Rekordbeteiligung für nationale Volksabstimmungen im Kanton Genf?

Im Kanton Genf zeichnet sich bei der kommenden eidg. Volksabstimmung eine weit überdurchschnittliche Stimmbeteiligung ab. Es könnte die höchste seit 2010 sein.

Wenn es um die Veröffentichung der Teilnahmequoten geht, ist der Kanton Genf speziell. Der Kanton interpretiert das Stimmgeheimnis so, dass es nur für den Ja/Nein-Anteile, nicht aber für die Beteiligung gilt. Deshalb publiziert er seit 2010 jeden Tag den Stand der Teilnahme bei nationalen und kantonalen Wahlen via Internet. 4 Tage vor der Wahl hatten seither minimal 23, maximal 40 Prozent der Stimmberechtigten ihre Stimmen bereits abgegeben gehabt. Der Tiefstwert resultierte vor genau einem Jahr, bei der speziellen Volksabstimmung über das Tierseuchengesetz; final nahmen im Kanton Genf 28 Prozent teil. Der Höchstwert wiederum ergab sich bei der Entscheidung über die Ausschaffungsinitiative; am Abstimmungssonntag kletterte der Beteiligungswert auf 52 Prozent.

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Vier Tage vor dem nächsten Stichtag haben 42 Prozent der Genfer KantonsbürgerInnen zu den Volksabstimmungen vom 24. November 2013 abgestimmt. Projiziert man das auf den kommenden Sonntag, spricht einiges für eine kantonale Teilnahmequote von rund 55 Prozent.

Nun liegen die regelmässig publizierten Werte für die kommende Abstimmung seit dieser Woche konstant über dem bisherigen Höchstwert, was eine klar überdurchschnittliche Beteiligung kantonal. Wenn das vor Wochenfrist noch anders war, hat das seinen spezifischen Grund. Vor 10 Tagen waren kantonale Regierungsratswahlen, sodass man mit dem Auszahlen der nationalen Stimmzettel erst danach begann.

Vieles spricht dafür, dass auch die nationale Beteiligung klar über dem Mittel von 44 Prozent sein wird. So ergab die letzten SRG-Befragung vor Wochenfrist einen geschätzten Teilnahmewert von 51 Prozent. Und auch das Genfer Barometer legt nahe, dass sich mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten gesamtschweizerisch beteiligen. Denn der kantonale Wert liegt meist 2-4 Prozent über dem nationalen.

Zwar kennt man die spezifischen Gründe hierfür noch nicht. Die Struktur der Ursachen von Beteiligungen über dem Mittel sind aber gut bekannt. Zunächst beteiligen sich, gesamtschweizerisch, rund 25-30 Prozent an jeder eidg. Volksabstimmung. Werte darüber sprechen für eine vorlagenspezifische Mobilisierung. Die macht es denn auch aus, dass sich an diesem Wochenende 50 Prozent beteiligen werden. Dabei schaukeln sich verschiedenartige Vorlagen gegenseitig Stimmende zu, wenn sie je eine spezifische Publikum ansprechen. Diesmal geht die Polarisierung (und damit die Mobilisierung) von der 1:12 Initiative aus, während Familien-Initiative einerseits, Vignette anderseits spezifische Publika interessieren.

Claude Longchamp

Abstimmungskampagnen. Ein Buch, das man lesen und beherzigen sollte.

Zahlreiche Fachleute arbeiten, meist ausgehend von den Schweizer Erfahrungen, an der Weiterentwicklung der Demokratie, um sie von der Wahl von Personen zur Entscheidung in Sachfragen bringen. Jetzt haben 32 von ihnen gemeinsam das Buch “Abstimmungskampagnen” verfasst, um ihr professionelles Wissen zur Themenkommunikation zwischen Macht, Medien und Massen zu vermitteln.

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Zugegeben, zuerst überwiegen gewisse Zweifel: 490 Seiten dick ist das Buch aus dem Springer Verlag, was Ueberwindung beim Einlesen braucht. 32 AutorInnen hat es, die 31 Artikel beigetragen haben, eingerahmt von einer kurzen Einleitung und einem anregenden Schlussgespräch, der HerausgeberInnen Heike Scholten und Klaus Kamps mit Kurt Imhof führten. Genau damit entstehen die Hoffnungen, die einen interessiert machen, das Buch nicht nur zu kaufen, es auch lesen und zubeherzigen. Denn es begeistert zweifelsohne durch Kompetenz: Aus schweizerische Sicht sind Forscher wie Michael Hermann und Mark Eisenegger dabei, BeraterInnen wie Katja Gentinetta und Petra Huth haben sich eingebracht, ebenso wie die Journalisten Antonio Antoniazzi und Georges Wüthrich, und schliesslich verraten so verschiedenartige Praktiker wie Bruno Kaufmann, Pietro Cavadini, Guido Schommer, René Buholzer, Urs Rellstab, Hermann Strittmatter und Adrian Schmid etwas von ihrem Wissen und Können. Umgarnt werden sie durch ausländische Stimmen, wie die von Christoph Bieber, Susanne Pickel und Claes de Vreese, allesamt ProfessorInnen für politische Kommunikation(kulturen) aus vergleichender Perspektive.

Die Themenpalette des Buches ist fast allumfassend: Es geht um System und Kultur der direkten Demokratie, um die Rationalitäten und Konstellationen der Akteure im Abstimmungskämpfen, um Politikvermittlung und Kampagnenführung, schliesslich auch um Anschauungsbeispiele zu “Referenden”. Da zucken die Lesenden in der Schweiz möglicherweise ein wenig zusammen. Denn hierzulande wagte es kaum jemand, die ausgebaute direkten Demokratie unter dem Stichwort “Referendum” zu subsummieren. Bis eben die beiden HerausgeberInnen mit deutschen Hintergrund und Schweizer Erfahrungen kamen, die ihrem Wälzer den Untertitel “Politikvermittlung in der Referendumsdemokratie” gaben.

Grundlegend in diesem Sammelband ist mit Sicherheit ihr systemtheoretisch ausgerichtete Beitrag zur “Politischen Kommunikation in Wahl- und Abstimmungsdemokratien”. Unterschieden werden drei relevante soziale Strukturen in Form von Orientierungshorizonten der Kommunikation und drei Handlungsausprägungen, die das Handeln von Akteuren in Form von Beobachten, Beeinflussen, Verhandeln, leiten. Wem das zu abstrakt ist, dem wird gleich geholfen: Konstellationen ergeben sich aus dem längerfristig geltenden Möglichkeiten einer Gesellschaft resp. ihrer Teile, öffentlich kommunizieren zu können; Deutungen entstehen aus den Inhalten eben dieser Kommunikation, und Erwartungen verweisen auf die Ziele der Kommunikation in einem bestimmten Abstimmungskampagnen. Dieses Beobachtungsschema wird der Realität von Kampagnen jedoch es erst dann gerecht, wenn man es dynamisiert. Denn wie Kommunikation insgesamt, wird auch die politische Kommunikation vor allem durch Prozesse bestimmt – erst recht in der Form von Abstimmungskampagnen.

