Hochrechnungen zu den eidgenössischen Volksabstimmungen vom 7. März 2010

Am Sonntag ist es soweit: Die nächsten eidgenössischen Volksabstimmungen finden statt. Mit Hochrechnung und Analysen von gfs.bern.

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Wie seit 1992 regelmässig, erstellt das Forschungsinstitut gfs.bern die Hochrechnungen hierzu, und nehmen ich als Gesamtverantwortlicher hierfür die Analyse der Ergebnisse für Radio und Fernsehen der SRG-Medien statt.

Es werden alle drei Vorlagen hochgerechnet, namentlich sind dies:

– die Forschung am Menschen
– die Tierschutzanwalt-Initiative
– Mindestumwandlungssatz beim BVG

Der vorgesehene Ablauf ist wie folgt:

– 12:30 Uhr: Erste Trends (qualitative Aussagen ohne Zahlen: Ja-Trend, Nein-Trend, keine Trendaussagen möglich) für alle drei Vorlagen
– 13:00 oder 13:30 Uhr: die neue, beschleunigte Hochrechnung (mit einer Fehlerquote +/- 3%)
– 14:00 Uhr bekannte Hochrechnung (mit einer Fehlerquote +/- 2%)

Ab 15:00 Uhr gibt es Analysen zur Stimmbeteiligung und Kampagnen sowie zu den Hauptergebnisse des Abstimmungssonntags. Im Zentrum stehen wird dabei die Würdigung der Volksentscheidung zum BVG.

Ferner liefern wir am späten Nachmittag kleine Analysen zuden Wahlen in den Kanton und grossen Städten.

Um 18:40 gibt es dann den Schlusskommentar zum Abstimmungs- und Wahltag von gfs.bern-Institutsleiter Claude Longchamp.

Wer führt Kampagnen: politische Akteure oder Massenmedien?

Gute politische Akteure bereiten Kampagnen mediengeeignet vor, sodass sie in zentralen Argumentationsfelder Erfolg haben und von der Gegenseite aufgenommen werden müssen. Das ist die wichtigste Beobachtung der Politikwissenschafterin Regula Hänggli in ihre Studie, die sie heute in Genf vorgestellt hat.

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Zu den interessanten Präsentationen, die ich in der Arbeitsgruppe “Comportement politique” an der diesjährigen Veranstaltung der Schweizerischen Vereinigung für politische Wissenschaft (SVPW) erfahren habe, gehört die von Regula Hänggli. Die junge Forscherin an der Universität Zürich beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen politischen Akteuren und Massenmedien. Vor allem interessiert sie sich für die Frage, was das mediale frame building beeinflusst. Vereinfacht ausgedrückt untersuchte sie dafür die Entstehung und Veränderung von Argumentationstypen in Schweizer Abstimmungskämpfen. Drei Kampagnen dienten ihre als Ausgangsbasis.

Vier Faktoren des Framebuildings konnte Hänggli identifizieren:

erstens den politischen Akteur, der in einer Kampagne den Lead einnimmt,
zweitens dessen Kampagnenmacht,
drittens die Häufigkeit des Inputs von Frames und
viertens den Multiplikatoreffekt durch die Kommunikation.

Die Forscherin widerspricht Vorstellungen, wonach die Medien heute eine hohe Eigenleistung in der Bildung von Argumentationsstrategie erbringen. Im Wesentlichen dominiert nicht ihre Logik, sondern die der Politik. Jedenfalls in der Schweiz scheint die Aufgabe von Kampagnenakteuren akzeptiert zu sein. Hänggli konnte aber zeigen, dass die Medien deren Absichten filtern und abschwächen, – mit zwei Ausnahmen: Missbräuche und Massenphänomene sind mediale Stereotype die noch häufiger zur Sprache gebracht werden, als dies Akteure tun.

Den wichtigsten Multiplikatoreffekt in Kampangen haben Bundesräte. Themen, die sie in der Oeffentlichkeit einnehmen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, flächendeckend verbreitet zu werden. Das gilt selbst oder gerade dann, wenn BundesrätInnen nur wenige Male in einer Kampagne äussern.

