Als sei das Rennen zur Familieninitiative schon gelaufen …

Schafft die Gegnerschaft die Wende bei der Familieninitiative? – Diese Frage wurde mir nach der Publikation der ersten SRG-Trendbefragung am vergangenen Freitag regelmässig gestellt. BefürworterInnen neigen zu Zuspruch; GegnerInnen zu Widerspruch. Hier meine Antwort, aufgrund meiner Erfahrung mit Initiativen.

Da mache sich niemand etwas vor: Die Familien-Initiative der SVP startet exemplarisch gut: 64 Prozent sind bestimmt oder eher dafür, 25 Prozent bestimmt oder eher dagegen. So die erste SRG-Trenbefragung.
Das soll man jedoch nicht mit dem Endergebnis verwechseln; denn die Erfahrung lehrt, dass der Nein-Anteil mit dem Abstimmungskampf immer steigt, und selbst der Ja-Prozentsatz meist sinkt. Hauptgrund: Die Debatte verlagert sich von der Behandlung des Problems Richtung Schwäche des Lösungsvorschlags. Dabei kann man sehr wohl der Meinung sein, das Problem bestehe, so wie die Initiative es beseitigen wolle, funktioniere das nicht. So kann man als anfängliche(r) BefürworterIn eine Initiativen am Ende durchaus auch ablehnen.

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Quelle: gfs.bern/SRG Trendbefragungen, Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Nun sind 64 Prozent im Startwert bei der Familieninitiative viel. Das spricht dafür, dass es sich bei Steuererleichterung für Familien um ein von der Politik vernachlässigtes Problem handelt. Unabhängig vom Inhalt geniessen Vorlagen einen klarer Startvorteil, allein aus der Tatsache, dass sie die Schwierigkeiten aufgreifen.
Zum Vergleich: Die Minder-Initiative hatte beispielsweise eine anfängliche Zustimmungsbereitschaft von 65 Prozent. Die Zweitwohnungsinitiative begann bei 62 Prozent, während die erste Umfrage zur Ausschaffungsinitiative bei 58 Prozent begann. Sie alle starten gut, weil sie sich mit einem Missstand beschäftigten.

Wichtiger ist aber die Frage, wie stabil das alles ist. Der mittlere Werte des Rückgangs im Ja-Anteil beträgt, aufgrund der SRG-Umfragen, 10 Prozent; allerdings ist das kein Naturgesetz, sondern, wie fast alles in der Massenkommunikation, von Rahmenbedingungen abhängig: zum Beispiel dem effektiven Problemdruck und der Eignung der Nein-Kampagne.
Die wirkungsvollsten Nein-Kampagnen bauen auf der Schwachstellen-Kommunikation auf. Sie greifen nicht die Initiative als solche an, konzentrieren sich aber auf die schwächste Stelle im Angebot. Das zeigt in der Regeln den gewünschten Effekt. Er bleibt aus, wenn der Aufbau der Nein-Kommunikation misslingt resp. der Problemdruck zu hoch ist.
Der Rückgang kann auch mehr als die besagten 10 Prozent betragen, wenn die Startzahl mehr als Sympathiekundgebung denn als Resultat eine Abwägens von Pro und Kontra aufgefasst werden kann.
Die Volksinitiative für den Schutz vor Passivrauchen illustriert die Aussage: Die grosse Mehrheit der SchweizerInnen raucht nicht, stand der Forderung demnach aus Eigeninteresse mit Wohlwollen gegenüber. Der Initiative konnte man aber leicht Schwierigkeiten bei der Umsetzung vorwerfen (“Selbständig Erwerbende dürften in ihrem Büro nicht rauchen”). Hinzu kam, dass die meisten Kantone Massnahmen getroffen hatten, sodass das initiale Problem entschärft worden war.
Ergebnis: Aus den 59 Prozent im Startwert resultierte in der Volksabstimmung 2012 ein Ja-Anteil von 32 Prozent. Vergleichbares ergab sich bei der Goldinitiative 2006, als sich die anfängliche Zustimmungsbereitschaft von 62 Prozent auf 42 im Ergebnis zurückentwickelte.
Um es klar zu sagen, das sind nicht die Regel-, sondern die Extremfälle, die belegen, was bei Volksinitiativen jenseits der 10 Prozent alles möglich ist. Der Anhang im SRG-Bericht (Kapitel 5.1.2) macht die ganze Auslegeordnung.

Und bei der Familieninitiative? 64 minus 10 reicht nicht, um die Mehrheit zu kippen. Es braucht also mehr als den durchschnittlichen Meinungswandel. Silja Häusermann, Politologie-Professprin an der Uni Zürich, sagt im heutigen Tages-Anzeiger, was gute Schwachstellenkommunikation ist: “Die Gegner werden sich in ihrer Argumentation auf die Kostenfrage konzentrieren, immer wieder betonen, dass die Steuerausfälle bei anderen wichtigen Staatsaufgaben kompensiert werden müssen». Und, das eine Familienmodell gegen das andere auszuspielen, sei politisch nicht besonders erfolgversprechend, weil es in der Schweiz in vielen Kantonen durchaus eine breite Unterstützung für ein konservatives Familienmodell gäbe.
Die erste SRG-Umfrage zeigt denn auch, dass das Kostenargument viel mehr wirkt als alles andere, was man gegen die Initiative hören kann. Ob es reicht, hängt, wie dargelegt, von der noch folgenden Nein-Kampagne ab. Denn das Problem der finanziellen Anspannungen in Familien besteht, und es kommt umso häufiger vor, als die Haushalte über unterdurchschnittliche Einkommen verfügen.

Claude Longchamp

1:12-Initiative ist keine zweite Minder-Initiative

Die Analyse am Tag der Minder-Abstimmung war bisweilen rasch gemacht: Wirtschaftspolitische Initiativen seien nun mehrheitsfähig; die Lohnthematik habe den Umschwung gebracht. Flugs wurde die 1:12-Initiative zur zweiten Abzocker – Initiative emporstilisiert. Sprich: Auch sie würde in der Volksabstimmung angenommen werden.
Die erste SRG-Umfrage zu den Volksabstimmungen vom 24. November 2013 zeigt nun, dass man, wie so oft, differenzieren muss. Denn die 1:12-Initiative startet mit 44 Prozent Zustimmungsbereitschaft und 44 Prozent Ablehnungspotenzial. 12 Prozent der Teilnahmewilligen wissen nicht, wie sie stimmen wollen. Bei der Minder-Initiative lautete der Startwert 65 zu 25; 10 Prozent waren damit unschlüssig.
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Wie kann man sich den Unterschied zwischen beiden Initiativen erklären?
Zuerst durch den Inhalt: Die Minder-Initiative verlangte mehr Aktionärsdemokratie. Das war letztlich eine liberale Forderung, wenn auch mit einer Kritik an Auswüchsen des liberalen Systems verbunden. Die 1:12-Initiative setzt ganz anders an: Sie will staatliche Regelungen des Lohnsystems in den Unternehmungen.
Dann durch den Absender: Thomas Minder war und ist Gewerbetreibender. Er geht als Patron eines mittelständischen Betriebes durch, der wegen seinen Forderungen Applaus von Rechts-Konservativen und Linken bekam. Getragen wird die 1:12-Initiative von der JUSO. Unterstützung gibt es bei den Gewerkschaften und von den linken Parteien. Der Support aus dem konservativen Lager ist gering; auch das Gewerbe lässt sich kaum dafür mobilisieren.
Man tut gut daran, nebst den Gemeinsamkeiten der Initiativen auch die Unterschiede zu analysieren. Auch mit Blick auf die Mindestlohn – Initiative, getragen von den Gewerkschaften, fokussiert auf die tiefsten, nicht die höchsten Löhne.