Die Ausbildung von Volksrechten forciert die Kommunikation über Politikinhalte, sie aktivieren Oeffentlichkeit zu Sachfragen, und sie schärfen Akteursprofile über Themenpositionen, liesst man in “Abstimmungskampagnen”. Das sind angesichts der wachsenden Personalisierung und Banalisierung von PolitikerInnen, Parteien und Parlamenten in der reinen Wahldemokratie Vorteile der Direktdemokratie. In der Prozesslogik zu Ende gedacht, ist das diesbezügliche Campaigning so etwas permanentes strategisches Kommunikationsmanagement. Drei Tätigkeiten haben sich im Rahmen der Professionalisierung politischer Kommunikation herausgebildet: die systematische Untersuchung des Abstimmungsgegenstandes, die Strategiebildung mit der Zieldefinition und die Realisierung mittels Campaigning. Gegliedert wird der Arbeitsprozess solcher Akteure in die frühzeitige Identifikation von Themen, der politische Positionsbildung von Akteuren, was innerhalb einer Organisation geschieht, dann durch das Lobbying und die Kommunikation nach aussen, die in externe Kampagnen münden. Entscheidend ist dabei, dass die inhaltliche Führungsarbeit mehr und mehr durch die kommunikative verdrängt wird, letzteres aber strikte auf ersterem aufbauen muss, um überzeugend zu bleiben.

Was aber passiert, wenn die Entscheidung der Stimmenden und die Ziel der Akteure immer wieder mal auseinander driften? Direktdemokratische Mitsprache geht in der Tat mit dem Kontrollverlust für die Eliten einher, der sich jedoch lohnt, weil Vertrauen der Eliten mit Vertrauen Bevölkerung gedankt werden. So zählt das Vertrauen der Schweizer Bevölkerung in Regierung und Parlament zu den höchsten in Europa. Mehr noch: Direktdemokratische Entscheidungen erhöhen die Weisheit des politischen Systems. Denn die Weisheit der Stimmenden befähige diese nicht für einen Platz in der Steuerkabine der Staatsleitung, sehr wohl aber als kritische Konfliktinstanz im Rahmen der direkten Demokratie.

Das Schwächste am Sammelband ist mit Sicherheit seine Entstehungsgeschichte. Einige Artikel sind 2009 verfasst worden, von der berücksichtigten Literatur, aber auch vom Erfahrungshintergrund sind sie nicht mehr ganz aktuell. Die einen oder anderen Kapitel hat man deshalb (?) in verwandter Form auch schon anderswo lesen können. Doch das tut dem Buch insgesamt keinen Abbruch, denn aus dem langen Reifungsprozess heraus ist so etwas wie ein grossartiges Kompendium für Abstimmungskampagnen entstanden. Das Buch hat denn auch das Potenzial, schnell zum Standardwerk über Abstimmungskampagnen zu werden. Wer es liesst, erfährt dreierlei über Volksrechte und politische Systeme der Gegenwart:

Erstens, dass direkte Demokratie ihre eigene Logik hat, auf einer eigenen Funktionsweise basiert und ihre eigenen Resultate produziert, an denen staatliche Stellen, politische Parteien, zahlreiche Interessengruppen und neuerdings Unternehmungen, aber auch BürgerInnen-Initiativen mitwirken, um den Volkswillen in Form von Volksentscheidungen entstehen zu lassen.
Zweitens, dass Abstimmungskampagnen keine spontanen Aktionen (mehr) sind, sondern professionalisierte Unternehmungen, die so geplant, vorbereitet, geführt und umgesetzt werden wollen.
Und drittens, dass die ursprünglich schweizerische Eigenart, politischen Entscheidungen zu treffen, weltweit rasch an Bedeutung gewinnt, sodass sich zwischenzeitlich zahlreiche WissenschafterInnen, Forschende und PraktikerInnen im In- und Ausland um die Vermittlung der schnell wachsenden Kompetenzen in Theorie und Praxis redlich bemühen.

Eben, kaum eine oder einer der pluralistisch zusammengesetzten AutorInnen, die hier politische Kommunikation im Rahmen von Volksentscheidungen analysiert und vermessen haben, arbeiten an der Abschaffung der Demokratie, wie KritikerInnen gerne monieren. Vielmehr tragen sie, von sachlich bis optimistisch eingestellt, an ihrer Fähigkeit, über Personenwahlen hinaus Sachentscheidungen zu fällen, erstmals gemeinsam bei.

Claude Longchamp

Die Buchvernissage ist heute abend um 1830 im Zürcher Cabaret Voltaire!

Vermessenes Unbehagen (und seine Analyse) in und mit der Schweiz

Probleme mit administrativen Kontrollen, mit Entfremdungen in der eigenen Heimat, mit Zersiedelung der Landschaften und mit Eliten in Unternehmungen bieten auch heute Alass für Unbehagen im Kleinstaat Schweiz, wie Karl Schmid die Stimmungslage in seinem Buch vor genau 50 Jahren nannte. Diese Aussage bildete meinen Ausgangspunkt des Referates zu “Vermessenem Unbehagen (und seine Analyse) mit der Schweiz”, das ich gestern vor dem Verein für Zivilgesellschaft hielt.

