt war die Lancierung der Sternstunde Geschichte, an der ich mit Roger de Weck und Thomas Maissen beteiligt war.

Ja, das ist denn auch das Stichwort für meinen vierten Tätigkeitsbereich, das Stadtwandern. Ursprünglich ein Form des täglichen Bewegungsprogramms, hat sich aus meinen Spaziergängen, dort, wo ich gerade bin, eine neue Leidenschaft entwickelt. Seit 2004 nehmen ich 10 bis 12 Mal pro Jahr eine Gruppe mit auch meine Wanderungen, um anhand von Plätzen, Strassen, Brücken und Häusern, die Lokalgeschichte Berns, aber auch anderer Städte wie Fribourg in der Nachbarschaft oder Dôle im Burgundischen wieder auferstehen zu lassen. Meine neuste Führung, “Konkordanz woher? woher?” getauft, wird den nächsten Politologenkongress in der Schweiz eröffnen.

stadtwanderer” und “zoon politicon” heissen meine beiden Blogs, die ich seit 2006 resp. 2008 betreibe. Ueber sie mische ich mich regelmässig ins Tagesgeschäft der Politik ein, versuche ich etwas anzustossen, vielleich auch mal etwas zu korrigieren, geht es mir darum, zu zeigen, was demoskopische und politikwissenschaftliche Forschung kann, aber auch wie einem die Historie zu nutzen kommt, wenn man sich im Getümmel der Gegenwart zurecht finden soll.

“30 Jahre als Politikwisssenschafter unterwegs” ist eine anspruchsvolle Arbeit, immer im Sinne der Demokratie, häufig als Teil der politischen Analyse und Kommunikation, meist in der Schweiz, immer häufiger aber auch im Ausland! Zahllose Vorträge sind so entstanden, fast ebenso viele Artikel und Beiträge in Büchern, die sich ausgehend von bis jetzt mehr als 500 Forschungsprojekten zum Verhalten und Denken der Menschen mit meinen Kernthemen der zeitgeschichtlichen, aber auch systemischen Politik- und Gesellschaftsanalyse beschäftigen. Spannende Presönlichkeiten haben mich dabei als MitarbeiterInnen begleitet, so Ingrid Deltendre, die schliesslich Fernsehdirektorin wurde, Andreas Rickenbacher, heute Regierungsrat im Kanton Bern oder Petra Huth, nun selbständige Unternehmensberaterin.

Das alles war und ist eingepackt in eine Rolle, die man in der Schweiz in Vielem zuerst entwickeln musste, die viele wohlwollende und kritische BegleiterInnen im und ausserhalb des GfS kennt, die in der Regel respektiert, selten auch despektiert wird, und die ich als Teil meines (Berufs)Lebens nicht missen möchte!

Claude Longchamp

Mit Combining zu besseren Prognosen

PollyVote in den USA! Pollyvote in Deutschland! Bald auch PollyVote in der Schweiz?

Das Beispiel war einleuchtend: Muss man sich in einer schwierigen Sache entscheiden, listet man Pro und Kontra auf, und fragt man sich, ob mehr dafür oder dagegen spricht. Schwieriger als das ist die Antwort auf die Frage, ob ein Argument alle anderen übertrumpfe.

Vor diesem Hintergrund kritisiert Andreas Graefe am Freitag in einem Gastvortrag im Rahmen meines Forschungsseminars an der Uni Bern das gängige Verfahren in der Prognosetechnik, wonach man relevante Determinanten aufgrund der bisherigen Erfahrung gewichtet, um eine gute Vorhersage machen zu können. Vielmehr empfahl der Referent, mehrere begründbare Prognosen konstant nebeneinander laufen zu lassen, und aus ihnen systematisch ungewichtete Mittelwerte zu bilden.

“Ist das Wissenschaft?”, habe ihn Prognose-Guru Michael Lewis-Beck nach seinen ersten Vortrag vor Spezialisten gefragt, und er habe die Antwort gleich vorweg genommen: zu simpel, um wahr zu sein! Doch der Nachwuchsforscher liess sich nicht ins Boxhorn jagen und rechnete nach: Neun Modelle kennt insbesondere die amerikanische Forschung zu Präsidentschaftswahlen. Wirtschaftsleistung und Popularität des Amtsinhabers kommen in allen vor; danach unterscheiden sich die Indikatoren aber, sodass man immer weider von neuem versuche, mittels raffinierter Gewichtung optimale Modellierung zu erhalten. Mitnichten, meinte der Münchner Gast, denn: Addiere man die 27 Indikatoren aller Modell ungewichtet auf einmal, erhalte man die beste Prognose.