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Die aktuelle Erhebung legt Unterschiede in den Zustimmungswerten zu Kampagnenbeginn offen. Wer damals gegen die Minder-Initiative war, ist es in sehr hohem Masse auch jetzt. Anders sieht es bei den damaligen BefürworterInnen aus: 4 von 10 der damaligen Ja-SagerInnen wollen gegen die 1:12-Initiative stimmen oder sind unschlüssig.
Hauptgrund: Die Zustimmungswerte zu 1:12 sind im bürgerlichen Lager durchwegs geringer, was die Kennzeichnung des aktuellen Konfliktmusters durch die Links-/Rechts-Achse zulässt. Ihre Position geändert haben die RentnerInnen; bei Minder auf der Ja-Seite; bei 1:12 kaum. Geblieben ist die Zustimmung aus der Unterschicht. Sowohl bei der Minder-Initiative wie auch bei der 1:12-Vorlage will, in der Ausgangslage, eine Mehrheit zustimmen.
Das alles hat auch mit einer veränderten Kampagnensituation zu tun: Die Nein-Kampagne zur Minder-Initiative startete mit viel Kritik, wegen der Überheblichkeit der Akteure und der Unprofessionalität der Militanten. Auch das hat sich geändert. Im Vordergrund steht diesmal kaum die Metadiskussion über die Kampagne. Vielmehr sind zwei Botschaften platziert worden: die Ordnungsfrage einerseits, die Folgen für die Finanzen des Staates und der Sozialwerke anderseits. Beides zeigt Wirkung, mehr als die Nein-Kampagnen gegen das Minder-Vorhaben.
Entschieden ist die Sache dennoch nicht schon jetzt: Die 1:12-Initiative hat gegenwärtig gleich viele BürgerInnen hinter wie gegen sich. Die aufgeworfene Frage nach der Gerechtigkeit im Lohnsystem ist das zentrale Element. Auseinanderdriftende Pole oben und unten sind der zentrale Ansatzpunkt der Ja-Kampagne.
Doch liess sich die Gegnerschaft, wenigstens bis jetzt, nicht in der Ecke der Stellvertretenden des Grosskapitals festnageln. Deshalb haben wir heute keine mehrheitlich ausgerichtete Situation gegen die Abzocker, sondern eine Kontroverse über das Lohnsystem vor allem in den internationalen Organisationen bei denen das Pro und das Kontra abgewogen werden.
Claude Longchamp

Das Denken des Landes hat sich in Freiburg gegen jenes der Hauptstadt durchgesetzt

Freiburg hat gewählt: Der Staatsrat bleibt mehrheitlich bürgerlich; Nachfolger von Isabelle Chassot ist Jean-Pierre Siggen.

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Der Gewählte Jean-Pierre Siggen und sein nicht so geschlossener parteipolitischer Hintergrund (Quelle: La Liberté)

Knapper hätte das Resultat nicht ausfallen können: Der Kandidat der Bürgerlichen, Jean-Pierre Siggen, machte 31‘914 Stimmen; sein Herausforderer der Linken kam auf 31‘352. In Prozenten: der CVP-Bewerber kam auf 50,4 Anteile, der SP-Mann auf 49,6.

Nach Zählkreisen schien heute lange alles klar: Siggen gewann ausser dem Saane-Bezirk alle für sich. Am deutlichsten neigte der Glâne-Bezirk zu ihm (57.8%), gefolgt von Gruyère (55.8%), Sense (53.0%), Broye (53.7%) und See (53%). Auch die FreiburgerInnen im Ausland votierten zu 53,3 Prozent für den CVP-Mann. Anders entwickelten sich die Zahlen im Zählkreis Saane, der schliesslich mit 56,7 Prozent an Steiert ging. Ausschlaggebend war hier die Stadt Freiburg, welche zu 63,2 Prozent zum linken Bewerber hielt.

Einzig Bulle wählte von den Städten knapp mehrheitlich für Siggen (50.7%). Sonst tendierten sie resp. die grösseren Orte alle zu Steiert (Villars 56,8%; Marly 53,6%; Düdingen 52,8; Murten 50,6%). Das Gegenteil ergab sich auf dem Land; in Autafond im Saane-Bezirk wählten 31 den Bürgerlichen; 2 den Linken, der damit gerade auf 6,1 Prozent der Stimmen kam.

Erklären kann man Ergebnisse bei Majorzwahlen stets mit zwei vorrangigen Kräften: den Blöcken, den Personen. Die Blöcke hätten klar für Siggen gesprochen; das Ergebnis verweist auf einen erheblichen Personeneffekt zugunsten von Steiert. Denn gemessen an der Stimmkraft der bürgerlichen Parteien, die 71 der 110 Grossratssitze oder 65 Prozent der VolksvertreterInnen auf sich vereinen, ist fiel das Resultat der Ersatzwahl in den Staatsrat äusserst knapp aus.

Hauptgrund dürfte sein, dass die grosse bürgerliche Allianz, die im Kanton Freiburg traditioneller Weise die nur CVP und FDP umfasst, nur zögerlich zusammenfand. Erst die Aussicht, dass der Kanton mit dieser Ersatzwahl eine linke Mehrheit im Staatsrat bekommen könnte, führte die CVP, FDP und SVP kurzfristig und auf kantonale Wahlen beschränkt zusammen. Wie das Ergebnis zeigt, dürften die Stimmabgabe nicht lückenlos gewesen sein. Vertiefte Analysen nach Hochburgen werden zeigen, wie geschlossen die SVP, aber auch die FDP und CVP für den bisherigen Direktor des Arbeitgeberverbandes waren. Denn, so kann man jetzt schon vermuten, jeder 5. Freiburger, der/die bürgerlich wählen, stimmten heute für den linken Bewerber.

Immerhin, nach den Erfolgen bei den Ständeratswahlen gerade auch im Kanton Freiburg ist der linke Aufstieg ins Stocken geraten. Mit der heutigen Entscheidung bleibt die Freiburger Kantonsregierung mehrheitlich bürgerlich; die CVP behält ihre 3 Sitze, die SP 2, die FDP und die Grünen je ein Mandat. Pluralismus mit rechtem Schwerpunkt bleibt angesagt; für das Experiment der Co-Habitation, die auch anderen Kantone kennen, ist Freiburg nicht reif.

Stadt und Land ticken im Kanton Freiburg politisch ziemlich diametral anders. Diesmal hat sich das Denken des Landes durchgesetzt – wenn auch knapp!

Claude Longchamp

Halbzeitbilanzen im Vergleich

Nun dürften sie gemacht sein, die Halbzeitbilanzen zur laufenden Legislatur auf Bundesebene. Zeit, die politischen Parteien zwei Jahre nach den letzten resp. vor den nächsten Wahlen zu beurteilen. Am ehensten noch bestätigt sich bei Wahlen der Hang zur neuen Mitte, mit etwas unterschiedlichen Auswirkungen auf die anderen Parteien.

Kantonale Wahlanalysen

Hilfreicher als die Jahresbilanzen der sda zu den kantonalen Wahlen ist die Uebersicht, welche die NZZ und LeTemps heute publizierten. Denn die hebt die Nachteile der Sitzadditionen je Kalenderjahr auf. Daniel Bochler, Pascal Sciarini und Karima Bousbah berechneten erstmals sowohl Parteistärken als Sitzanteile in allen kantonalen Wahlen seit Ende 2011, wobei sie die Ergebnisse nach Kantonsgrössen gewichteten. Das lässt am ehesten Vergleich mit der nationalen Ebene zu. Zudem haben sie die Mischlisten in den Kantonen entlang der KandidatInnen-Stimmen auf die Parteien aufgeteilt, was die Präzision der Aussagen erhöht.