In der Vorbereitung von Kampagnen mit Blick auf ihre Medieneignung sind wenige Akteure von Belang. Sie sind wirkungsvoll, wenn sie sich durch Kampagnenmächtigkeit auszeichnen, das heisst durch langfristige Beziehungen und Formung von Botachaften das geeignete Medienframing und -placeing betreiben.

Die Studie war vorbildlich eingeschränkt, und kommt zu brauchbaren Schlüssen. Vielleicht könnte man sagen, wäre die Analyse für eine Medienwissenschafterin ok, für eine Politikwissenschafterin noch etwas abgekürzt. Denn diese Disziplin interessiert sich in der Regel für die Kampagnen vor allem mit Blick auf die Entscheidungen, die am Ende eines Abstimmungskampfes gefällt wird. Ueberraschend thematisierte die Forscherin das indessen nicht, oder vielleicht noch nicht.

Eine Beobachtung von Hänggli ist mir besonders hängen geblieben: Sie geht davon aus, dass es in Kampagnen nur wenige klar unterscheidbare Frames gibt, die eine der beiden Seiten mit solcher Eindeutigkeit definiert, dass die Gegenseite nicht immer, aber immer wieder reagieren muss. Das spricht für eine bschränkt dialogische Struktur von Kampagnen – anders als es theoretische Arbeiten postulieren. Denn sie empfehlen nicht selten, sich nie auf die Felder der anderen Seite einzulassen. Ganz offensichtlich findet in der Realität aber genau das Gegenteil statt.

Links/Rechts-Polarisierung, Parteibindungen und Werthaltungen bei Wahlen und Abstimmungen

Zu den wichtigen Veränderungen der Schweizer Politik der Gegenwart zählt ihre parteipolitische Polarisierung. Wer sich klar positioniert und das im Alltag zu kommunizieren weiss, gewinnt Wahlen, und der scharfe Gegensatz prägt auch eine wachsende Zahl von Sachentscheidungen.

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Genau dem ist Thomas Milic , heute Lehrbeauftragter für politische Psychologie an der Uni Zürich, in seiner Dissertation jüngst nachgegangen. Entwickelt hat er seine Fragestellung aus der internationalen Literatur. Ueberprüft hat er sie aufgrund von Schweizer Wahl- und Abstimmungsnachbefragungen.

Die zeitgenössische Veränderung
Lange herrschte in der Politikwissenschaft zur Schweiz die sog. Surrogatsthese vor. Demnach seien Positionierungen der BürgerInnen auf der Links/Rechts-Achse nur ein Ersatz für ihre Parteiidentifikation. Wer mit der SP sympathisiert, ist links; bei Verbindungen mit der CVP, ist man in der Mitte, und wer hinter der SVP steht, versteht sich als Rechte(r). Wer keiner Partei nahesteht, verortet sich mit Vorliebe im Zentrum. Dieser Vorstellung widersprochen haben vor allem WertforscherInnen: Mit der Entwicklung neuer Werte wie Oekologie oder Selbstverwirklichung verschwinde die Bedeutung der Parteibindung für die Selbstdefinition, argumentieren sie bis heute unverändert.

Milic gibt eine differenzierte Antwort: Typisch für die ideologischen Teile der Wählerschaft sind Parteibindung und Wertemuster, die zu einer eindeutigen Position auf der Links/Rechts-Achse führen. Bei den Un- oder Ueberparteilichen findet sich ähnliches, gibt es aber keine feste Parteibindungen. Und bei den Unpolitischen (mit oder ohne Parteibindungen) entsteht kaum eine ausgeprägte und konsistente Verteilung auf der Links/Rechts-Achse.

Die Surrogatsthese, folgert Milic, trifft bei BürgerInnen ohne ausgeprägtes politisches Interesse zu, während die These des Wertedeterminismus bei den Unparteilichen Gültigkeit beanspruchen kann. Miteinander kombiniert erscheinen beide These bei den ideologischen WählerInnen erfüllt.

Die Konsequenzen bei Wahlen und Abstimmungen

Die weltanschauliche Polarisierung zwischen den Parteien spricht die IdeologInnen unter den Wählenden an, die thematische Auseinandersetzung ist für die Ueberparteilichen wichtig, während die Unpolitischen wohl am meisten auf die Aktualität reagieren.