Graefe zählt Umfragen, Wahlbörsen, Modellrechnungen, Indices zu Themen- und Personeneigenschaften sowie ExpertInnen-Einschätzungen zu den an sich validen Prognoseinstrumenten. Kein Tool sei perfekt, sodass man sich auf nur eines verlassen könne. Berücksichtige man aber alle gleichermassen, reduzieren man die Wahrscheinlichkeit, durch einen unvorhersehbaren Ausreisser ungewollte beeinflusst zu werden.

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PollyVote nennt Graefe das Verfahren. Sein Papagei verstehe nichts von Politik, plappere aber alles nach, was die anderen sagen, und kenne die Mittelwert-Berechnung. Das reiche!

2013 arbeitete der Oekonom, der an der Uni München forscht, so, um den Ausgang der Bundestagswahlen vorauszusagen. Dabei zeigten sich Stärken und Schwächen der Methode. Dass es die AfD nicht schaffe, war für Graefe klar. Wie alle anderen Instrumente auch, prognostizierte auch seines aber, die FDP schaffe die 5-Prozent-Hürde.

Der Grund ist einfach: Die Wahlbörsen waren teilweise durch die SympathisantInnen der AfD manipuliert; genau das fiel im Vergleich der Instrumente untereinander schnell auf. Anders bei FDP: Weil sich alle in die gleiche Richtung täuschten, entdeckte das Graefe-Verfahren die gemeinsame Schwäche nicht.

Dennoch zeigte sich der Referent aufgrund US-amerikanischen Erfahrungen überzeugt: Auf die Dauer werden Prognosen genauer, wenn man verschiedene bewähre Verfahren unvoreingenommen verbindet, und die Kombi-Methode ist die Beste, nicht weil sie fehlerfrei ist, sondern die Fehlerwahrscheinlichkeit systematisch minimiert.

Ich werde mir das zu Herzen nehmen, und es in der Schweiz ebenso versuchen!

Claude Longchamp

Nachgezählt: Wie man Ständeratspräsident wird

Auf keinen Fall sei man Nidwaldner. Denn noch nie schafft es jemand aus die-sem Stand an die Spitze der Kantonsvertretung im Bund. Am einfachsten ist man Waadtländer! 17 Politiker aus dem Lac-Léman-Kanton standen bisher dem Ständerat vor – eine einmalige Erfolgsgeschichte! Allerdings, mit nachlassendem Effekt, denn seit 1988 wurde kein Waadtländer mehr gewählt.

Dafür gab es in den letzten 20 Jahren drei Ständeratspräsidentinnen. Josy Meier, die Konservative aus Luzern, eröffnete 1992 den Reigen. Ihr folgen die Genfer Liberale Françoise Saudan und die St. Galler Freisinnige Erika Forster-Vanini.

Sofort wird auch ein Mann nicht Ständeratspräsident. Angepasst muss er sein, um den Rat nach Innen und Aussen vertreten zu dürfen. Die zweite Legislatur ist die früheste, um erfolgreich zu kandidieren, die dritte oder vierte sind die normalen.

54 Jahre zählen die Stöckli-PräsidentInnen bei ihrer Ehrung im Schnitt. Der Neuenburger Numa Droz war 1875 mit 31 Jahren die grosse Ausnahme. Auguste Pettaval, ebenso aus dem Neuenburgischen, war 1919 mit 74 der älteste, der es je schaffte.

Noch nie brauchten die StandesvertreterInnen mehr als einen Wahlgang, um ihren Präsidenten zu küren. Dabei ziemt es sich, sich selber nicht zu stimmen. So sind die 45 Stimmen des Zürcher Riccardo Jagmetti das absolute Maximum. Filippo Lombardi, der abtretende Vorsitzende, führte mit 39 Stimmen die Liste in umgekehrter Reihenfolge an.

Nicht übersehen sollte man eines: Der Ständeratspräsident muss zählen können – genau genommen zusammenzählen können. Denn auch diese Tradition ist jüngst etwas ins Wanken geraten. Demnächst soll Elektronik nachhelfen!