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Grafik anclicken, um sie zu vergrössern, Quelle: NZZ

Ergebnis: Die Reihenfolge der Parteien hat sich seit 2011 mit einer Ausnahme nicht geändert. Einzig die GLP hat die BDP kantonal überholt. Anders als im Bund liegt die FDP in den Kantonen knapp vor der SP. Positiv ist der Trend bei GLP, BDP und SP, während die SVP stabil ist und FDP, CVP resp. GPS eine negative Bilanz haben.
Direkt vergleichbar sind die Parteistärken in den Kantonen und auf Bundesebene nicht. Namentlich die SVP, aber auch die SP sind kantonal schwächer als national, derweil besonders die FDP mehr Anhang hat, wenn die Kantone als der Bund wählen. Hauptgrund ist hier, dass die Polparteien von der politischen Polarisierung profitier(t)en.

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Grafik anclicken, um sie zu vergrössern, Quelle: NZZ

In ihrer Analyse kommten die Politikwissenschafter des Zentrums für Demokratie in Aarau resp. der Universität Genf zum Schluss, dass die neuen Parteien unverändert im Aufwind seien. Auch nach den Nationalratswahlen 2011 ist es ihnen gelungen, die Traditionsparteien im bürgerlichen Lager, aber auch die Grünen zu bedrängen. Eine wirkliche Opposition bilden sie aber nicht, denn die BDP ist eine Regierungspartei, und die GLP politisiert annähernd wie eine solche. Die eigentliche Opposition habe sprachregional verschiedene Gesichter: In der deutschsprachigen Schweiz sei sie weitgehend mit der SVP identisch, in der Romandie mit dem MCG, und in der italienischsprachigen Schweiz ist sie mit der Lega dei Ticinesi deckungsgleich. Ihre Erfolge seien unterschiedlich. Im Tessin kann man die Effekte erst anhand kommunaler Wahlen schätzen; sie scheinen aber gegeben. In der Romandie war das MCG im Herkunftskanton Genf erfolgreich; der Export in andere Kantone ist nicht gelungen. Und bei der SVP sind die Wachstumsjahre seit 2008 vorbei. Mit leichten Schwankungen hält sich die Partei aber auf kantonaler Ebene.
Die Befunde in der heutigen NZZ sind damit insgesamt deckungsgleich mit einer Bilanz, die ich auf diesem Blog vor Monatsfrist gezogen. Einzig der Rückgang der Grünen hat sich seither mit der exemplarischen Wahlniederlag in Genf akzentuiert.

Repräsentativ-Befragungen
Umfragen zu den Parteinstärken sind in jüngster Zeit zwei erschienen: jene der Sonntagszeitung und LeMatinDimanche, erstellt von Isopublic aufgrund von rund 1000 Befragten, und die von gfs.bern, veröffentlicht durch die Medien der SRG, die auf 2000 Befragten basiert.
Im Kern sind die gleich, denn beide Umfragen sehen die GLP und BDP mehr oder weniger im Aufwind. In den Details gibt es aber Unterschiede: So zählt Isopublic auch die CVP und die SP zu den GewinnerInnen, derweil die Verluste insbesondere für die SVP deutlich hoher ausfallen.
Hälft man sich an die materialstärkere SRG-Umfrage, wäre die BDP national die eigentlichen Gewinnerin, gefolgt von der GLP. Halten könnte sich die SP, beinahe gilt dies auch für die GPS. Derweil gäbe es Verluste für alle Parteien, die den traditionellen Bürgerblock bilden.

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Grafik anclicken, um sie zu vergrössern, Quelle: gfs.bern

Die Analyse der Ursache macht vor allem auf Mobilisierungsprobleme auf der rechten Seite aufmerksam. Das ist zwar nicht ganz neu, und es kann sich mit dem Abstimmungskampf auch ändern. Entscheidend ist, welche Themen medial oder durch Abstimmungen an der Spitze der Aufmerksamkeit stehen, wie sie behandelt werden und welche Effekte sich die Parteien davon nutzbar machen können. Da legt das Wahlbarometer nahe, dass die Migrationsfrage zum zentralen Feld der politischen Auseinandersetzung werden wird. Sichtbar wird auch, dass die Parteiimages aus bei der SVP in eben dieser Migrationsthematik, der GPS in Umweltfragen und der SP bei der sozialen Sicherheit recht gering ausgeprägt bleiben. Mehr als das allgemeine Erscheinungsbild dürfte massgeblich sein, wie sich die Parteien in den konkreten Sachfragen, beispielsweise in Volksabstimmungen positionieren. Dabei ist nicht zu unterschätzen, wie sie sich in Bezug auf die Politik des Bundesrates verhalten, denn diese geniesst vergleichsweise hohe Glaubwürdigkeit, sowohl als Instition wie auch gegenüber den sieben Mitgliedern.
Die Wechselbilanzen seit 2011 sind einzig bei der BDP fast ausschliesslich positiv. Bei der GLP zeigt sich eine gewisse Aenderung gegebenüber 2011, indem die Gewinn von rotgrünen Parteien angenommen oder sich ins Gegenteil entwickelt haben. An der Polarisierung leidet noch die CVP, verliert sie doch unverändert an SVP, FDP und SP Wählende. Etwa verbessert aufgestellt erscheint die FDP, die beispielsweise keine Verluste mehr gegenüber der SVP hat, aber immer noch an die GLP und BDP. Die GPS verzeichnet leichte Gewinnen seitens der GLP, hat aber mit Abwanderungen an die äussere Linke zu kämpfen.

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Grafik anclicken, um sie zu vergrössern, Quelle: gfs.bern

Auffällig an der Analyse ist, dass erstmals seit 1999 die Polarisierung des Parteiensystems nicht mehr zugenommen hat. Vielmehr findet eine Rezentrierung statt, wie sie sich 2011 mit den Erfolgen der neuen, konsensorientieren Parteien abgezeichnet hat. Erstmals zeigt sich dies auch an den selbstreferierten Positionen der Wählenden fast aller Parteien.

Der Instrumentenvergleich
Vergleicht man die Quintessenz der Legislaturbilanzen beider Instrumente, dominieren zuerst die Gemeinsamkeiten: Das Neue in der Parteienlandschaft zieht immer noch. Bedroht erscheinen dadurch vor allem die bürgerlichen Zentrumsparteien, vielleicht auch die Grünen. Die Polparteien legen kaum zu, verlieren aber auch nicht wirklich. Es gibt aber auch Unterschiede; schwierig bleibt die Einschätzung der SVP, denn ihre Bilanzen kantonal und national sind ungleich, auch auch die Trendaussagen sind nicht wirklich kongruent.
Ein grosses Schalgwort, das alles auf den Punkt bringen würde, gibt es nicht (mehr). Anders als 1995 bis 2003 als die Polarisierung die nationalen Wahlen prägte, aber auch anders als 2007, als der Rechtsrutsch das Ergebnis marktierte, kann man gegenwärtig maximal von einem Ueberhang zur Mitte sprechen, mit etwas unterschiedlichen Auswirkung auf alle anderen Parteien.
Ein Grund dafür ist, dass die Polarisierung mit speziellen Auswirkungen auf die SVP bei kantonalen Wahlen nie wirklich spielte. Für den Peak der SVP 2007 auf nationaler Ebene findet sich in den Kantonen kein pendant. Nicht übersehen werden darf dabei, dass namentich die Abstimmungen teilweise ganz andere Befunde liefern. Zwar ist auch hier die GLP die erfolgreichste Partei, doch bleibt der Grad an Polarisierung angesichts der Notwendigkeit von Ja/Nein-Entscheidungen einiges höher als er bei (kantonalen) Wahlen zu Ausdruck kommt.

