Auf Vertrauen kann kein funktionierendes Politsystem der Welt verzichten

Vertrauen ist eine zentrale Ressource, ohne die kein politisches System auf die Dauer Bestand hat. Das war meine zentrale Aussage in der gestrigen Gastvorlesung zur Politischen Soziologie an der Universität Bern. Hier die Zusammenfassung des Hauptgedankens.

Vetrauen kennen wir aus dem zwischenmenschlichen Bereich. Vertrauen in der Politikwissenschaft ist etwas anderes: Es geht um eine grundlegende Beziehung zu Institutionen, ohne die Arbeitsteilung nicht möglich wäre. Wennn Regierungen regieren müssen, setzt das Vertrauen voraus, vom Parlament, von den BürgerInnen, von der Oeffentlichkeit. Vertrauen bedeutet dabei nur in der einfachsten Form Uebereinstimmung. Sozialwissenschaftlich gängiger ist die Definition, es handle sich um Vertrauen in die Fähigkeit von Institutionen, Kontrolle über Ressourcen, Handlungen und Ereignisse im Sinne der Bevölkerung auszuüben.

Eine dieser Tage veröffentliche Uebersicht über das Institutionenvertrauen in den OECD-Ländern belegt, dass das Institutionenvertrauen in der Schweiz speziell ist: zunächst, was die Höhe des Regierungsvertrauens betrifft, dann was die aktuelle Entwicklung betrifft. Denn in keine OECD-Land kommt es so ausgeprägt vor wie in der Schweiz, und ganz anders, als in fast allen Vergleichsstaaten hat es sich seit Beginn der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise nach oben entwickelt.

Die Analyse legt drei Gründe nahe: zuerst die Wirtschaftslage und -entwicklung, der wichtigsten Determinante des Institutionenvertrauens, die vergleichsweise sehr gut ist, und in der allgemeinen Krisensituation hierzulande kaum Spuren hinterlassen hat; dann die politische Kultur, die gerade im internationalen Vergleich wenig auf Elitenbildung ausgerichtet ist, mit dezentralem Föderalismus, zahlreichen Volksabstimmungen. Schliesslich kommt das Regierungssystem hinzu, das mit dem Kollegialsystem die Suche nach Gemeinsamkeiten wie auch das gemeinsame Tragen der Verantwortung befördert und damit gerade präsidentiellen Systemen diametral entgegen gesetzt ist. Gerade in der heutigen Mediengesellschaft hat die schweizerische Form des Regierens Vorteile, den sie mindert die Personalisierung der Politik – und damit auch den schnelle Verbrauch von Glaubwürdigkeit exponierter PolitikerInnen.

regivert
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Das politische System der Schweiz lässt sich, in der politikwissenschaftlichen Analysen sowohl output- wie auch inputseitig sehen: In fast allen Rankings, welche Systemleistungen für Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch Umwelt messen, liegt die Schweiz weit oder ganz vorne. Umgekehrt hat die Mischung aus Kleinräumigkeit und starken Angeboten der BürgerInnen-Partizipation jene Voraussetzung geschaffen, dass reale und gefühlte Einflussnahme breit vorhanden sind.

Dennoch, tauscht man die Aussen- mit der Binnenperspektive, gibt es erhebliche Anzeichen der Entfremdung. Nicht zuletzt war die Volksinitiative für die Volkswahl des Bundesrates ein Zeichen hierfür. Denn ihre Annahme hätte einen Bruch mit dem Kollegialsystem bedeutet, denn die nationale Volkswahl wäre ohne vermehrten Medien- und Werbeeinsatz undenkbar gewesen, hätte die Unabhängigkeit von Regierung und Parlament erhöht und schliesslich die direkte Demokratie, die auf Sachentscheidung aus ist, konkurrenzieren können. Nun kennen wir alle das Ergebnis: Mehr als drei Viertel der Stimmenden waren dagegen, befürwortet wurde das Begehren von knapp 24 Prozent der Stimmenden. Mehr waren es bei den WählerInnen der SVP, beschränkt auch in den unteren Schichten und bei Männern. Die VOX-Analyse zeigte auf, dass die Entscheidungen in hohem Masse von Heuristiken abhängig war: Vom Regierungsmisstrauen zuerst, aber auch von Werten, die eine traditionelle Schweiz begründen. Die SRG-Trendbefragungen im Vorfeld legten zudem nahe, dass es keine kurzfristige Meinungsbildung gab, vielmehr dass das Resultat schon weit im Voraus feststand.

Mit den Worten der politischen Kulturforschung kann man das wie folgt zusammenfassen: Erstens, direkte Demokratie gibt, über die Wahldemokratie hinaus, Anlässe wie den specific support; besagte Beispiel belegt, wie Volksabstimmungen auch Systemunterstützung bedeuten können. Zweitens, politische Kultur im Sinne der mentalen Verfassung eines Landes definiert über Kampagnen, Akteursentscheidungen und das politische Klima hinaus den diffuse Support, auf den funktionierende politische System angewiesen sind. Dazu zählen meist Präferenzen für Politikangebote, gelegentlich auch das Institutionenvertrauen und die Demokratieunterstützung.

Das politische System der Schweiz hat die Erschütterungen gerade dieser basalen Voraussetzung der Politik im Nachgang zur EWR-Entscheidung, aber auch mit dem Versuch, das Regierungssystem via die Wahl Christoph Blochers in der Bundesrat zu ändern, überwunden. Das Erleben der Vorteile der Schweiz angesichts grundlegender Erschütterungen im Umfeld hat zu einer neuen Identität zwischen Behörden einerseits, Bevölkerung anderseits geführt, die noch nicht alle verstanden haben, von der aber alle profitieren.

Claude Longchamp