Symptome und Szenarien
Wie schon der Titel ankündigte, wollte ich bei gut belegbaren Beispielen nicht stehen bleiben – etwa mit angenommenen Initiativen zur Abzockerei, zum Zweitwohnungsbau oder zur Ausschaffung kriminell gewordener AusländerInnen auf Bundesebene, zahlreichen Beschränkungen des Rauchens in den Kantonen. Vielmehr stand für mich das punktuelle, teilweise breit gewordene Unbehagen für einen grösseren Wandel der gesellschaftlichen Perspektiven der letzten Jahre: Die Ego-Gesellschaft, seit den 90ern des 20. Jahrhunderts dominant, ist mit der Finanzmarktkrise arg in Bedrängnis geraten: Der Individualismus hat seine Grenze erreicht, das Nützlichkeitsdenken im Sinne maximierter Eigenvorteile erzeugt immer häufiger politischen Widerspruch, und Aktionären, die ihr Management über Gebühr gewähren lassen, werden zum Einschreiten gezwungen. Ein erster Gegentrend hierzu wird in der Suche nach neuen und wichtiger werdenden Balancen sichtbar: zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Erwerbs- und Familienarbeit, aber auch zwischen Oekonomie und Oekologie oder zwischen Freiheit und Verantwortung. Beiden Entwicklungspfaden unserer Gesellschaft ist eigen, dass sie Wirtschaftswachtstum voraussetzen; im ersten Fall, dem liberalen, braucht es dafür keinen starken Staat, im zweiten, dem sozialen, dagegen schon. Doch es gibt auch auch Befürchtungen, dass wir unseres hervorragenden wirtschaftlichen Fundamentes verlustig gehen könnten, Verteil- und Kulturkämpfe auf uns zukommen, und es zum grossen clash im liberalen Staat kommen könnte. Schliesslich fürchtet man bisweilen auch, dass der Staat überhand nehmen könnte, um angesichts wirtschaftlicher Not die verarmten menschen, unfähig zur Selbstkontrolle, vor sich selber schützen zu müssen.

Hervorragender Outpt, Probleme mit dem Input, Troughput im falschen institutionellen Umfeld

Trotz optimistischen und pessimistischen Szenarien, die angesichts des aktuellen Unbehagen den Diskurs in der Schweiz zu prägen begonnen haben: von einem generellen Wirtschafts- und Staatsversagen mag ich nicht sprechen. Die Sorgenbarometer-Untersuchungen bestätigen mich regelmässig in dieser Einschätzung. Zwar halten respektable Minderheiten nichts mehr von der Oekonomie und der Politik in diesem Land; die Mehrheit teilt solch düstere Diagnosen jedoch nicht. Wachstumskritik und Dichtestress angesichts des Bevölkerungswachstums nehmen zwar zu, ohne dass ein genereller Kippunkt bei der Personenfreizügigkeit sichtbar geworden wäre. Solche Belege lassen sich in zeitgenössischen Studien zur Lage der Nation zuhauf finden. Genauso verhält es sich mit dem Regierungsvertrauen: Es wird zyklisch erschüttert, doch bleibt es insgesamt mehrheitlich, im internationalen Vergleich ausserordentlich hoch, wie nicht zuletzt die arge Niederlage der Volksinitiative für eine Volkswahl des Bundesrates klar machte.
Diese Befunde stimmen mit grundlegenden Einschätzungen der Politikwissenschaft überein. Empirische Etudien zu den output-Leistungen des Systems Schweiz zeigen gerade im internationalen Vergleich, dass wir keinen gescheiterten Staat haben, vielmehr prägen hervorragende Leistungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt seinen Output. Unsere Hochschulen sind top, ebenso unsere Innovationsfähigkeit und die Attraktivität unseres Landes im Standortwettbewerb. Auch unsere Demokratieleistungen lassen sich sehen: Wenn es um die Realisierung von Freiheit, aber auch von Kontrolle des Staates geht, bekommen wir regelmässig Höchstnoten. Das ist einzig bei der Umsetzung von Gleichheit nicht immer der Fall: bei der Vertretung aller Bevölkerungsgruppen in den Behörden, bei der Partizipation der jungen Generation an Wahlen und Abstimmungen und bei der Transparenz des Politikbetriebes happert es bisweilen. Insgesamt kritischer sind die Befunde der Politikwissenschaft inputseitig: Steigende Zahlen lancierter, aber auch angenommener Volksinitiativen sind ein Zeichen vernachlässigter Probleme. Fragmentierung des Parteiensystems mit erschwerter Mehrheitsbildung schwächen die gezielte politische Schwerpunktsetzung. Und die Krise von diverser Interessengruppen belegt, dass die politische Steuerung, wie sie im Verbandssstaat Schweiz angedacht worden ist, von rückläufiger Bedeutung ist. Stark geändert hat sich auch der throughput: Wichtige Entscheidungen auf der Basis des Konsenses oder mittels breitem Kompromiss sind selten geworden. Es dominiert die Allianzbildung unter den Akteuren, die auf Mehrheitsentscheidungen von rechts oder links angelegt sind, selbst wenn am Ende das Referendum droht. Das alles geht einher mit einer Krise des Neokorporatismus, die zwei neue Formen der politischen Steuerung sichtbar werden lässt: die Technokratie der alternativlosen Postpolitiken einerseits, der Populismus anderseits, angeführt von immer staatskritischeren Medien. Ersteres ist demokratisch schwach legitimiert, aber leistungsfähig, insbesondere dank einer professionalisierten Verwaltung; zweiteres kann sich bisweilen auf Volksabstimmungen stützen, wenn auch damit nur ein Teil der politischen Problemlagen erhellt wird.

Vor- und Nachteil des Systems in Schräglage

Adrian Vatter, exponenten der jüngeren Generation Berner Politikwissenschafter, spricht in seinem Buch zum politischen System der Schweiz, das dieser Tage erscheint, von einem “System in Schräglage”, denn sein institutionelles Fundament ist unverändert auf Konsensfindung, Föderalismus und direkte Demokratie angelegt; das Eliteverhalten jedoch passt nicht mehr zu diesen Voraussetzungen: vom Vorbild der Konkordanzdemokratie bewegt sich die Schweiz deshalb hin zum Normalfall dieses Demokratiemusters – mit seinen unbestrittenen Leistungen, aber auch mit neuen Problemen.
Um es klar zu machen, Pluralisierung der Diagnosen, Allianzbildungen von Fall zu Fall, nicht vorgefertige Entscheidungen haben den innenpolitischen Diskurs zweifellos belebt. Sie machen innenpolitische Entscheidungen nicht einfacher, aber flexibler in der Antwort auf Herausforderungen. Das hat in der Bankenfrage und bei der Energiewende Dynamik gebracht, die man durchaus als Vorteil sehen kann. Von Nachteil ist es aber, wenn es um die aussenpolitische Handlungsfähigkeit geht. Diese hat arg gelitten, und sie ist zurecht die Quelle des eigentlichen Unbehagens von heute. Die Eliten der Schweiz in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft, die sich alle auseinander entwickelt haben, sind gefordert, neue übergreifende Netzwerke zu entwickeln, welche daran arbeiten, rechtzeitig nationale Interessen im internationalen Umfeld zu identifizieren, verbunden mit Lösungen, die breit getragen werden und damit von der Politik als legitime Handelungsanweisungen übernommen werden können.