Claude Longchamp

Rechtsrutsch in Genf – für einen Kanton mit einem grossen urbanen Zentrum ist das ein Novum

Die Grünen bezahlen die umstrittene Verkehrspolitik im Kanton Genf. Sie verlieren im Staatsrat wahrscheinlich beide Sitze, und ihre Vertretung im Grossen Rat wird fast halbiert. Klarer Sieger der Parlamentswahlen ist die Rechte, der Staatsratswahlen die bürgerliche Entente. Für die Romandie entsprich das dem gegenwärtigen Trend. Neu ist, dass erstmals auch ein urbaner Kanton davon erfasst wurde.

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Wahlplakat des siegreichen MCG: Einheimische zuerst

Regierungswahlen
Das KandidatInnen-Feld für die 7 Sitze im Genfer Staatsrat war unüblich gross. 29 Bewerbungen standen zur Auswahl. Gewichtet haben die Wählenden via Majorzverfahren klar: Das vorläufige Endergebnis sieht fünf KandidatInnen der bürgerlichen Entente nach dem ersten Wahlgang an der Spitze, gefolgt von 2 Bewerbern des MCG und 2 PolitikerInnen der SP. Pierre Maudet (FDP/Lib.), erst 2012 in einer Nachwahl in die Genfer Kantonsregierung gehievt, erzielt das beste Resultate, doch verfehlt er wie alle anderen das absolute Mehr. Erwartet wird, dass die KandidatInnen der FDP, CVP und des MCG alle nochmals antreten, wohl auch die bestplatzierten der SP, der GPS und der SVP. Möglich ist, dass die GenferInnen eine rein bürgerliche Regierung wählen, aber auch, dass sie die persönlichen Qualitäten der KandidatInnen höher gewichten und eine parteipolitisch breit gemischte Regierung zusammenstellen.

Die Grünen, bisher mit 2 Sitzen, und mit ihr Rotgrün mit 3 Mitgliedern dürften geschwächt aus diesen Regierungswahlen hervor gehen. Mit einem oder zwei Vertreter im Staatsrat wird die Rechte, allen voran das MCG, neu in der Regierung präsent sein. Allenfalls um einen Sitz gestärkt könnte auch die CVP in die Kantonsregierung einziehen.

Parlamentwahlen
Die Parlamentswahlen, nach dem Proprorzverfahren mit Eintrittshürde durchgeführt, zeigen vordergründig ein Polarisierungsmuster: Am meisten legen die vereinigte Linksallianz aus kleinen Linksparteien zu, denn sie gewinnt gemäss Hochrechnung 9 Sitze. 4 Sitzgewinne gibt es für das MCG und 2 für die SVP. Die Reche bezahlen auch hier die Grünen mit 8 Sitzverlusten, während die FDP/Liberalen nach ihrer Fusion 7 Mandate einbüssen. Die anderen Parteien bleiben im Genfer Grossen Rat unverändert.

Die Sitzverteilung täuscht über die wirklichen Verschiebungen in den Parteienstärken hinweg. Hauptgrund ist die 7 Prozent-Hürde. 2009 trat das linke Bündnis mit zwei Listen an, die beide den Einzug ins Parlament verpassten, obwohl sie zusammen 12,3 Prozent der Stimmen erhielten. Diesmal erreichten die wieder vereinigte Linksallianz 3,7 Prozentpunkte weniger, übersprang aber gemeinsam die Hürde, sodass sie trotz Stimmenverlusten die grösste Sitzgewinnerin ist.

Eigentliche Gewinnerin der Genfer Parlamentswahlen ist gemäss vorläufigem Resultat jedoch die Rechte: Das MCG legte um 4,9 Prozentpunkte zu und ist mit 19,7 Prozent die zweitstärkste Partei im Kanton. Die SVP wiederum mache 10,7 Prozent der Stimmen, was einer Steigerung um 2,2 Prozentpunkte entspricht. Das Zentrum bleibt insgesamt ähnlich stark; allerdings verteilen sich die Stimmen auf mehr Parteien. Leader in die FDP/Liberalen, mit 22,7 Prozent der Stimmen auch die stärke Partei unter den Wählenden. Allerdings büsste sie, nach der Vereinigung der FDP mit den Liberalen, 3,6 Prozentpunkte ein. Zulegen konnte die CVP, die mit einem Plus von 0,7 Prozentpunkten neu auf 10,6 Prozent kommt. Gewonnen haben auch die Neulinge GLP und die BDP, die neu 2,9 resp. 0,5 Prozent der WählerInnen repräsentieren, damit aber klar unterhalb der Eintrittsschwelle bleiben, um im Parlament vertreten zu sein.

Verloren hat die Linke. Die SP konnte zwar leicht zulegen; sie kommt auf 14 Prozent der Stimmen, was einem Plus von 1,1 Prozentpunkten entspricht. Drastisch Terrain eingebüsst haben aber die Grünen, mit einem Minus von 6,6 Prozentpunkten, sodass noch gerade 8,7 % übrig bleiben. Wie erwähnt ist auch die vereinigte Linksallianz schwächer als vor 4 Jahren. Erwähnt sei zudem, dass die Piraten 1,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten.

Im Genfer Parlament dürften sich inskünftig drei fast gleichwertige Blöcke gegenüber stehen: Die bürgerliche Entende in der Mitte mit 35 (-7) der 100 Sitze, Rotgrün mit 33 (+1) und die Rechte mit 32 (+6) Mandaten. Unter den Wählenden hat die parlamentarische Mitte einen Anteil von 33,4 Prozent, die Linke repräsentiert 31,2 Prozent und die Rechte 30,4 Prozent.

Trotz Verlusten: Das Zentrum der Entscheidungen geht inskünftig von der FDP/Liberalen aus, denn nur diese Partei kann im Parlament Mehrheiten von der Entente aus nach rechts wie auch nach Links beschaffen. Was wie häufig vorkommen wird, hängt namentlich von der Zusammensetzung der Regierung ab. Und: Ohne Zweifel werden die Themen des MCG nun vermehrt auf die Agenda kommen.

Genfer und Schweizer Verhältnisse
Aus schweizerischer Sicht fällt die besondere Stellung des Mouvement Citoyen Genevois auf. Der Aufstieg der Genfer Rechten geht weitgehend auf ihre Rechnung. Vor acht Jahren gegründet, machte die populistische Partei vor allem mit unkonventionellem Verhalten auf sich aufmerksam. Zentraler Programmpunkt war die Einschänkung der GrenzgängerInnen aus Frankreich, die mit der Personenfreizügigkeit rasch stärker wurden. “Einheimische zuerst” war diesmal der Erfolgsslogan. Zwischenzeitlich stellt die Partei Bürgermeister in verschiedenen Genfer Gemeinden, und nun steht sie vor dem Einzug in die Genfer Kantonsregierung. Damit ist sie, nebst der Lega im Tessin, die zweite wichtige lokale Partei, die mittels (rechts)populistischer Politik von sich reden macht. In beiden Kantonen hat dies den Aufstieg der sonst siegreichen SVP gebremst.