Komplexer sind die Folgen der Links/Rechts-Positionierung bei Abstimmungen. Hier bringt Milic nicht Ideologien, sondern Heuristiken ins Spiel – Entscheidungsroutinen, die mehr als nur einmal angewendet werden. Typisch hierfür sieht die Position zum EU-Beitritt, die in zahlreichen weiteren Themen Antworten gibt. Vertrautheit mit der Fragestellung einerseits, die Konflikthaftigkeit bei Auftauchen entsprechender Probleme sieht er für die Entscheidungen wichtiger an als Parteiparolen. Auf diese greift man vor allem dann zurück, wenn ein Thema unbekannt oder unwichtig ist.

Bei bekannten Themen folgt man nach Milic nicht blind einer Partei, orientiert sich aber an ihnen. Der Forscher vermutet, dass sich die BürgerInnen jenen Argumenten zuwenden, die von ihrer Partei kommen und die ihre eigenen Werthaltungen stützen. Kurz streift er auch die Bedeutung neuer Reizwörter, zu denen man “Privatisierung/Liberalisierung”, “Ueberreglementierung/Bevormundung” und “Verschwendung/Steuerlast” zählen kann. Sie dürften insbesondere für das wenig politische Publikum entscheidend sein.

Würdigungen
Die Links/Rechts-Dimension, eine Folge der Erschütterungen in europäischen Parteiensystem nach der Russischen Revolution, ist nach Milic als überlebensfähig, weil sie politische Komplexität reduziert. Doch ist sie periodischen Transformationen unterworfen, sodass die Inhalte ändern. Diese Veränderungen sind wichtiger als die Dimension selber. Neueinbindungen entstehen über neu auftretende Themen, die man mit Parteien in Verbindung bringt, und für bestimmte (Werte)Konflikte typisch sind.

Mit Grund, fügt er an: Denn links und rechts fehlt in der Schweiz letztlich das Affektive, dass Personen, Parteien und Werten eigen ist, weshalb sie mehr zu politischen Entscheidungfindung beitragen als Worthülsen.

Ich staunte, als ich mich das erste Mal mit den Thesen von Thomas Milic auseinandersetzte. “Ideologie im Stimmverhalten” hielt ich für überzeichnet. Gut fünf Jahre danach habe ich meine Meinung geändert, denn der Zürcher Politikwissenschafter hat so frühzeitig ein Thema aufgegriffen, das sich in der politischen Realität der Schweiz wandelt, âber weder von der Wahl- noch in der Abstimmungsforschung der Schweiz bisher systematisch untersucht worden ist. Mehr davon, vor allem für die Entscheidungsmechanismen der Unpolitischen angesichts der Offensive des Nationalkonservatismus beispielsweise wäre wünschenswert.

“Ja. Nein. Schweiz.”

Knapper geht ein Titel nicht. Vor allem nicht, wenn es sich um eine Doktorarbeit handelt. Doch in diesem Fall macht das Plakative Sinn. Denn die Zürcher Dissertation von Sascha Demarmels handelt von “Schweizer Abstimmungsplakaten im 20. Jahrhundert”. Ihr Thema sind Emotionen in der Massenkommunikation.

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Der Anlass
Das politische Plakat ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Bei Schweizer Volksabstimmungen tauchte es nachweislich während der national(istisch)en Begeisterung im Jahre 1898 erstmals auf. Seine erste Blüte erlebte es mit dem Ersten Weltkrieg und dem Aufbrechen des sozialen Gegensatzes zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft.

Quantitativen Höhepunkte des politischen Plakatierens gibt es viele. In den 20er, 30er, 50er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Und heute. Das “schnelle Denken” (Daniel Kahneman), das gerade die politische Kommunikation der Gegenwart fördert, hat zu einem Revival des Plakates im Abstimmungskämpfen geführt. Konkret: Nie in der Schweizer Politgeschichte gab es so viele Abstimmungsplakate wie seit 2003.

Grund genug, sich wissenschaftich damit zu beschäftigen.

Die Studie
Sascha Demarmels, eine Kolleginnen an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft, hat es als Erste eine Uebersicht zur politischen Plakatkommunikation gewagt. 2004 hat sie mit ihrer Doktorarbeit begonnen; in diesem Jahr ist sie in Buchform erschienen. Entstanden ist so eine knapp gehaltene Geschichte des politischen Plakates, die ein zentrales Thema verfolgt: die Emotionalisierung politischer Diskurse während Abstimmungskämpfen.