StänderatspräsidentInnen werden dann wieder etwas gewöhnlicher sein. So wie ihre KollegInnen aus der Volksvertretung. In der Hierarchie der PräsidentInnen werden sie hinter Bundes- und Nationalratspräsident wieder ganz offiziell die Nummer 3 sein. Dafür kann man sich auf dem hohen Stuhl im Ständeratssaal als Nachfolger des Vorsitzenden in der Tagsatzung fühlen, der Urinstitution der Eidgenossenschaft.

Gewisse Aussichten bestehen, nach der Wahl zum Ständeratspräsidenten poli-tisch aufzusteigen. 12 Ständeratspräsidenten wurden später Bundesrat. Alain Berset ist der letzte unter ihnen. Die Regierungsparteien haben ein Monopol bei der Präsidentenwahl. Am meisten Amtsträger hatte bis jetzt die FDP.Die Liberalen-Fraktion. Es folgt die CVP-Fraktion. Mit grossem Abstand kommt die SP-Fraktion als dritte, noch knapp vor der SVP.

Fünf Mal stellte die SVP bisher den Ständeratspräsidenten. Immer waren es Berner oder Bündner. Mit Hannes Germann ist es erstmals ein Schaffhauser.

In seiner Fraktion gilt der Auserkorene als Besonnener – bereits einmal wurde er als möglicher Bundesrat gehandelt. Der gelernte Lehrer garantiert für ein einwandfreies Einmaleins. Der frühere Journalist, weiss mit öffentlichen Erwar-tungen umzugehen. Der Mitfünfziger hat auch das richtige Alter und ist mit 11 Jahren im Ständerat erfahren genug, die Regeln der Kunst zu kennen, die im ersten Wahlgang zum Erfolg führen.

Wenn ich nirgends falsch gezählt habe!

Claude Longchamp

Wie der Medientenor zur Autobahnvignette kippte

Der Medientenor zur Vignette änderte sich im abgelaufenen Abstimmungskampf erheblich: Es nahm die Resonanz des Themas zu, und gleichzeitig kippte die Bewertung der Vorlage vom Positiven ins Negative.

Die Forschungsstelle für Oeffentlichkeit und Kommunikation legte gestern ihren 2. Bericht zum Abstimmungsmonitoring vor. Dieser zeigte, wie die Massenmedien über die drei Vorlagen berichteten, über die am 24. November 2013 entschieden wird. Das Fazit: Die 1:12 Initiativen interessierte am meisten, die Vignette am wenigsten; der Tenor war bei den beiden Initiativen negativ, bei der Vignette insgesamt ausgeglichen. Doch halt!

Die Befunde im Trend
Eine Spezialauswertung, die ich selber vorgenommen habe, legt nun durch den Vergleich der Verhältnisse in der ersten resp. zweiten Phase des Abstimmungskampfes die Entwicklungen offen – was mehr als der Durchschnitt aussagt.

Tabelle: Resonanz der Vorlagen zu den Volksabstimmungen vom 24. Nov. 2013 in den Massenmedien
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Die Resonanz der Themen nahm insgesamt leicht zu; 173 der berücksichtigten Artikel widmeten sich in der ersten Phase den Vorlage, in der zweiten waren es 198. Der Trend bei den Vorlagen verlief allerdings ungleich. In der ersten Phase dominierte die Berichterstattung über die 1:12 Initiative, derweil sich die Verhältnisse in der zweiten annäherten. Hauptgrund: Besonders über die Familieninitiative wurde mit der Dauer des Abstimmungskampfes deutlich mehr berichtet als zu Beginn; eingeschränkt gilt dies auch für die Autobahnvignette, während sich die Intensität der Berichterstattung bei der JUSO Vorlage leicht zurückentwickelte.

Tabelle: Tendenz der massenmedialen Berichterstattung zu den Volksabstimmungen vom 24. Nov. 2013
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Legende: Die Verhältniszahlen zeigen die Anteile positiver und negativer Artikel, inklusive der neutralen; der Indexwert entsteht aus dem Anteil positiver minus negativer Artikel.
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Namentlich bei der Vignette kehrte auch die Tendenz in der Bewertung, von einer anfänglich positiven hin zu einer negativen Beurteilung. Je länger es dauerte, umso mehr kam die Gegnerschaft mit ihren Sichtweisen zum Zug. Von eigentlichen Trends kann man bei den Volksinitiativen nicht sprechen; die Mediensichtweisen war insgesamt von Beginn weg kritisch, und dies änderte sich im Verlauf der Kampagnen nicht wirklich.