Gelitten hat unter diesem Aufstieg vor allem die Linke. Sie büsste seit 2009 fast einen Viertel ihrer WählerInnen-Stärke ein, sodass der linke Pol inskünftig schwächer sein wird. So drastische Verluste sind national für Rotgrün unbekannt, aber ein Zeichen dafür, was passiert, wenn die Unterschichten entweder nach rechts wechseln, oder nicht mehr stimmen gehen. In der deutschsprachigen Schweiz hat diese Bewegung schon in den 90er Jahren stattgefunden, Genf holt dies in der Romandie gerade nach. Vorbei ist es auch mit dem Anspruch der Grünen, im linken Lager eine Lead-Rolle inne zu haben und die linke Regierungspartei zu sein.

Schliesslich die Mitte: Anders als in Neuenburg hat sich die Fusion elektoral nicht bezahlt gemacht; vielmehr dominiert der nationale Trend, dass 1 + 1 politisch nicht ganz 2 gibt. Leicht gewonnen hat in Genf die CVP, die traditionellerweise rechts der Mitte politisiert und fest in die Entente eingebunden ist. Dennoch verlaufen zahlreiche Trends wie national. Die GLP spricht trotz hoher Eintrittsschwelle für die parlamentarische Repräsentation WählerInnen an, die von der bürgerlichen Mitte und von den Grünen kommen dürften. Beschränkt gilt dies auch für die BDP, die in der Romandie weiterhin schwächelt. Für Sitzgewinne reichte dies diesmal nicht.

Bilanz
Von aussen gesehen war der Mordfall im Strafvollzug das bewegende Thema der Wahl. Das könnte für die Erklärung des Aufstiegs der rechten Partei herangezogen werden – aber für die Niederlage der GPS? Wer in Genf näher dabei war, sieht eher die missglückte Restrukturierung des öffentlichen Verkehrs als hauptsächliches Thema, das namentlich der verantwortlichen Staatsrätin Michèle Kunzler angekreidet wurde und die exemplarischen Verluste ihrer grünen Partei erklären könnte. Nach dem Wahldebakel für die GPS und für sie selber erklärte die bisherige Staatsrätin, sie stehe im zweiten Wahlgang nicht mehr zur Verfügung. Da auch der zweite Kandidat der Grüne abgeschlagen wurde, kann es sein, dass die Grünen ihre Regierungsmitverantwortung diesmal ganz einbüssen.

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Zieht man die aktuellen Wahltrends namentlich in der Romandie zu Rate, könnte es auch einen übergeordneten Grund für den Rechtsrutsch geben. Denn einen solchen gab es jüngst auch in anderen Kantonen der Westschweiz. Das Parteiensystem, traditionellerweise auf die Achse FDP/Libelrae vs. SP konzentriert, wird zusehends durch einen nationalkonservativen Gegenpol erweitert. In den Parlament ist das schon deutlicher der Fall, derweil in den Regierung gegenwärtig eine Umgruppierung stattfindet. Die deutschsprachige Schweiz kennt das schon länger, auch die Symptomatik, dass die Polarisierung zwischen links und rechts die Linke nicht mehr vor Verlusten bewahrt.

Was bleibt? Der Kanton Genf ist an diesem Tag klar nach rechts gerückt. Wie stark sich das auf die kantonale Politik der kommenden fünf Jahre auswirken wird, wird der zweite Wahlgang für den Staatsrat weisen. Für eine kantonale Wahl in der Romandie ist das Ergebnis nichts ganz Neues, für einen Kanton mit einem grossen, urbanen Zentrum schon.

Claude Longchamp

Die Magie des achten Bundesrats

Eigentlich ist der Neuenburger Jean-Luc Portmann Staatsrechtler, Oekonom und Politologe. Liest man sein Buch zum Schweizerischen Regierungssystem, bekommt man aber den Eindruck, er sei Historiker, allenfalls Politikberater, der gute Kenntnisse hat, von wo das Regierungssystem der Schweiz kommt, was es kann, und woran es regelmässig auch krankt. Seine ganze Hoffnung auf Verbesserung investiert er in die Begründung, warum es einen achten Bundesrat/eine achte Bundesrätin brauche.

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Die frühe Verfassung
Drei verschiedene Regimes unterscheidet Portmann gleich zu Beginn des Buches: das parlamentarische, das präsidentielle und schweizerische. Dieses habe drei Charakteren: es sei direktorial, kollegial und departemental. Uebernommen habe die Helvetische Republik das aus der französischen Verfassung des Jahres III (1795), die ein Parlament mit zwei Kammern vorsah, welches die gleichberechtigten Regierungsmitglieder einzeln wählt und kontrolliert. Ganz anders als in einem parlamentarischen System es die Regierung aber nicht abberufen.

Von diesem Regierungssystem in den frühsten Demokratien hat sich Frankreich längst abgewendet; in der Schweiz hält es sich, ausgehend von der Helvetischen Republik mit Direktorium, Kommission und Rat, wie die Regierungen genannt wurden, und den frühen Kleinräten in den (regenerierten) Kantonen. Seit 1848 bildet es die Grundlage für die Konstitution des siebenköpfigen Bundesrats.

Die Bundesverfassungen von 1848, 1874 und von 1999 bestimmen juristisch die heutige Form des Bundesrats. Hinzu kommen die Revisionen von 1931 mit dem Uebergang von der drei- zur vierjährigen Amtszeit einerseits, die von 1971 anderseits, welche die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechtes brachte. Das Kollegialsystem, eigentliches Kernstück des schweizerischen Regierungssystems, hat alle Verfassungs- und Gesetzesrevisionen überdauert. Hauptgrund hierfür sieht Portmann darin, dass es auf ein Gleichgewicht zwischen Regionen, Sprachen, Religionen, politischen Parteien, ja auch zwischen den Geschlechtern angelegt sei.

Die Reform(versuche)
Einiges, so der Autor, habe man im Verlaufe der Zeit am Regierungssystem zu ändern versucht. In seiner Uebersicht behandelt er die drei gescheiterten Anläufe für eine Volkswahl des Bundesrats. Er geht auf die Frage ein, welches die richtige Zahl dr Mitglieder sei, denn namentlich die Linke habe sie von 7 auf 9 erhöhen wollen. Schliesslich nimmt er sich auch der Quotenfrage für die Geschlechtervertretung an, wie sie in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gestellt und verworfen worden ist. Jedes dieser Kapitel schliesst er mit Erörterungen von Vor- und Nachteilen ab, die letztlich nahe an den effektiv gefällt politischen Entscheidungen liegen.

Engagierter ist das Buch bei der Darstellung der jüngsten Staatsleitungsreform. Erstmals gefordert wurde sie Ende des 19. Jahrhunderts. Bis man damit Ernst machte, dauerte es aber noch fast ein Jahrhundert. Skandale, von dem beim Kauf des Mirage-Flugzeuges in den 60er Jahren bis zu dem, der Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts zum Rücktritt von Elisabeth Kopp als Bundesrätin führte, legten das Fundament. Die Kommission um den Basler Staatsrechtsprofessor Kurt Eichenberger formulierte die denkbaren Strategien: entweder zum parlamentarischen oder zum präsidentiellen Regierungssystem überzugehen, oder aus drei systemverträglicheren Varianten (Stärkung der Departementssekretariate, Einführung eines Präsidiums zur Führung eines vergrösserten Gremiums und Teilung der Regierung in ein kleines Kabinett, erweitert durch Minister) auszuwählen.