Claude Longchamp

Im gegenwärtigen Abstimmungskampf legen die Gegner aller Vorlagen zu

Harte Zeiten für InitiantInnen und Behörden. Denn im laufenden Abstimmungskampf legen die Gegner aller drei Vorlage teils kräftig zu.

Bei Volksinitiativen überrascht der negative Trend nicht wirklich. Es ist eine bekannte Regel, dass sie gut starten und schlechter enden. Stets nimmt der Nein-Anteil in Umfragen zu und der Ja-Anteil meist insbesondere bei jenen ab, die eher dafür waren. Hauptgrund ist der Szenenwechsel: Am Anfang eines Meinungsbildungsprozesses beurteilt man vor allem das mit der Initiative angesprochene Problem, am Schluss die mit dem Begehren vorgeschlagene Lösung.
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Bei der 1:12 Initiative heisst das: Zuerst dominierte die Problematik der aufgegangenen Lohnschere, quantitativ, aber auch ethisch. Entsprechend führten die InitiantInnen einen Diskurs zur Lohngerechtigkeit. Je länger die Kampagne dauert, umso mehr spricht man über die Schwächen der Initiative: die Regelung der Löhne durch den Staat und die Folgen für Steuern und Sozialversicherung. Die Befragung zeigt, dass sich die Meinungsbildung genau in diesem Dreieck von ersterem zu letzteren verlagerte und so auch die Stimmabsichten von rechts bis über die Mitte hinaus veränderte.
Bei der Familieninitiative kann das allgemeine Gesetz wie folgt ausgedeutscht werden: Begünstigungen bestimmter Familienmodell durch den Staat sind den Stimmberechtigten ein Dorn im Auge. Mit genau diesem Anker ist die Initiative gestartet, und sie hatte breite Sympathien. Seither holt die Gegnerschaft auf: Mit den Steuerausfällen für Bund und Kantone, aber auch mit der Nebenwirkung der Initiative auf die gewollte Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das begründet den Meinungswandel namentlich bei (links)liberalen Wählerschichten vom anfänglichen Ja ins heutige Nein.
Bei der Autobahnvignette überraschen die Befragungsergebnisse jedoch. Denn der Normalfall bei einer Behördenvorlage besteht darin, dass sich die Unschlüssigen (in einem offenen Verhältnis) auf beide Seiten verteilen. Wäre das geschehen, hätte der Ja-Anteil mindestens leicht ansteigen müssen und die Vignetten-Vorlage wäre wohl angenommen worden. Angesichts der jetzigen Umfragewerte muss genau das offen bleiben. Denn auch hier nahm die Ablehnungsbereitschaft zu, und es verringerte sich die Zustimmungstendenz.
Erster Grund dafür sind Elite/Basis-Konflikte. Für die Zunahme der Opposition ist der Trend in der FDP relevant: Als Partei befürwortet sie die Vorlage; ihre Wählerschaft konnte sie aber mehrheitlich nicht überzeugen. Zweitens: Von der Nein-Botschaften mitgenommen werden auch die parteipolitsche Ungebundenen. Hier vergrösserte sich nicht nur der Nein-Anteil überdurchschnittlich, es nimmt auch die Teilnahmebereitschaft gerade dieser Bevölkerungsgruppe zu. Drittens, die Betroffenheit als AutofahrerInnen wirkt sich in der Meinungsbildung zugunsten der Opponenten aus. Je mehr Autos man hat, desto eher ist man dagegen.
Damit ist die SVP, welche das Referendum lancierte, nicht mehr allein; vielmehr tragen weite Teile der rechtsbürgerlich gesinnten StimmbürgerInnen und AutofahrerInnen die generelle Kritik an Gebühren und Abgaben. Etabliert hat sich so ein Diskurs, der von jenem im Parlament und der federführenden Bundesrätin abweicht. Die Behördenposition prägte somit auch den Medientenor und thematisierte primär die Sicherheit auf den Strassen. Dieser Diskurs rechtfertigte die einmalige Erhöhung des Vignettenpreises nach fast 20 Jahren Stillstand.
Claude Longchamp

Deutsche mit ihrer Demokratie unter-, Schweizer mit ihrer überfordert

Ein Ländervergleich zeigt: Direktdemokratie formt aktivere und anspruchsvollere BürgerInnen als die übliche Wahldemokratie.

Susanne Pickel ist eine ausgesprochene Spezialistin für Fragen der Politische Kultur. In einem Sammelband zu “Abstimmungskampagnen“, dieser Tage im Springer-Verlag erschienen, hat die Politologin der Universität Duisburg-Essen einen bemerkenswerten Vergleich der Politkulturen von Wahl- und Abstimmungsdemokratie vorgelegt, ausgearbeitet an den Unterschieden der generellen Einstellungen zu Staat und sich selber in Deutschland und der Schweiz.

Ihre Hauptergebnisse: Deutsche stehen ihren Regierenden “wesentlich skeptischer” gegenüber als SchweizerInnen. Letzter sind dafür “interessierter und aktiver” ins politische Geschehen integriert. Im Gesamtüberblick über Befragungsdaten erfüllen die SchweizerInnen die Erwartungen an “partizipierende Demokraten”, wie sie die Gründerväter der politischen Kulturforschung formuliert hatten, nahezu mustergültig, resümierte Pickel. Demgegenüber tendierten die Deutsche dazu, “kritische DemokratInnen” zu sein. Erstere zeichneten sich durch eine hohe Legitimation des Systems, grösser Zufriedenheit mit den Leistungen und vermehrtem Input als BürgerIn aus. Zweitere sind vorwiegend an den Systemleistungen interessiert, sehen Mitsprache als Teil der akzeptierten Demokratie, aber ohne die Möglichkeiten, sich einzubringen.

Immerhin, das sind nur die globalen Resultate des Ländervergleichs. Je eine Gruppe weicht in beiden Ländern interessanterweise ab: In Deutschland hätte knapp ein Drittel der BürgerInnen gerne mehr eigenen Teilhabe in politischen Fragen; sie befürworten direktdemokratische Mitsprachemöglichkeiten recht generell, analysiert die Politologin. In der Schweiz finden 43 Prozent, es wäre gut, würden die Regierenden mehr Verantwortung tragen. Die deutschen “AbweichlerInnen” sind über dem Mittel jung, gut gebildet und haben hohe Einkommen, kurz entsprechen dem Bild der PostmaterialistInnen. Die Gegengruppe in der Schweiz ist zwar auch jung, doch stammt sie eher aus den unteren Bildungs- und Einkommenschichten. Mit ihrem Rucksack aus der Schule mögen sie im anspruchsvollen Politsystem der Schweiz nicht mithalten; auch finden sie ihre materiellen Interessen zu wenig repräsentiert. Entsprechend haben sie überdurchschnittliches Vertrauen in Gruppen wie Gewerkschaften, die stellvertretend für sie ihre Interessen verteidigten. Sie neigen aber auch zu polisichen Parteien, die ihre Forderungen mit klaren und einfachen Botschaften unter die Leute brächten.