Die Würdigung
Was heisst das? Die massenmediale Politisierung der Vignette fand erst im Abstimmungskampf statt. Die Aufmerksamkeit stieg, und mit ihr entwickelte sich die Tendenz ins Negative. Für eine Behördenvorlage ist das nicht ganz, aber teilweise überraschend, denn die Behördenseite dominiert in der Regel den Auftakt eines entsprechenden Abstimmungskampfes. Meist gelingt es aber, diesen Schwung bis zum Ende mitzunehmen. Dies war bei der Vignette nicht der Fall, indem in der zweiten Phase die Nein-Seite deutlich mehr Gas gab. Man bekommt den Eindruck nicht los, dass mit der Krktik an den Aussagen von Doris Leuthard zu neuen Einnahmequellen bei einem Nein die Trendwende begann, gegen die die BefürworterInnen medial kein Gegenrezept fanden.

Bei den beiden Volksinitiativen erkennen wir zwei andere Verläufe: Die 1:12 Initiative kannte eine frühe Politisierung; die so schon vor dem Abstimmungskampf ausgelöste Resonanz blieb hoch, verringerte sich nur wenig, je näher der Abstimmungstag kam. Die massenmediale Beurteilung war dabei durchgängig tief. Letzteres gilt auch für die Familieninitiativen, derweil sich die Aufmerksamkeit erst mit dem Abstimmungskampf selber ergab.

Der Vergleich mit den Trendumfragen
Die Beobachtungen passen recht gut zu den Trends in den SRG-Umfragewerten. Denn die 1:12 Initiative startete mit einer minderheitlichen Unterstützung, die sich in der Folge noch zugunsten der Gegnerschaft verschob. Ein Nein zeichnete sich hier schon im Abstimmungskampf ab. Bei der Familieninitiative kam es auch zu einem Nein-Trend ein, doch begann die Vorlage mit einer mehrheitlichen Zustimmung. Es blieb zwar eine relative Zustimmungsmehrheit in der letzten Befragung, allerdings bei negativem Trend in der Meinungsbildung. Bei der Vignette schliesslich stimmten Medientenor und Bevölkerungsmeinung zu Beginn überein. Beides war leicht zugunsten der Preiserhöhung. Doch Medienmeinung kippte im Abstimmungskampf, und auch die Zustimmung in der Trend-Umfrage verringerte sich, ohne 2 Wochen vor der Abstimmung einen klaren Ausgang erkennen zu können.

Mehr dazu morgen!

Claude Longchamp

Demoskopie und Zeitgeschichte

HistorikerInnen ist das Buch ein Begriff. SozialwissenschafterInnen kaum. Zeit, den ältesten Bericht zur Schweiz auf demoskopischer Basis wieder mal zu besprechen.

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Die Schweiz im Krieg. Im komischen Krieg. Denn vom Schlachtengetöse merkt man lange nicht viel. Der Grenzschutz steht, doch langweilt er sich. Um mehr darüber zu erfahren, führt die Schweizer Armee eine neue Technik ein. Die Methode Gallup, von den USA herkommend, soll Auskunft geben über das Denken der BürgerInnen.

Mit dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Schweiz die Demoskopie eingeführt. Nun ging es um die zivile Nutzung. In der Marktforschung etwa. Oder in der Politforschung. “Die Schweiz hält durch” ist das bemerkenswerteste Produkt diese Umwandlung. Es ist der älteste Bericht über die Lage in der Schweiz, die auf Umfrageforschung basiert. Herausgegeben wurde das Buch von der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Die 180 Seiten Text, Tabellen und Grafiken, publiziert zum 100. Geburtstag des modernen Bundesstaates 1948 bauen auf der grossen Volksumfrage auf, zwei Jahre zuvor vom Verein gleichnamigen realisiert. Genau genommen waren es zwei Umfragen: eine allgemeine, in allen Haushalten der Schweiz, und eine wissenschaftliche, nach der Methode Gallup mit einer Stichprobe befragter Personen. 52’262 nahmen an der Haushaltsbefragung teil; das waren 1,75 Prozent der Gesamtbevölkerung oder 4,5 Prozent der Haushalte. In die Stichprobenerhebung flossen die Meinungen von 3000 Befragten ein, ausgewählt nach einem anspruchsvollen Quotenverfahren in den drei Sprachregionen.