Die meisten kennen die Geschichte seither: Der Vorschlag mit 7 BundesrätInnen und 10 StaatssekretärInnen scheiterte in der Volksabstimmung vom 9. Juni 1996. Das löste zwar zahlreiche Aktivitäten im Parlament aus, doch hemmte es auch den Mut, die nötige Staatsleitungsreform mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 zu verbinden und abzuschliessen. Seither basteln verschiedene Akteure an einer sinnvollen und realisierbaren Reform: der Bundesrat, progressive ParlamentarierInnen, WissenschafterInnen, aber auch verschiedene politische Parteien. Fast alles davon ist trotz evidenter Mängel am Beharrungsvermögen des schweizerischen Regierungssystems gescheitert. Einziger Lichtblick: die Einführung von Staatssekretariaten, die den Bundesrat in drängenden Dossiers entlasten.

Die Position des Autors
Im kurzen Schlusskapitel bezieht der Autor Stellung. Er schlägt einen Bundesrat mit 8 Mitgliedern vor, verbunden mit der Schaffung eines Präsidialdepartements mit einem aufgewerteten Bundespräsidium.

Selber nennt Portmann sein Unterfangen „wenig amibitiös“, denn es stelle das Fundament des politischen Systems nicht in Frage, wie das beim Uebergang zum parlamentarischen oder präsidentiellen Regierungssystem der Fall wäre. Abgelehnt werden die Volkswahl und der Uebergang zu einem Koalitionssystem, denn beides sei mit den ausgebauten Volksrechten in der Schweiz nicht in Uebereinstimmung zu bringen. Schliesslich würde eine klar erhöhte Zahl an BundesrätInnen die Kollegialität pervertieren.

Den Hauptgrund für das Präsidialdepartement sieht der Autor in der Ueberlastung der jetzigen BundesrätInnen mit ihrer Departementsarbeit im Präsidialjahr. Der achte Bundesrat/die achte Bundesrätin brächte den Vorteil, Sprachminderheiten, politische Parteien und Kantone besser einbinden zu können. Gewählt würde er oder sie im Vorschlag Portmann alle zwei Jahre, ohne Möglichkeit der direkten Wiederwahl. Die Stellvertretung hätte ein Mitglied der Departements-BundesrätInnen inne. BundespräsidentIn und Stellvertretung müssten stets die verschiedenen Sprachregionen repräsentieren, so der Staatsrechtler. Das Präsidialdepartement würde die Bundesratssitzungen vorbereiten und leiten. Der/die BundespräsidentIn würde stets mitstimmen, bei Stimmengleichheit gälte die entsprechende Stimme doppelt. Anders als bei einem/r MinisterpräsidentIn hätte der/die neue BundespräsidentIn aber kein Weisungsrecht gegenüber den anderen Mitgliedern der Regierung. Im Notfall würde er oder sie provisorische Entscheidungen fällen können, mit der Verpflichtung der nachträglichen Ratifizierung.

Zur Entlastung der Departements-Bundesräte befürwortet Portmann zudem 1 bis 2 StaatssekretärInnen pro Departement, vorgeschlagen vom Departementschef, gewählt durch den Bundesrat als Ganzes und bestätigt durch das Parlament. Deren Aufgabenbereiche bestehe in der Vertretung des Departementschefs im Parlament, in den Kommissionen, in den Medien, gegenüber den Kantonen, aber auch anderen Staaten und supranationalen Organisationen.

Vom reinen Kollegialsystem würde man damit zum geführten übergehen, bilanziert Portmann seinen eigenen Vorschlag. Bei den Staatssekretariaten bildet der Autor im Wesentlichen ab, was sich als Teil der Staatsleitungsreform effektiv durchgesetzt hat, während er beim Bundespräsidium einiges darüber hinaus denkt.

Kritik
Führung, Handlungsfähigketi unter Druck, Entlastung der BundesrätInnen von der Tagesarbeit sind die zentralen Motivationen, die den Autor angetrieben haben. Vorbildlich ist seine sehr stringente Darstellung des Regierungssystems, seiner Wurzeln, seiner Stärken, aber auch seiner Schwächen. Die Reformen, die seit dem 19. Jahrhundert vorgeschlagen wurde, behandelt er bemerkenswert neutral, ohne am Ende seinen Standpunkt zu verleugnen. Man wünschte sich, dass das Buch in der deutschsprachigen Schweiz mehr rezipiert würde, denn es behandelt einen Kernbereich der Schweizer Staatswissenschaften.

Wenn man ein Bedenken platzieren soll, ist Jean-Luc Portmann etwas zu überzeugt, dass ein achter Bundesrat alles verbessern würde, was das Regierungssystem der Schweiz bisher nicht zustande gebracht hat. Das ist eine wohl zu magische Vorstellung von der Zahl der BundesrätInne, egal ob sie zu siebt sind oder zu achte wären.

Claude Longchamp

Auf dem Weg zu einem neuen Prognoseverfahren von Schweizer Parlamentswahlen

Der Start war verheissungsvoll. Rund ein Dutzend Studierende des Masters für “Schweizerische und vergleichende Politik” an der Uni Bern haben sich in meinem Forschungsseminar zur Prognose Schweizer Parlamentswahlen eingefunden. Einige Gedanken zu dem, was an der ersten Sitzung herausgekommen ist.

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Die Fabrikstrasse 2e im eben fertig umgebauten von Roll Areal in Bern dient als postindustrielle Denkstätte, unter anderem für die Sozialwissenschaften an der hiesigen Uni.

Die Intuition zuerst
Zuerst liessen wir der Intuition freien Lauf. Meine Studierenden mussten sich festlegen, welche Partei bei den Nationalratswahlen 2015 an Anteilen zulegt, welche solche verliert. Dann reflektierten wir ein erstes Mal, was die Gründe sein könnten. Schnell waren die Stichworte zusammen: generelle Fähigkeit zu mobilisieren, Mix an aktuellen Themen resp. Chancen und Risiken, ein Mitglied im Bundesrat zu gewinnen oder zu verlieren. Die kurze Präsentation des gleichentags erscheinenden Wahlbarometer lieferte erste Hinweise, was davon mehr als Vermutung sein könnte.

Wahlen als Ritual mit konstantem Ausgang
Dann ging es härter zur Sache: Bis zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts waren Wahlprognosen in der Schweiz relativ einfach. Die sprichwörtliche Stabilität des Parteiensystems mit vier grossen und grösseren Regierungsparteien und einer Reihe von kleineren Nicht-Regierungsparteien liess sich gut überblicken. Heraus kam bei der Wahl, was bei der letzten schon herausgekommen war.
Mit dem Ende des Kalten Krieges war das aber zu Ende; nach der EWR-Kontroverse brachen die traditionelle Parteienlandschaft, die 1919 (Proporzwahlrecht), 1959 (Zauberformel für Regierungsbeteiligung) und 1971 (Frauenwahlrecht) ihre Konturen erreicht hatte, vielerorts zusammen. Der Aufstieg der SVP begann, bisweilen kontert von SP und GPS. Seither ist die Volatilität bei Wahlen in der Schweiz schrittweise gestiegen, zuerst bei National-, dann auch bei Ständeratswahlen.
Die Veränderungen der letzten Jahre waren nicht beliebig. Zuerst prägte die Polarisierung des Parteiensystems die Entwicklung (1995 bis 2003), dann verlangsamte sich diese am linken Pol, sodass man von einem eigentlichen Rechtsruck sprechen konnte (2007). Auch der wurde 2011 gebrochen; es entstand der Trend zu neuen Mitte, der gemäss letztem Wahlbarometer anhält. Mit anderen Worten: Die jüngste Generation der schweizerischen Parteien setzt den relevanten Trend, und sie bedrängt damit Parteien, die vor ihnen entstanden sind.