Auf Plakaten vermutet Sascha Demarmels Reizwirkungen auf drei Ebenen:

erstens auf der materiellen Ebene, wobei es um Farben und Schriften auf dem Plakat geht,
zweitens auf der kognitiven Ebene, wobei Ueberraschungen oder Widersprüche Aufmerksamkeit sichern soll, und
drittens auf der emotinalen Ebene, die kulturübergreifend, kulturspezifisch, gruppenspezifisch oder individuell erzeugt werden, um die Meinungen zu beeinflussen.

Letzteres ist am interessantesten, denn hier geht es beispielsweise um Schlüsselreize bei besonders plakatierbaren Themen wie “Kinder”, “Geld”, “Freiheit” und “Gerechtigkeit”. Es zählen aber auch Archetypen der politischen Kommunikation wie “Hintergangene”, “Uebermächtige”, “Gute und Böse” hierzu, die dank radikalen Vereinfachungen in Bild und Text eine klare Zuordnung im politischen Kampf ermöglichen. Die Emotionalisierungsstrategien beziehen sich auf den Raum und die Landschaften, die Mythen und Geschichten, und auf die eigene Gesellschaft. Denn sie schaffen gerade bei Volksabstimmungen Identifikationsmöglichkeiten, um kollektive und individuelle Adressaten wie “Arbeiter”, “Mieter”, aber auch “Schweizer” ansprechen zu können.

Die fast 1000 Plakate, welche Sascha Demarmels für ihre Doktorarbeit untersucht hat, erschliessen den Interessierte die ganze Palette der Plakatkultur in der Schweiz. Materielle Emotionalisierungen finden sich in 80 Prozent der Fälle; sie konstituieren die Kommunikationssorte quasi. Gut belegt sind Emotionalisierungen auf sozialer Ebene (in drei Viertel der Fälle, vor allem mittels Verunsicherung und Angst) resp. mittels Schlüsselreizen (in zwei Drittel der Fälle).

Auch wenn sie nicht einfach zu quantifizieren sind, die Autorin hält die kulturspezifischen Strategien der Emotionalisierung für die wichtigsten, insbesondere, wenn es um Mythen geht – klassischen wie “Tell”, “Gessler” und “Helvetia”, aber auch neue wie “Unabhängigkeit”, “Neutralität” und “Steuerparadies”.

Der Schluss
Drei Paradigmen von Botschaften bestimmen gemäss Studie die übergeordneten Themen, die mittels Plakaten in der Schweiz effektvoll vermittelt werden können: nationale Werte, ihre Kritik und der Zusammenhalt der Schweiz in der komplexen Welt. Das macht das Plakat seit mehr als hundert Jahren mit welchselnden Inhalten für die emotionale Kommunikation besonders attraktiv.

Diesem Hauptergebnis kann man ohne Zweifel zustimmen, selbst wenn man unterwegs Fragezeichen in der Durchführung des empirischen Teils der Arbeit hat. Das Verdienst der linguistisch ausgerichteten Studie ist es, das Plakat erstmals systematisch als Mittel der Emotionalisierung der Bürgerschaft untersucht zu haben.

Denn das ist gerade heute wieder von Belang, weshalb sich auch PolitikwissenschafterInnen ein Stück davon abschneiden und sich dem Thema schnell und gründlich beschäftigen sollten.

Claude Longchamp

Befürworter der Minarett-Initiative waren besonders mobilisiert.

Viel spekuliert wurde dieser Tage über das Ergebnis zur Minarett-Initiative – und über die Zusammensetzung der beiden Lager. Peter Moser, Politanalyst des Statistischen Amtes des Kantons Zürich, hat nachgerechnet und bringt seine Ergebnisse auf den Punkt..

