Die nationalkonservative Wende?

Ein neues Phänomen erfasst die politische Kultur der Schweiz. Fakten und Fragen zur viel zitierten nationalkonservativen Wende.

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Doris Leuthard, 2010 Bundespräsidentin, ebnet am Trachtenfest der ländlichen Schweiz den Weg zur Mehrheitsfähigkeit

Die Ausschaffungsinitiative wurde angenommen. Genauso wie die Minaretts-Initiative. Sie haben zur Konfessionalisierung des Politischen geführt. Und zur Aufwertung des Nationalen. Nun ist auch noch die Waffen-Initiative abgelehnt worden. Mit typisch traditionalistischen Begründungen.

All das passt zur konservativen Wende. Davon reden nicht nur Blocher, sein Biograf Somm und Köppel in der Weltwoche. Nein, zwischenzeitlich beschäftigen sich Medienschaffende querbeet, aber auch SozialforscherInnen und Theoretiker des Politischen damit.

Das psychologische Klima der Schweiz, das Demoscope seit 1974 mit vergleichbaren Bevölkerungsbefragungen untersucht, kippte nach 2001. Entwickelte es sich bis dahin stets in Richtung fortschrittlicher, aussenorientierter Werte, stagniert danach die Zustimmung zu Werten wie Extraversion, Hedonismus udn Risikofreude. Seit 2009 gibt es einen eigentlichen Gegentrend fest, hält Roland Huber fest. Heute sei die Mehrheit der Schweizer binnenorientiert, und nur noch gemässigt fortschrittlich.

Aehnliches hält das Identitäts-Barometer, einem Zusatz zum Sorgenbarometer unseres Instituts insbesondere seit 2007 fest. Lukas Golder betont seit längerem, dass die Zuwendung zu Schweizerischem im Steigen begriffen sei. Der Stolz auf die Schweiz nimmt – vor allem rechts, aber nicht nur – praktisch ungebrochen zu. Ansatzpunkte der Identifikation sind dabei nicht mehr nur die politischen Eigenheiten, auch der Erfolg der einheimischen Wirtschaft, der schweizerischen Produkte im Ausland gehört zur neuen Swissness.

“Was sind die Ursachen der Wende?”, fragt die heutige NZZ am Sonntag. Experten seien sich nicht einig. Klarheit herrsche nur darüber, dass Verunsicherungen am Anfang stünden: Nine-eleven, selbstredend, aber auch das Grounding der Swissair zu Beginn des Jahrzehnts, die Finanzmarktkrise, die zu globalen Erschütterungen führten, werden für die zweite Hälfte der ersten Dekade im 21. Jahrhundert angebracht.

In der Schweiz manifestiere sich das am Wandel der Einstellungen zur Personenfreizügigkeit am Augenfälligsten. Anfangs 2009 in einer Volksabstimmung noch bestätigt und erweitert, sind die Folgen der Migration in den Vordergrund gerückt. In Genf sind es die Frontaliers, in Zürich die Deutschen, im Tessin die Italiener. Am Anfang von all dem stehe, dass kaum jemand mehr die schweizerischen Beziehungen zur Europäischen Union verteidigt. Statt vom Wirtschaftsmotor ist nun vom den der Euro-Falle die Rede.

Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler stellt das in einen grösseren Rahmen. “Viele Schweizer sehen, dass sie weltweiten Entwicklungen hilflos ausgeliefert seien. Sie fürchten, dass ihre Schweiz, in der sie sich wohlfühlen, in Gefahr ist. Das macht Angst”, analysiert der emeritierte Zürcher Professor. Hanspeter Kriesi, Politologie-Professor in Zürch, geht weiter. Die SVP habe seit der EWR-Abstimmung die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz hochgehalten, ebenso den Schutz des einheimischen Gewerbes. Zwischenzeitlich sei dies zu populistischen Kampfgegriffen geworden, um Linke und Oeffnungswillige anzugreifen. Andreas Ladner, Politologe in Lausanne, der die Parteien im europäischen Vergleich untersucht, mag rein schweizerische Begründungen nicht; für ihn wandelt sich die Schweiz genauso wie Europa gegenwärtig in Richtung mehr Nationalismus und mehr Protektionismus.

Einen Gedanken, den ich bisher noch nicht hatte, äussert im besagten Artikel Karin Frick, Forschungsleiterin am Rüschlikoner Gottlieb-Duttweiler Institut. “Die gesellschaftliche Liberalisierung, der anarchische Raum des Internets und der technologische Fortschritt brachten Freiheiten mit sich, die viele überforderten.” Als Gegentrend hierzu ensteht die Sehnsucht nach Uebersicht, nach Ordung und nach Autorität.

Uebrigens: So sicher bin ich nicht, dass wir es mit einer effektiven Wende zu tun haben. Klar ist, die Stimmungslage riecht momentan danach. Doch habe wir in den letzten Jahren so oft erfahren, dass diese nicht mehr als zwei, drei Monate anhielten, um dann ins Gegenteil zu kippen.

Oszillierung ist in diesem Zusammenhang mein Lieblinigsbegriff. Denn die Schweiz pendelt seit 1992 zwischen konservierenden und veränderungswilligen Strömungen, mal mehr durch das Linksliberale, mal eher durch das Nationalkonservative gekennzeichnet.

Claude Longchamp