Extrapolation kantonaler Trends
In den 90er Jahren wuchs die Hoffnung, man könne Schweizer Parlamentswahlen aufgrund der kantonalen Trends sicher vorhersehen. Klar ist, dass die Parteistärken national und kantonal unterschiedlich sind. Denn die Polarisierung, die Mitte der 90er Jahre einsetzte, war auf Bundesebene immer stärker als auf subnationaler. So sind FDP und CVP in den Kantonen stärker als im Bund, während für SVP, beschränkt auch für SP das Gegenteil gilt. Immerhin, die Entwicklungen auf nationaler und kantonaler Ebene verlaufen ähnlich, womit der Trend in den Kantonen zwischen zwei eidgenössischen Wahlen eine brauchbare Annäherung an Prognosen liefert.
Das Problem dieses Prognoseverfahren bleibt aber, dass sie die spezifischen Mobilisierungswirkungen nationaler Wahlkämpfe, aber auch die Trends im Wechselwählen zwischen Parteien und Parteilagern zu unterschätzen. So unterschätzte man die CVP 207 auf diesem Weg, und die SVP wurde 2011 überschätzt.
Deshalb müssen weitere Instrumente helfen, diesen Gründen der Veränderung von Parteistärken auf die Spur zu kommen. Umfragen mit Wählerstromanalysen, aber auch Aggregatdaten-Analysen, die Gleiches leisten, wären eine erste Verbesserung. Leider gibt es davon in der Schweiz viel zu wenig, vor allem zu wenig systematische Uebersichten. Für die Forschung ist das aber gut.

Erfahrungen bei den jüngsten Wahlen in den USA und in Deutschland
Die abschliessende Diskussion der Erfahrungen mit Prognosen bei den jüngsten Bundestagswahlen zeigt, dass die Kombination von verschiedenen Instrumenten der Wahlprognose diese verbessert, aber nicht vor Irrtümern schützt. Das Debakel der deutschen FDP sah fast niemand richtig voraus.
Das erfolgreichste Verfahren war die Analyse der Trends von Wahlkreis zu Wahlkreis. Das brachte eine fast perfekte Prognose. Sie erinnert in Vielem an das, was vor Jahresfrist in den USA geschah. Die genauesten Vorhersagen gingen über die Bundesstaaten, berücksichtigen KandidatInnen-Konstellationen, aktuelle Umfragen und langfristige Trends, allenfalls weitere Indikatoren. Nate Silver steht für dieses Vorgehen.

Herausgeforderte Politikwissenschaft
Die klassische Vorgehensweise in der Politikwissenschaft wird damit herausgefordert. Denn diese ist es sich gewohnt, theoretisch begründet vorzugehen, eine angepasste Methodologie zu verwenden, um relevante Daten zu analysieren und zu interpretieren. Doch die besten Prognostiker maximieren den Beitrag der statistischen Verfahren zu Prognosen, und sie verringern jenen der Theorie.

Wir werden das in unseren weiteren Ueberlegungen zur Prognose Schweizer Parlamentswahlen berücksichtigen müssen.

Claude Longchamp

Wer wie genau war, bei der Prognose der deutschen Bundestagswahlen

Ueber das Prognose-Tool PollyVote_de habe ich schon vor den deutschen Bundestagswahlen berichtet. 2013 durchlief es sein Probephase – und bestand sie, wenn auch nicht ganz problemlos. Mein Bericht.

Wäre es nach den verschiedenen Wahlbörsen gegangen, wäre die AfD in den Bundestag gelangt und die FDP drin geblieben. Das war gleich gleich zweimal falsch. Bei der AfD lagen die Prognosemärkte als einzige daneben, bei der FDP gerieten alle Prognoseverfahren bei den diesjährigen deutschen Wahlen in Schwierigkeiten.

Nun kann man Vorhersagen nicht auf die Frage reduzieren, wer der Eintrittsschwelle in den deutschen Bundestag scheitert resp. sie überwindet. Das ist zwar qualitativ von Belang, doch gehen alle Prognoseverfahren quantitativ vor. Fairer ist es deshalb, sie daran zu messen, wie gross mittlere Abweichung bei allen Parteien ist.

PollyVote hat denn auch die quantitative Güte der verschiedenen Tools im Nachhinein verglichen. Ergebnis:

. Prognosemärkte waren am ungenauesten;
. etwas besser waren ExpertInnen;
. noch präziser waren Umfragen und
. am geeignetsten, die Wahl vorauszusehen, waren Modellrechnungen.

PollyVote ging noch darüber hinaus. Im Claim der Plattform heisst es, “Prognosen gut kombiniert”. Will heissen: Am besten ist der Mix aus der vier genannten Verfahren. In der Tat wurde das Versprechen eingelöst, denn noch einen Hauch besser als die Modellrechnungen war PollyVote selber.

Damit bestätigt sich in Deutschland, was in sich in der amerikanischen Wahlforschung vor kurzem eingebürgert hat. Statt auf eine Umfrage zu achten, schaut man auf alle. Statt Umfragen alleine beizuziehen, lässt man sich von allen serösen Instrumenten beraten.

Der mittlere Fehler dieses doppelten Kombis beträgt 0,97 Prozentpunkte pro Partei. Das Hauptproblem betrifft die CDU/CSU, gefolgt von den Grünen. Erst dann kommen die FDP und die AfD an die Reihe. Weitgehend unproblematisch waren die Einschätzungen von von PollyVote bei der SPD, den Piraten und der Linken.

Alles klar? Wie immer bei solchen Aggregatoren, die vom Schnitt ausgehen, sind einige Teilinstrumente ungenauer resp. genauer als das Mittel. Am genauesten von allen war die Website “election_de“. Denn sie lag praktisch überall richtig; mittlerer Schätzfehler: sensationelle 0,1 Prozent pro Partei.

Das Dumme nur: Die Statistiker dahinter verraten fast nichts, wie sie vorgegangen sind. Man erfährt nur, dass sie die zitterhaften Umfragen mit den langfristigen Trends kombinieren, und über die Wahlkreise vorgehen, um die Parteistärken zu prognostizieren. Wie genau das geht, bleibt ihre Mysterium.

Claude Longchamp

Einen Tag vor der deutschen Bundestagswahl

PollyVote, in den USA erfolgreich eingesetzt, um den Ausgang der Präsidentschaftswahlen vorauszusagen, wurde 2013 erstmals auch bei den deutschen Bundestagswahlen verwendet. Ich fiebere mit, denn mich interessiert, ob es ein Exportschlager wird.

Aggregatoren nennt man Tools wie PollyVote in der Fachsprache. Sie funktionieren nach dem Motto: Jedes noch so gute Instrument hat Schwächen, ohne dass man sie im Voraus kennt. Also nutzt man sie parallel, möglichst ohne vorherige Gewichtung. In Detuschland stellt PollyVote auf vier Instrumente ab: Repräsentativ-Umfragen, Prognosemärkten, Modellrechnung und ExpertInnen- Urteilem. Wenn ein Instrument in mehrfacher Ausführung vorkommt, wird mit dem Mittelwert der entsprechenden Ergebnissen gearbeitet.

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Grafik anclicken um sie zu vergrössern.

Gemäss PollyVote kommt die CDU/CSU bei den morgigen Bundestagswahlen auf 39 Prozent; sie würde sich damit um rund 6 Prozentpunkte gegenüber der Vorwahl verbessern. Zulegen dürfte auch die SPD, die auf 26 Prozent kommt. 11 Prozent gehen an die Grünen/Bündnis’90, 8 an Die Linke und 6 an die FDP. Darüber hinaus schafft keine Partei die 5 Prozenthürde. Es scheitern die AfD mit 4 und die Piraten mit 3 Prozentpunkten. Unter den Parlamentsparteien läuft es auf ein Patt heraus: Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün haben je 45 Prozent. Das lässt alles offen: die Fortsetzung der bisherigen Koalition, eine schwarz-rote Allianz und eine linkes Bündnis. Letzteres gilt als das unwahrscheinlichste Szenario, weil es nur eine rechnerische, keine politische Mehrheit wäre.