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Der Kanton Zürich stimmte bei der Minarett-Initiative ähnlich wie die Schweiz: 52 Prozent Ja zur Minarett-Initiative bei einer überdurchschnittlichen Beteiligung von 55 Prozent. Vier bemerkenswerte Ergebnisse fördert die heute veröffentlichte Studie auf Gemeindebasis zu Tage:

Erstens “Anteil Muslime”: Der Zusammenhang zwischen dem Anteil Muslime in einer Gemeinde und der Zustimmung zur Minarett-Initiative ist minimal.
Zweitens: “Weltanschauungen”: Die Zustimmung mit nationalkonservativer Grundhaltung war weit überdurchschnittlich; verworfen wurde sie in Kommunen mit progressiven Werthaltungen, seien sie sozial oder liberal ausgerichtet.
Drittens “Schicht”: In Gemeinden mit hohem Status war man gegen die Initiative, bei tiefem Status, kombiniert mit traditioneller Lebensweise, jedoch dafür. Abgelehnt wurde sie aber beim tiefen Status und individualisierte Lebensweise, wie es in den grossen Städte vorkommt.
Und viertens “Mobilisierung”: Die Mobilisierung war besonders in Gemeinden mit einem hohen Ja-Anteil zur Minarett-Initiative überdurchschnittlich.

Was heisst das zusammenhängend? Mobilisiert wurden vor allem die BefürworterInnen der Minarett-Initiative. Entscheidend hierfür war die weltanschauliche Ausrichtung der Wählerschaft in einer Gemeinde. Verstärkt wurde sie durch die Schicht. Der Nationalkonservatismus kennzeichnet das Ja, zudem ist es bei unterdurchschnittlichem sozialen Status verbreitet. Ob es in der Gemeinde Muslime hat oder nicht, erklärt das Stimmverhalten der Zellen der Zürcher Lokaldemokratien dagegen kaum.

Das ist keinesfalls als Relativierung des Volksentscheides zu werten. Es zeigt aber auch, wie der Mechanismus lief: Da Ja ist ein Protestvotum, das sich aus der Diskussion im Wahlkampf ergab. Es zeigt die andere Seite des Volksempfindes in der heutigen Situation. Das zeigte auch der Wahlkampf in den Zürcher Regierungsrat. Am Anfang brachte Daniel Jositsch mit seiner klaren Position gegen die Manarett-Initiative seinen zögerlichen Widersacher arg in die Bedrouille. Am Ende aber wurde Ernst Stocker, der Kandidat der SVP, von 55 Prozent der Teilnehmenden ZürcherInnen in die Kantonsregierung gewählt – mit nur unwesentlich mehr Ja-Stimmen als die Minarett-Initiative erreicht hat.

Stimmungsbarometer am Vorabend der Volksentscheidungen.

Morgen, 29. November 2009, entscheidet die Schweiz in drei Volksabstimmungen über die Spezialfinanzierung des Luftverkehrs, das Verbot von Kriegsmaterialausfuhr und resp. des Baus von Minaretten. Die österreichische Internetplattform Wahlfieber sagt, was geschieht. Mehr weiss man morgen zwischen 13 und 14 Uhr, wenn die Hochrechnungen vorliegen.

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Trends in den Erwartungshaltungen der Börsianer zur Finanzierung Luftverkehr, Verbot Kriegsmaterialausfuhr und Bauverbot von Minaretten.

“Ja, Nein, Nein”, prognostizieren die Wahlbörsen von Wahlfieber. Gerechnet wir mit einer Zustimmung von 64 Prozent zur Luftverkehrsvorlage der Behörden. Derweil nehmen die Trader an, beide Volksinitiativen scheitern. Bei der Minarett-Initiative gehen sie von 56, bei der Kriegsmaterialausfuhr von 58 Prozent Ablehnung aus.

Aktuelle Umfragen sind nicht verfügbar. Anders als Wahlbörsen unterliegen sie dem Reglement der Schweizer Institute für Markt- und Sozialforschung, das auf Wunsch der Politik vorsieht, die letzten 10 Tage vor einer Volksabstimmung nichts Neues mehr zu veröffentlichen. Damit sind die letzten Umfragen von Abstimmungen in der Schweiz zwischen mindestens zwei Wochen alt, wenn die letzte Abstimmungsurne geschlossen wird.

