Auf dem Weg zu einem neuen Prognoseverfahren von Schweizer Parlamentswahlen

Der Start war verheissungsvoll. Rund ein Dutzend Studierende des Masters für “Schweizerische und vergleichende Politik” an der Uni Bern haben sich in meinem Forschungsseminar zur Prognose Schweizer Parlamentswahlen eingefunden. Einige Gedanken zu dem, was an der ersten Sitzung herausgekommen ist.

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Die Fabrikstrasse 2e im eben fertig umgebauten von Roll Areal in Bern dient als postindustrielle Denkstätte, unter anderem für die Sozialwissenschaften an der hiesigen Uni.

Die Intuition zuerst
Zuerst liessen wir der Intuition freien Lauf. Meine Studierenden mussten sich festlegen, welche Partei bei den Nationalratswahlen 2015 an Anteilen zulegt, welche solche verliert. Dann reflektierten wir ein erstes Mal, was die Gründe sein könnten. Schnell waren die Stichworte zusammen: generelle Fähigkeit zu mobilisieren, Mix an aktuellen Themen resp. Chancen und Risiken, ein Mitglied im Bundesrat zu gewinnen oder zu verlieren. Die kurze Präsentation des gleichentags erscheinenden Wahlbarometer lieferte erste Hinweise, was davon mehr als Vermutung sein könnte.

Wahlen als Ritual mit konstantem Ausgang
Dann ging es härter zur Sache: Bis zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts waren Wahlprognosen in der Schweiz relativ einfach. Die sprichwörtliche Stabilität des Parteiensystems mit vier grossen und grösseren Regierungsparteien und einer Reihe von kleineren Nicht-Regierungsparteien liess sich gut überblicken. Heraus kam bei der Wahl, was bei der letzten schon herausgekommen war.
Mit dem Ende des Kalten Krieges war das aber zu Ende; nach der EWR-Kontroverse brachen die traditionelle Parteienlandschaft, die 1919 (Proporzwahlrecht), 1959 (Zauberformel für Regierungsbeteiligung) und 1971 (Frauenwahlrecht) ihre Konturen erreicht hatte, vielerorts zusammen. Der Aufstieg der SVP begann, bisweilen kontert von SP und GPS. Seither ist die Volatilität bei Wahlen in der Schweiz schrittweise gestiegen, zuerst bei National-, dann auch bei Ständeratswahlen.
Die Veränderungen der letzten Jahre waren nicht beliebig. Zuerst prägte die Polarisierung des Parteiensystems die Entwicklung (1995 bis 2003), dann verlangsamte sich diese am linken Pol, sodass man von einem eigentlichen Rechtsruck sprechen konnte (2007). Auch der wurde 2011 gebrochen; es entstand der Trend zu neuen Mitte, der gemäss letztem Wahlbarometer anhält. Mit anderen Worten: Die jüngste Generation der schweizerischen Parteien setzt den relevanten Trend, und sie bedrängt damit Parteien, die vor ihnen entstanden sind.

Extrapolation kantonaler Trends
In den 90er Jahren wuchs die Hoffnung, man könne Schweizer Parlamentswahlen aufgrund der kantonalen Trends sicher vorhersehen. Klar ist, dass die Parteistärken national und kantonal unterschiedlich sind. Denn die Polarisierung, die Mitte der 90er Jahre einsetzte, war auf Bundesebene immer stärker als auf subnationaler. So sind FDP und CVP in den Kantonen stärker als im Bund, während für SVP, beschränkt auch für SP das Gegenteil gilt. Immerhin, die Entwicklungen auf nationaler und kantonaler Ebene verlaufen ähnlich, womit der Trend in den Kantonen zwischen zwei eidgenössischen Wahlen eine brauchbare Annäherung an Prognosen liefert.
Das Problem dieses Prognoseverfahren bleibt aber, dass sie die spezifischen Mobilisierungswirkungen nationaler Wahlkämpfe, aber auch die Trends im Wechselwählen zwischen Parteien und Parteilagern zu unterschätzen. So unterschätzte man die CVP 207 auf diesem Weg, und die SVP wurde 2011 überschätzt.
Deshalb müssen weitere Instrumente helfen, diesen Gründen der Veränderung von Parteistärken auf die Spur zu kommen. Umfragen mit Wählerstromanalysen, aber auch Aggregatdaten-Analysen, die Gleiches leisten, wären eine erste Verbesserung. Leider gibt es davon in der Schweiz viel zu wenig, vor allem zu wenig systematische Uebersichten. Für die Forschung ist das aber gut.

Erfahrungen bei den jüngsten Wahlen in den USA und in Deutschland
Die abschliessende Diskussion der Erfahrungen mit Prognosen bei den jüngsten Bundestagswahlen zeigt, dass die Kombination von verschiedenen Instrumenten der Wahlprognose diese verbessert, aber nicht vor Irrtümern schützt. Das Debakel der deutschen FDP sah fast niemand richtig voraus.
Das erfolgreichste Verfahren war die Analyse der Trends von Wahlkreis zu Wahlkreis. Das brachte eine fast perfekte Prognose. Sie erinnert in Vielem an das, was vor Jahresfrist in den USA geschah. Die genauesten Vorhersagen gingen über die Bundesstaaten, berücksichtigen KandidatInnen-Konstellationen, aktuelle Umfragen und langfristige Trends, allenfalls weitere Indikatoren. Nate Silver steht für dieses Vorgehen.

Herausgeforderte Politikwissenschaft
Die klassische Vorgehensweise in der Politikwissenschaft wird damit herausgefordert. Denn diese ist es sich gewohnt, theoretisch begründet vorzugehen, eine angepasste Methodologie zu verwenden, um relevante Daten zu analysieren und zu interpretieren. Doch die besten Prognostiker maximieren den Beitrag der statistischen Verfahren zu Prognosen, und sie verringern jenen der Theorie.

Wir werden das in unseren weiteren Ueberlegungen zur Prognose Schweizer Parlamentswahlen berücksichtigen müssen.

Claude Longchamp