Oder einfach gesagt: Teile der Deutschen fühlen sich mit ihrer Demokratie unter-, Teile der SchweizerInnen überfordert. Demokratie als solche ist in beiden Ländern unbestritten. Die für die politische Kulturforschung aber massgebliche Uebereinstimmung von Institutionen und Denkweise der Massen ist in Deutschland wie auch in der Schweiz nicht umfassend gegeben. Beides spricht für einen Entwicklungsbedarf der Institutionen. In Deutschland ist mehr Partizipation angesagt, in der Schewiz effektivere Repräsentation im politischen Prozess.

Ganz neu sind die Einsichten von Susanne Pickel nicht. Vor wenigen Jahren habe ich an einem entsprechenden Ländervergleich, der auch Oesterreich miteinschloss, gearbeitet; die Partizipationsdefizite namentlich den jungen Altersgruppen war auch da ein grosses Thema. Die Studie von Pickel leitet die Befunde aber theoretisch stringent her, und sie sind empirisch gut abgestützt. Zudem zeigen sie, das die sehr unterschiedlich ausgestalteten demokratischen Institutionen von der politischen Kultur her durchaus Vergleichsaspekte haben, die zu Annäherungen auf der Systemebene führen könnten.

Claude Longchamp

Themenpuls: Was die Neuen Sozialen Medien bewegt

Das ist die News des Tages: Die 27 grössten Online-Newsplattformen der Schweiz werden laufend hinsichtlich ihrer Wirkungen auf Neue Soziale Medien analysiert. Ein Test, was man zum laufenden Abstimmungskampf erfahren kann.

Den Ueberblick zu behalten, was auf Facebook, Twitter und Google Plus geht, ist schier unmöglich. Seit heute hilft einem die Plattform Themenpuls Likes, Shares, Twitterlinks und Leserkommentare fortwährend zu erfassen, die sich auf Artikel der 27 grössten Online-Newsplattformen beziehen.

“Die von Farner & Kuble gemeinsam entwickelte Online-Plattform zeigt auf einen Blick, welche Geschichten die Schweiz bewegen – allgemein, nach Ressorts, nach Themen und nach Sprachregionen”, schreibt die Werbewoche in ihrer heutigen Ausgabe. Und: “Redaktionen und Medienproduzenten können zum ersten Mal direkt vergleichen, was ihre Geschichten & Inhalte im Vergleich zu den Mitbewerbern auslösen. Unternehmen, Marken oder Organisationen können dank der Plattform verstehen lernen, wie man Inhalte erarbeitet, die von Lesern als so relevant erachtet werden, dass sie diese kommentieren oder verbreiten.”

Das ist ein grosses Wort, das ich mit einer Probe aufs Exempel überprüft habe. Den Top-Artikel der letzten Tage hat mich nicht besonders interessiert, denn es ist der Bericht von Blick-Online zur Absage Kollers als Nati-Trainer. Das typische also, was der Boulevard will und was der auch durchsetzt. Mehr als der Fussball beschäftigt hat mich die Politik.

Hierfür nützlich ist die Suchfunktion “detailliert filtern”. Denn die erlaubt es beispielsweise, alles zu den kommenden Volksabstimmung heraus zu destillieren. Gewählt habe ich aus Neugier die Vignetten-Erhöhung. Herausgekommen ist die Hitparade mit den 10 meist diskutierten Artikel. Beiträge aus 20min, Blick, LeMatin, der Berner- und der BaslerZeitung werden gelistet. Allen voran: “Vignette für Lastwagen? Nicht wirklich.” Behandelt wird darin, wie sich Bundesrätin Doris Leuthard in der “Arena” mit einer Aussage täuschte, wie der Blick dies auf der Online-Plattform aufmachte, und wie die Neuen Sozialen Medien dies geboostet haben. Ich hätte aber auch mit der 1:12 Initiative beginnen können. Dann wäre ich bei den umstrittenen Aussagen eines Wirtschaftsprofessors gelandet, der sich für die Initiative ausgesprochen und die Wegzugsdrohung von Firmen in den Wind geschlagen hatte, denn so gute Verhältnisse wie in der Schweiz finde man so schnell nirgends. Bei der Familieninitiative wäre ich schliesslich nicht bei der SVP, sondern der CVP gelandet. Denn ihre Initiative, die via Ehedefinition die Heirat von Schwulen und Lesben ausschliessen könnte, war der Renner.

Irgendwie ahnt man schnell, was die Schweiz gemäss neuen Neuen Sozialen Medien in der Politik bewegt: Personalisierte Politik, Aussagen jenseits der Erwartbaren, Normenverletzung, die für Internet-affine Zielgruppen von Belang sind resp. mit ihren Folgen für den Alltag skandalisierungsträchtig sind. Das Interessante dabei: Egal, ob ich mich auf Facebook oder Twitter oder google+ stütze, es kommt im Grund genommen immer das gleiche Ranking heraus. Nur die Zahlenniveaus variieren. Denn Kommentare auf dem Plattformen und auf Facebook machen das grosse Geschäft aus. Trends, die sich auf Twitter oder google+ ergeben, beeinflussen das Gesamtergebnis nicht. Sie sind aber für sich genommen eine Zusatzinformation.

“Es gibt viele wertvolle Bewertungsmöglichkeiten zu Relevanz und Qualität von Medieninhalten. Themenpuls.ch will diese ergänzen, der immer wichtiger werdenden Frage nachgehen, welche Inhalte und Produkte von den Lesern als so relevant erachtet werden, dass sie kommentiert und geteilt werden. Der Vergleich mit Ergebnissen aus der Meinungsforschung soll uns Rückschlüsse erlauben, inwieweit geteilte Meinung zur öffentlichen Meinung wird”, sagt Farner CEO Roman Geiser in der Werbewoche ganz pragmatisch.