Inhaltlich ging es um viererlei: Sollen die Frauen das Stimmrecht erhalten? Soll der staatliche Einfluss auf die Wirtschaft verstärkt oder abgebaut werden? Soll die Abhängigkeit der Kantone vom Bund verstärkt oder vermindert werden? Und, soll die Schweiz an der unbedingten Neutralität festhalten. Die Resultate lauteten: Beim Frauenstimmrecht gab es ein “Ja”; über dem Mittel war die Zustimmung in der deutschsprachigen Schweiz; am geringsten, aber immer noch mehrheitlich war sie in der französischsprachigen. Zustimmend waren beide Geschlechter. Allerdings unterschied man deutlich nach Lebensbereichen; unbestritten war die Mitsprache in Familien-, Schul-, Kirchen und sozialen Fragen. Bei Wirtschaftsfragen kippte die Mehrheit, – und in politischer Hinsicht waren 96 Prozent dagegen! Gespalten war man in Sachen Staatseinflusses auf die Wirtschaft: Am meisten Befragte waren für den Status Quo, eine relative Mehrheit befürwortete eine Vermehrung; 14 Prozent waren für eine Verminderung. Je tiefer das Einkommen war, desto eher war man für mehr Staat und umgekehrt. Unbestrittene Bundesaufgaben waren damals das Zivil- und Strafrecht, die Sozialpolitik und der Aussenhandel. Als kantonale Domänen erschienen insbesondere die Kirch- und Schulwesen, die Familie, die Wirtschaft und die Steuern. Schliesslich war die Neutralität sakrosankt. Der Beitritt zur UNO war zwar mehrheitsfähig, aber nur, wenn diese die Neutralität vorbehaltslos anerkennen sollte.

Der Demoskope in mir erkennt in einigem Vorgehensweisen Verfahren, die sich bis heute bewährt haben: Die Unterscheidung der Schweiz nach Sprachregionen, ebenso in Siedlungsräumen, aber auch die Differenzierung nach Einkommensklassen oder nach Geschlechtern. Wir sind halt eine fragmentierte Gesellschaft mit vielen Charakteren. Anderes hat sich in der heutigen Praxis weiterentwickelt. So die statistischen Auswertungen, die vormals so aufwendig waren, dass sie nur höchst spärlich vorgenommen wurden. Schon der Mittelwert über alle Sprachregionen hinaus bildete ein noch fast unerfüllbares Unterfangen. Das ist heute klar anders. Geändert hat sich die Fragenbogentechnik. Um Mehrheiten zu bekommen, würde man heute keine ungerade Zahl von inhaltlichen Kategorien zulassen. Vor allem aber, die Haushalts- wie auch die Stichprobenerhebung kannten nicht durchwegs die gleichen Fragen und Antwortmöglichkeiten, sodass ein Vergleich im strengen Sinnen gar nicht möglich war. Das würde man heute schon im voraus bemängeln.

Am meisten frappiert ist man beim Lesen des Buches, mit welcher eminenter Skepsis selbst die Herausgeber quantifizierenden Aussagen begegneten. Denn der erste Teil, immerhin zwei Drittel des Umfangs ausmachend, besteht aus einem breiten Exposé des Juristen und späteren Professors Werner Kägi, der das Verfassungsrecht der Schweiz rekapitulierte, und gelegentlich einige qualitative Antworten aus der Haushaltsbefragung einfliessen liess. Das Ganze fand kaum statt, um das Denken der Staatsrechtler von jenem des Volks zu unterscheiden, sondern um die ungeteilte Staatsidee der Schweiz zu illustrieren. Interessant auch, dass die statistische Auswertung des wissenschaftlich genannten Teils der Umfrage dem ETH-Ingenieur René Lalive d’Epiney überlassen wurde, mangels SozialwissenschafterInnen, denn die gab es damals in der Schweiz noch gar nicht!

Trotz allem, die Ergebnisse sind symptomatisch für die ersten Nachkriegsjahre: Die Männergesellschaft reservierte sich die Vorrechte in Staat und Wirtschaft gegenüber Frauen, nicht aber in gesellschaftlichen Belangen. Die Neutralität der Schweiz strahlte über allem, der Staat war anerkannt, namentlich wegen seinen ausgleichenden Wirkungen. In vielen Domänen war der Staat aber nicht der Bund, denn die Kantone gaben in wichtigen Bereichen den Orientierungsrahmen ab.