Natürlich wartet man gespannt darauf, ob die Vorhersage stimmt resp. wie genau sie ist. Das alles wissen wir abschliessend erst morgen Abend. Heute schon können wir die Instrumente im Vergleich beurteilen. Die hierzu relevanten Befunde sind:

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Die vier Linien entsprechen von oben nach unten: Modellen, Umfragen, Experten, Polly-Vote-Schnitt, Börsen. Grafik anclicken um sie zu vergrössern.

. Drei der vier Instrumente sehen die Alternative für Deutschland nicht im neuen Bundestag vertreten. Die Abweichung findet sich bei den Prognosemärkten. Diese Instrument, der Börse nachempfunden, gibt als einziges der AfD einen WählerInnen-Anteil von 6 Prozent, was für den Einzug reichen würde.
. Identisch sind die 4 Werte für die Grünen/Bündnis’90, fast der Fall ist dies bei der Linken und bei der FDP. Bei dieser Partei variirien die Angaben um maximal 9 Promille, wobei die Umfragen am tiefsten sind, bei jener um 8 Promille, denn die ExpertInnen haben die Links-Partei tiefer als alle anderen.
. Uneinheitlicher sind die Werte für die beiden Grossparteien. Die SPD schwankt zwischen 25.2 Prozent in den Prognosemärkten und 26.9 Prozent bei den ExpertInnen. Die CDU wiederum kommt an der Börse auf 36.8 Prozent, in den Modellrechnungen gar auf 40,7 Prozent. Die Eigenheiten der Instrumente nach Parteien sind dabei über die Zeit fast konstant geblieben, sprich haben whl etwas mit der Auswahl der Indikatoren oder der TeilnehmerInnen zu tun.

Mit anderen Worten: ExpertInnen haben eine Affinität zur SPD; die Börsen eine zur AfD; vor allem letzteres bekommt der CDU/CSU nicht gut.

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Die Linien entsprechend von oben nach unten: ExpertInnen, Polly-Vote-Schnitt, Umfragen, Modellen, Börsen. Grafik anclicken um sie zu vergrössern.

Natürlich fiebere ich ein wenig mit Kollege Andreas Graefe von der Uni München mit; denn sollte sich der US-Export in Deutschland bewähren, sehe ich vor, 2015 ein ähnliches Tableau auch bei den Nationalratswahlen 2015 anzuwenden!

Claude Longchamp

hier noch die vier Umfragen von heute im Vergleich

Datengetriebene Recherche und Umsetzung zwischen Journalismus und Aktivismus

Zum 3. Mal organisierten gestern Orell Füssli Wirtschaftsinformation und das MAZ, die Schweizer Journalistenschule, eine Tagung zum Datenjournalismus in der Schweiz. Anwendungsbeispiele standen im Zentrum des Interesses. Eine Schilderung meiner Lernings und Einsichten

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Illustration aus der unten verlinkten Kartenserie der NZZ

Meine wichtigste Erkenntnis des Vortrag(halb)tages war: Die Grenzziehung zwischen datengetriebenem Journalismus und Aktivismus ist fliessend.

Marek Tuszynski, mit Verve im TacticalTechnologyCollctive engagiert, machte dies am klarsten deutlich. Der Filmemacher unterstützt Nichtregierungsorganisationen in ihrem Kampf gegen das global ausdgerichtete Verbrechen. „Exposing the Invisible“ heisst das Projekt. „Our currency is information“ ist ein beispielhafter Kurzfilm, der in diesem Rahmen entstanden ist. Dabei geht es darum aufzuzeigen, wid internationale Finanzströme verlaufen, Briefkastenfirmen vernetzt sind, um nationale Gesetze zugunsten von Korruption zu umgehen oder Warenhandel jenseits von Deklarationspflichten zu organisieren. Wirkung ist beabsichtigte, Konflikte sind vorprogrammiert.

Einiges unpolitischer ist der Datenjournalismus in Schweizer Medien. Der Tamedia-Verlag hat das Eis gebrochen, aktuell ziehen andere Medienhäuser wie der NZZ-Verlag nach.

NZZdata hat diesen Sommer 20 Tage lang in Serie neue Gesichter der Schweiz produziert. 20 Karten sind so entstanden, von denen die meisten ungewohnte Bilder des Landes zeichneten, sei es, weil sie neue Informationen verwendeten oder bekannte Information neu versinnbildlichten. Teils standen die Karten mit Legenden allein in der NZZ, teils waren sie umgeben von ganzen Reportagen. Sylke Gruhnwald zeigte in ihrem Referat, dass das Interesse der Lesenden und Sehenden überdurchschnittlich vorhanden sei, machte aber auch deutlich, wie der start-up in der (Wirtschafts)Redaktion funktioniert. Denn er kämpft um Anerkennung, Stellenprozente und um Vermittlung von Text und Bild. Resultat sei, dass man noch nach bei der bekannten Infografik verharre. Im Sommer habe man Konjunktur gehabt, meinte sie, nicht zuletzt weil wegen mangelnder Textauslastung die Freiheit zum Visuellen in den Publikationen der NZZ-Gruppe grösser als üblich war. Dabei sei man auch schon an die Belastungsgrenze für MacherInnen und Medium gestossen.

Julian Schmidli gehört in der Schweiz zu den JournalistInnen, die den Datenjournalismus schon länger prägen. Für die Sonntagszeitung und LeTemps hat er verschiedene Reportagen und Hintergrundsberichte inspiriert, recherchiert angetrieben. Eindrücklich waren vor allem die Finanzströme bei der Vergabe öffentlicher Mandate durch die Bundesverwaltung. Die grafische Aufarbeitung der stark synthetisierten Information machte auf einen Blick klar, welche eminente Bedeutung beispielsweise die Verkehrsausgaben dabei haben, aber auch, welche Unternehmungen davon profitieren. (Unsinnigerweise ist der Beitrag auf Internet allerdings nur ohne Visualisierung einsehbar).

Schmidlis Erfahrungen kontrovers diskutierte Erfahrungen zeigten auch, wo Problematiken des Datenjournalismus liegen, selbst wenn man keiner politischen Bewegung verpflichtet ist. Nicht nur Daten treiben die Recherche, auch die journalistischen Massstäbe heizen sie an. Komplexität muss nicht nur aufgearbeitet, sondern auch systematisch reduziert werden. Und der Tendenz zur Objektivierung von Masseninformationen mittels Diagrammen steht der journalistische Zwang zum Runterbrechen auf das Beispiel hinter dem Muster gegenüber. Eine datenjournalistische Arbeit sei dann gut, meinte der Referent, wenn der Mensch mit seiner Geschichte das Ergebnis in seiner Darstellung ins Zentrum gerückt werden könne.

Neuerdings öffnet sich auch die Politikwissenschaft dem Datenjournalismus, indem beispielsweise politische Landschaften kartografiert, aber auch Netzwerke von Akteure in der Politik transparent gemacht werden, die auf komplexen Informationen basieren. Man kann gespannt sein, was der Master in Datenjournalismus, der diese Woche am Institut für Politiukwissenschaft an der Uni Zürich beginnt, hier an Forschungsergebnissen bringen wird. Ich werde mich im nächsten Herbst da ebenfalls einbringen!

Claude Longchamp

Die Tagung hier auf den NSN mitverfolgen.