Meine Einschätzung: Themenpuls hat das Potenzial, Uebersichten über die immer fragmentiertere Oeffentlichkeit zu schaffen. Denn die neuen sozialen Medien schaffen sich einen eigenen Raum, zwischen den Massenmedien und der face-to-face-Diskussion. Dort, wo die von Belang wird, eröffnet einem die neue Plattform die neue Welt: beispielsweise in der Medizin, wo man Meinungen unter PatientInnen tauscht, und diese längst wichtiger sind ist für die Meinungsbildung als die grossen Medien; aber auch für die Politik eröffnen sich neue Perspektiven, denn man weiss, dass immer dann, wenn Unübliches geschieht, die persönliche Kommentierung der medialen Informationen zur eigenen Versicherung von Belang ist. Situationen ausserhalb des courant normal lassen sich mit Themenpuls einfacher, rascher und zuverlässiger erschliessen.

Claude Longchamp

Dreimal Nein am 24. November 2013?

Immer häufiger werden Prognosen zu Wahlen gemacht. Die Neuerungen der Forschung werden vermehrt auch bei Schweizer Abstimmungen angewandt. Oliver Strijbis geht dabei am weitesten. Statistisch ist sein Vorgehen interessant, analytisch ist es zu einfach. Ungenauigkeiten sind vorprogrammiert.

Die Prognosen von 50plus1
In der Schweiz ist Oliver Strijbis nur in ausgewählten Fachkreisen bekannt. Hauptamtlich arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Hamburg; nebenamtlich ist der Co-Geschäftsführer der Principe Consulting GmbH mit Sitz im zürcherischen Maur. Ueber diese Gesellschaft betreibt er die Website www.politikprognosen.ch und seit jüngstem auch den Blog “50plus1“. Kerngeschäft: Prognosen zur Schweizer Politik.

Regelmässig stützt ich der Hamburger Politologe auch auf die Umfragen unserer Instituts. Diese erstellen wir seit 1998 für die SRG Medien. Seit 2008 haben wir sie systematisch ausgewertet, und stellen dies im Anhang zu jeder Welle aufdatiert für alle Interessierten zur Verfügung. Genau darauf stützt sich der deutsche Forscher, wenn er Abstimmungen prognostiziert.

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Plots von Strijbis, die der Formel für die Prognose zugrunde liegen: Bei Initiativen sind die Punkte recht nahe bei der Regressionsgraden, bei Behördenvorlagen nicht. Das beeinflusst die Prognosemöglichkeiten.

Das verwendete Vorgehen ist einfach: Verglichen werden Umfragewerte aus der ersten Welle mit dem Endergebnis. Daraus abgeleitet wird die Formel, wie beide Grössen statistisch zusammenhängen; hat man die, und die Ergebnisse der ersten Erhebung zu einer neuen Volksabstimmung, kann man Vorhersagen machen. Im September 2013 kam er so auf 32 Prozent Zustimmung für die GSoA-Initiative, auf 53 Prozent Ja für das Epidemiengesetz und auf 47 Prozent Befürwortung für die Tankstellenvorlage.

Ganz falsch lag der Forscher damit nicht! Denn die Mehrheiten stimmten in zwei der drei Fälle. Genau war die Prognosen allerdings nicht! Die mittlere Abweichung lag bei 7 Prozentpunkten. Das ist im Bereich der intuitiven Schätzung, sprich: das kann man auch ohne Statistik. Interessant jedoch ist die Systematik der Abweichungen: Bei der Initiative war er zu hoch, bei den Behördenvorlagen zu tief. Bei den Tankstellenshops gab es nicht nur die falschen Mehrheit, sondern mit 9 Prozentpunkten auch die grösste Abweichung.

Nun hat Strijbis dieser Tage seine Prognose für die kommenden Volksabstimmungen veröffentlicht: Demnach gibt es am 24. November 2013 drei Nein. Die 1:12 Initiative käme auf 37 Prozent Zustimmung, die SVP-Initiative auf 49 Prozent, und bei der Vignette würde es eine 45:55 geben. Ist damit jetzt schon alles klar? – Ich zweifle … vor allem an den Prozentwerten.

Meine Verbesserungen
Ich kenne die eingesetzte Methode gut genug, um sie beurteilen zu können. Denn ich arbeite auch damit, um zu Vorstellungen zu gelangen, was bis zum Abstimmungstag zu erwarten ist. Allerdings mache ich das nicht öffentlich, denn es ist mir zu wenig ausgereift. Und diese wohl ich mit einem elaborierteren Modell arbeite, denn seit ich das Verfahren verwende habe ich Verschiedenes hinzu gelernt:

Erstens, Volksinitiativen und Behördenvorlagen unterscheiden sich hinsichtlich der Dynamik der Meinungsbildung. Die Faustregel ist, dass sich der Behördenstandpunkt mit dem Abstimmungskampf vermehrt durchsetzt; entsprechend geht die Zustimmung zu allen von Regierung und Parlament unterstützten Initiativen in den letzten Wochen zurück, während sie bei Behördenvorlagen steigt.

Zweitens, diese Regularität ist aber nur bei Volksinitiativen gut genug, um sie zu formalisieren. Bei Behördenvorlagen gilt sie zwar mehrheitlich, doch sind die abweichenden Fälle erheblich. Der Durchschnitt sagt eigentlich nichts.

Drittens, man kann bei Volksinitiativen aufgrund des Gesagten in den allermeisten Fällen auf Varianten der Meinungsbildung verzichten; bei Behördenvorlagen lohnt es sich aber, sie stets mitzudenken. Entscheidende Grösse ist, ob die Allianz aus der parlamentarischen Entscheidung hält oder, ob sie im Abstimmungskampf bröckelt.

Viertens, Konflikten in den Eliten einer Parteien zeigen sich anhand abweichender Mehrheiten zwischen Fraktion und Delegiertenversammlungen resp. an abweichenden Empfehlungen zwischen nationaler und kantonalen Parteiteilen. Entscheidend ist hier, wie stark resp. wie verbreitet solches vorkommt. Elite/Basis-Konflikte zeichnen sich dadurch aus, dass es, bei Differenzen zwischen den Position einer Partei und ihrer Wählerschaft, während des Abstimmungskampfes zu keiner Annäherung der Standpunkt im Sinne der Anpassung der Basis an die Elite kommt.

Strijbis berücksichtigt meinen ersten Punkt, die drei anderen negiert er. Entsprechend halte ich seine Prognosen aus der ersten Welle unserer Befragungsreihen für zu riskiert. Das weiss auch der Kollege aus Hamburg, und so fügt er, aufgrund der zweiten Welle eine weitere Prognose hinzu. Die war im September 2013 besser, denn es gab keinen Mehrheitenfehler mehr; doch blieb die mittlere Abweichung mit 5 Prozentpunkten höher als der normale Stichprobenfehler von Umfragen.