Umfrageforschung, bilanziere ich, ist nicht nur ein Instrument der Gegenwart, auch eines der Historie. Denn das Buch ist eine spannende Quelle der Schweizer Geschichte, die über politische Kulturen berichtet, wie wir sie heute bei der Gleichstellungsfrage, aber auch in der Staatspolitik nicht mehr kennen: Denn der Ausschluss der Frauen aus der Politik ist seit 1971 nie mehr ernsthaft gefordert worden, und die Vermehrung des Staatseinflusses auf die Wirtschaft ist heute ebenso wenig mehr im Trend. Der Sorgenbarometer, der in zwei Wochen erscheint, und in einigem das Nachfolgeprojekt ist, wird das breit belegen.

Und noch etwas: Als die Umfrage 1946 durchgeführt wurde, war noch nicht klar, ob man in der Schweiz integral zur direkten Demokratie zurückkehren würde oder nicht. Erst die Volksabstimmung 1947 schaffte hierzu Klarheit, sodass wir heute wieder regelmässig über vieles abstimmen. Heute geht der Titel des Buches eindeutig nicht mehr: “Die Schweiz hält durch” war noch ganz im Geiste der Landesverteidigung gewählt. Heute würde das Buch eher heissen: Die Schweiz zählt durch!

Claude Longchamp

Mein Einsatzplan am kommenden Abstimmungssonntag

Was am kommenden Abstimmungssonntag via SRF kommuniziert wird!

Wie immer an Abstimmungssonntagen bin ich mit meinem Team vom gfs.bern am Abstimmungssonntag im Volleinsatz. Wir rechnen alle drei eidg. Vorlagen hoch, analysieren die eintreffenden Ergebnisse aus kantonen und Gemeinde, etrapolitiren sie auf die nationale Ebene und schätzen frühzeitig ab, was wie stark angenommen resp. abgeleht wird. Zudem unterziehen wir die Resultate eine Erstanalyse zum Konfliktmuster und bringen die Ergebnisse mit der Meinungsbildung in der Bevölkerung, den Massenmedien und den neuen soziale Medien in Verbindung.

Anbei der Fahrplan für den kommenden Sonntag (vorbehältlich kurzfristiger Aenderungen)

Trendrechnungen Volksabstimmungen

12:30 Trend zu 1:12, zu weiteren Vorlagen falls möglich, via TV
12:37 Trend zu 1:12, zu weiteren Vorlagen falls möglich, via Radio
13:00 Trends zu allen drei Vorlagen, via TV
13:05 Trends zu allen drei Vorlagen, via Radio
13:16 Erste Würdigung der Trends zu allen drei Vorlagen, via TV

Hochrechnungen Volkabstimmungen

13:30 1. Hochrechnungen zu allen drei Vorlagen, Präsentation TV
13:35 Kurzanalysen zu allen Hochrechnungen, via TV
13:45 Kurzanalysen zu allen Hochrechnungen, via Radio
14:00 2. Hochrechnung zu allen drei Vorlagen, Präsentation TV
14:03 Kurzanalyse zu allen Hochrechnungen, via TV

Erstanalysen
16:10 Erstanalyse Familieninitiative, via TV
16:39 Erstanalysen 1:12 und Vignette, via TV

Analyse der Meinungsbildung
13:56 Analyse Social Media im Abstimmungskampf, via TV
15:04 Hochrechnung Stimmbeteiligung und Massenmedien, via TV
17:25 Analyse Social Media am Abstimmungstag, via TV

Bilanz und Ausblick
18:41 Schlussanalyse Abstimmungs-Sonntag und Ausblick auf kommendes Abstimmungswochenende, via TV

Erläuterungen

Trendrechnung: qualitative Aussagen über erwartete Annahme/Ablehnung, wenn Trendergebniss klarer als 45/55 resp. 55/45
Hochrechung: quantitative Aussagen über erwartete Werte der Zustimmung/Ablehung beim Volks- und Ständemehr (wenn nötig), max. Fehlermarge +/-3Prozentpuinkte, dann jede halbe Stunde mit verbesserter Fehlermarge (nur wenn sich Mehrheiten ändern)
Erstanalyse: Analyse des Kantonsprofil von Zustimmung und Ablehnung aufgrund von weiteren Kontextmerkmalen

Claude Longchamp