Kritik
Meine Position lautet: Bei Volksinitiativen kann man versuchen, so wie Strijbis Prognosen zu machen. Bei Behördenvorlagen rate ich dagegen eindeutig ab. Denn erst mit dem Abstimmungskampf kann man entscheiden, ob es zu Konflikten innerhalb einer oder mehrerer (Regierungs)Parteien kommt oder sich die verschiedenen Ausgangsstandpunkte annähern.

Ich stimmt mit den Vorhersagen überein, dass die Zustimmung zu Initiativen mit dem Abstimmungskampf sinkt. Bei 1:12 bedeutet das, die Ablehnung ist wahrscheinlich; bei der SVP-Initiativen würde ich es offen lassen. Bei der Vignetten-Vorlage halte ich die frühe Prognose von Strijbis für ein Artefakt, das eine zu skeptische Aussicht vermittelt.

Oder anders gesagt: Vor der punktgenauen Verwendung präzis anmutender Prognosen sei gewarnt.

Claude Longchamp

Medientenor und Meinungsbildung: Was man daraus für den 24. November 2013 ableiten kann

Wie berichten die Schweizer Massenmedien über die anstehenden Volksentscheidungen vom 24. November 2013? Der Abstimmungsmonitor der Forschungsstelle für Oeffentlichkeit und Gesellschaft der Uni Zürich gibt Auskunft darüber.

Die Gewichtung der Vorlagen durch die Massenmedien ist gemäss Abstimmungsmonitor klar. Die 1:12 Initiative ist der klare Favorit. Die Resonanz zur Vignette resp. der Familieninitiative liegt bei rund einem Drittel. Mit anderen Worten: 58 Prozent der Beiträge zu den Abstimmungen widmen sich der JUSO Initiative, 23 Prozent der Gebühr für die Benutzung der Nationalstrassen und 19 Prozent der SVP-Initiative zur finanziellen Entlastung von Eltern, die ihre Kinder selber betreuen.

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Der Tenor ist einzig bei der Vignette mehrheitlich positiv. Der Index erreicht den Wert +26, was so viel heisst wie, es gibt 26 Prozent mehr positive als negative Artikel. Bei den beiden Volksinitiativen überwiegt der gegnersiche Standpunkt. Bei der 1:12 Initiative liegt der Indexwert bei -29, bei der Familieninitiative erreicht er einen solchen von -45.

Damit bestätigt sich, was man insgesamt gut kennt: In ihrer Berichterstattung zu Volksabstimmung zeigen Massenmedien eine Affinität zum Behördenstandpunkt. Das hat damit zu tun, dass diese Positionen einen parlamentarische Legitimation haben. Es kann aber auch sein, dass die Kampagnen, welche diese Standpunkte vertreten, intensiver und eingängiger geführt werden. Das muss im weiteren Vorfeld einer Abstimmung so nicht sei; denn gerade während der Zeit der Unterschriftensammlung haben die Akteure auf der Strasse in der Regel die bessere Presse.

Genaue Zusammenhänge zwischen Medientenor und Meinungsbildung kennt man nicht. In der Regel nimmt man aber an, dass sich eine ausgeprägte Richtung auf die Meinungsbildung namentlich Unentschiedener auswirkt, allenfalls auch jener, die latent eine gerichtete Meinung haben. Das würde dafür sprechen, dass sich die Unschlüssigen bei der Vignette mehr ins Ja als ins Nein entwickeln würde, was für die BefürworterInnen eine gute Botschaft wäre. Bei den beiden Volksinitiativen würde es dafür sprechen, dass die Opposition wächst.

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Das stimmt mit den Grundhypothesen überein, die wir im Dispositionsansatz für Volksinitiativen und Behördenvorlagen formuliert haben. Allerdings, lasse wir es nicht bei diesen einfachen Annahmen bestehen. Denn auch der Bestand parlamentarischer Allianzen im Abstimmungskampf ist eine Determinante der Meinungsbildung. Zerfällt diese bei einer Behördenvorlage, gibt es auch Beispiele die zeigen, dass selbst anfängliche BefürworterInnen ins Nein-Lager wechseln können. Bei der Vignette gibt es dafür nur wenig Hinweise. Bei den Initiativen wissen wir zudem, dass eine klare Ausrichtung des Abstimmungskampf in Medien und Propaganda ebenfalls zu einem Meinungsumschwung unter initialen Ja-SagerInnen führen kann. Der Effekt ist diesmal wahrscheinlich, denn der Medientenor wendet sich in beiden Fällen gegen die Volksbegehren. Bei der Familien-Initiative ist er noch ausgeprägter als bei der 1:12-Initiative, was grössere Effekte in der Meinungsbildung zum SVP-Begehren vermuten lässt.

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Mehr dazu mit der zweiten Welle zur SRG-Trendbefragung!

Claude Longchamp

Wenn Reichtum und Ansehen gesättigt sind, wird Idealismus und Individualismus wichtiger

Der Jugendbarometer 2013 macht deutlich, wie der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Lage der Jugendlichen, ihrem Problembewusstsein und den Zielvorstellungen ausgebildet ist. Die Schweiz erscheint dabei als Insel des Glücks, deren Situation sich von der aller Vergleichsländer abhebt.

Zahlreiche Ziele, die man als Jugendlicher im Leben verwirklichen möchte, sind nicht nur in der Schweiz, sondern im internationalen Vergleich untersucht worden. Hierzu sind Jugendliche auch in den USA, Brasilien und Singapur nach dem gleichen Muster befragt worden.

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Symptomatisch ist, dass idealistische Ziele in der Schweiz besonders hoch gewichtet werden: Zu den verbreitetsten Zielen gehört es, seine Träume verwirklichen zu wollen. 85 Prozent der 16-25jährigen nannten das als Herausforderung für das eigene Leben. Insbesondere in Singapur und in den USA liegen die Vergleichszahlen deutlich tiefer. Das gilt auch für individualistische Ziele: 56 Prozent der jungen Menschen in der Schweiz wollen nicht nach sturem Plan durchs Leben gehen müssen. Auch das kommt in den USA, aber auch in Singapur nur minderheitlich vor. Auffällig ist schliesslich, dass Jugendliche in der Schweiz, anders als in den USA, ein Gleichgewicht zwischen Beruf und Freizeit finden wollen. Balance ist in der Schweiz viel wichtiger als irgendwo in der Welt.

Einiges davon kann man mit der wirtschaftlichen Lage der Jugendlichen in den vier Ländern erklären. Klar vorteilhaft ist diese im Vergleich in der Schweiz. So ist die Jugendarbeitslosigkeit in den drei Vergleichsländern deutlich höher. In den USA, aber auch in Singapur ist sie, auch im Bewusstsein der Jugendlichen, einiges präsenter. Brasilien ist hier insofern eine Ausnahme, als die Korruption das Problembild der Jugendlichen klar überlagert. Die reale und mentale Verbreitung von Jugendarbeitslosigkeit bestimmt denn auch die Zuversicht in die eigene Zukunft. Diese ist in der Schweiz und Brasilien hoch, in den USA und Singapur tiefer.

Das sich so ausbildende Wertemuster hat weitere Konsequenzen: Materialistisch ausgerichtete Ziele sind in der Schweiz vergleichsweise wenig ausgebildet. So wollen nur 27 Prozent der befragten Schweizer Jugendlichen mehr Wohlstand als ihre Eltern erreichen; in den drei Vergleichsländern sind es noch klare Mehrheiten. Der Befund gilt auch für Prestige: In den Kreis der VIPs aufzusteigen, ist in allen Ländern nur das Ziel einer Minderheit. Allerdings, diese ist in Brasilien, Singapur und den USA etwa vier Mal stärker als in der Schweiz. Karriere machen zu können, wird denn auch von den Schweizer Jugendlichen gemischt beurteilt; für 51 Prozent ist das ein Ziel, anders als in den Vergleichsstaaten, wo zwei Drittel bis drei Viertel das als Herausforderung des Lebens sehen.

Oder anders gesagt: Reichtum und Ansehen sind in der Schweiz keine vorrangigen Ziele der Jugendlichen; nicht weil sie ganz out wären, vielmehr weil sie in hohem Masse bereits gegeben sind. Das Leben hat deshalb nicht einfach keine Herausforderung mehr, denn diese werden im Idealismus und Individualismus gesucht. Darauf hat sich die Schweizer Gesellschaft mehr einzustellen als andere!

Claude Longchamp

Mehr zum Jugendbarometer 2013 findet sich hier.

Familieninitiative der SVP: Die Parteien haben sich festgelegt – was kann man daraus schliessen?

Ein Plus für die SVP-Initiative war der heutige Tag nicht; ein Minus aber auch nicht unbedingt. Meine Kurzanalyse der Parteipositionierungen zur Familieninitiative.

Heute war Parolentag. Die SVP, SP und CVP legten sich mit Blick auf die kommenden Volksabstimmungen fest. Besondere Aufmerksamkeit fanden die Empfehlungen zur Famiileninitiative – und da diejenige der CVP. Nach ausgiebigen Erwägungen entschied sich die Partei für eine Nein-Parole. Damit sind ausser SVP (und EVP) alle nahmhaften Parteien auf der gegnerischen Seite.
Was kann man daraus ableiten? Ich denke, es gibt ein qualitatives und ein quantitatives Argument.

. Dafür: SVP, EVP
. Dagegen: SP, FDP, CVP, GPS, GLP, BDP

Das qualitative zuerst: Mit 114:87 entschied sich die Delegiertenversammlung recht knapp für ein Nein. Sie stellte sich aber gegen die ebenso knappe Mehrheit der CVP-VolksvertreterInnen in der Schlussabstimmung im Nationalrat. Für die CVP ist das gut so, auch wenn sie die Parteispitze desavouierte. Denn als Partei verfolgt sie so weiter den Weg, den sie selber mit zwei eigenen Initiativen eingeschlagen hat und der bis zur Volksabstimmung über den Familienartikel im Sommer 2013 auch weitgehend unbestritten war: Familien sollen finanziell entlastet, Familien- und Berufsleben erleichtert werden. Hätte die Delegiertenversammlung heute ein Ja beschlossen, wäre das ein Schritt zum konservativen Familienbild gewesen und wohl auch kommentiert worden. Mit Sicherheit hätte das der SVP-Initiative nochmals mediale Aufmerksamkeit gegeben. Dieser Zusatzeffekt dürfte nun ausbleiben. Ein Plus hat die SVP-Initiative damit heute nicht erhalten.

Uebersicht über die Entwicklung der Stimmabsichten bei rechten Initiativen, die nur von der SVP unterstützt werden (seit 2008)
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Tabelle anclicken, um sie zu vergrössern (Quelle: gfs.bern)

Die quantitative Ueberlegung danach: Beschränkt man sich auf die Initiativen, die alleine von der SVP (und kleinen Rechtsparteien) unterstützt werden, gilt: Der Rückgang in der Zustimmung ist variabel, selbst wenn die Parolen immer die gleichen sind.
Die Erfahrung lehrt uns dabei, dass die SVP an sich weniger Erfolg hat, wenn sie sich auf institutionelle Themen festlegt: Maximal in der Ausgangslage kann sie sich auf gewisse Anfangssympathien stützten, die im Abstimmungskampf aber rasch verschwinden. Anders verhält es sich bei gewissen Themen zur AusländerInnen-Frage, namentlich dann, wenn sie keine negativen Implikationen auf die Wirtschaft haben. Denn dann ist das Sympathiepotenzial in der Bevölkerung mehrheitlich, und es lässt sich auch nur schwer verringern.

Was nun gilt bei der Familien-Initiative? Sie ist eine potenziell mehrheitsfähige Initiative. In der Ausgangslage ist das Begehren mit 64 Prozent, die bestimmt oder eher zustimmen wollen, mindestens so populär wir Ausländer-Initiativen ohne einschneidende ökonomische Folgen. Doch hat die Annahme des Begehrens gibt es finanzielle Auswirkungen. Das hat die Oeffentlichkeit jenseits von Debatten über Familienbilder zwischenzeitlich gemerkt – und da liegt die Schwäche der Initiative. Deshalb bekommt sie die Qualifizierung “potenziell” mehrheitsfähig.
Die Positionierungen der politischen Parteien stufe ich dabei als wenig entscheidend ein, denn die Effekte der Parolen sind nicht mechanisch. Vielmehr ergeben sie sich nach Themen aus Kommunikationswirkungen, die ihrerseits auf Prädispostionen und Informationen basieren. Das gilt auch diesmal: Massgeblich ist, was die Parteien mit ihren Kampagnen aus ihren Parolen machen. Ein Nein allein nützt nicht viel; Aktivitäten hierzu sind wirksamer.

Oder anders gesagt: Ein Minus für die SVP-Initiative ist der heutige Tage nicht; aber es kann eines daraus werden!

Claude Longchamp