Die Händler via Internet kümmern solche Selbsteinschränkungen der Umfrageinstitute wenig. Sie setzen ihr Geld auf den erwarteten Ausgang. Sie bekommen ihre Geld vermehrt zurück, wenn sie den richtigen Wert vorhersehen. Anders als bei üblichen wetten, können sie ihre Meinung ändern, falls sie unterwegs einen anderen Ausgang prognostizieren. Wenn sie also die Zustimmung an der Börse unterbewertet finden, können sie Aktien kaufen resp. solche der Ablehnung verkaufen. Damit spiegelt der gemeinsame Aktienwert die aggregierten Erwartungen, die aus den jeweils individuellen Beobachtungen stammen.

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Wer gewinnt bei den Ersatzwahlen in den Zürcher Regierungsrat? – Ernst Stocker, entschieden die Börsianer schon sehr früh und sehr eindeutig.

Sicher ist, dass solche Informationssysteme keine Stimmabsichten messen, aber Erwartungshaltungen wiedergeben. Fehlerfrei ist das nicht. Denn die Ergebnisse hängen von der Intensität des Handels ab, was wiederum durch die Aufmerksamkeit und Ereignisse in der Sache bestimmt wird. Das belegt die Wahlfieber-Kurve zur Ersatzwahl in den Zürcher Regierungsrat. Hierzu gab es bei Wahlfieber nur kurz Spannung, dann entschieden sich die Händler schnell und konstant für Ernst Stocker.

Claude Longchamp

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Börsianer wetten auf ein Nein zur Minarett-Initiative.

“56 Prozent Nein, 44 Prozent Ja” lautet die gegenwärtige Wette der Börsianer zur Minarett-Initiative auf der Plattform “Wahlfieber”.

Nebst Umfragen zum Stand der Meinungsbildung haben sich Börsen als Instrumente der Abstimmungsforschung in der Schweiz etabliert. Wahlfieber, eine in Oesterreich betriebene Plattform mit schweizerischen Themen, gehört dazu.

Verlauf und aktueller Stand der Erwartungen an der Börse “Wahlfieber” zur Minarett-Abstimmung

Demnach rechneten die Börsianer zu jedem Zeitpunkt mit einem Nein zur “Minarett-Initiative“. Der aktuelle Wert der gegnerischen Aktie liegt bei rund 56, jeder der BefürworterInnen bei ungefähr 44. Das kann man auch als Prozentwerte der momentanen Prognose nehmen.

Wahlbörsen haben gegenüber Umfragen Nachteile: Sie erlauben es nicht, die Frage zu beantworten, wer warum so stimmen will. Denn sie geben keine Auskünfte über individuelle Entscheidungen. Sie eignen sich nur, um kollektive Entscheidungen vorweg nehmen zu können.

Ihr Vorteil ist es, der Logik zu folgen, die aus der “Weisheit der Vielen” entsteht. Namentlich Politökonomen halten das für die rationalste Form der Informationsverarbeitung. Einzelne, so ihre Kritik, bleiben in ihren Einschätzungen zum Ausgang einer Entscheidung immer unsicher und subjektiv, sodass nur ein Markt diese Annahmen systematisieren und damit objektivieren kann.

Der Verlauf der Einschätzung durch den Markt zur Minarett-Initiative zeigt die typischen Schwankungen, die aus dem Tagesgeschehen hergeleitet werden können. Börsen sind dann unbrauchbar, wenn sich zu wenige Händler beteiligen.

Genaueres weiss man am Abstimmungssonntag!

Claude Longchamp

Minarett-Initiative: Mehrheiten der gewählten und kandidierenden PolitikerInnen dagegen.

Gemäss smartvote sprachen sich 2007 71 Prozent der NationalratskandidatInnen für ein Minarett-Verbot aus, 29 dagegen. In der Schlussabstimmung unter den Gewählten NationalrätInnen lehnten 132 das Begehren ab, und es waren 51 dafür. Das entspricht einem Nein-Anteil von 72 Prozent.


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Zwischen den Parteien gab es in der KandidatInnen-Umfrage klare Gegensätze. 99 Prozent der SP-KandidatInnen und 97 Prozent der Grünen waren dagegen. Doch auch in der bürgerlichen Mitte überwog die Ablehnung. 83 Prozent der FDP-KandidatInnen und 82 Prozent jener der CVP gaben an, gegen die Vorlage zu sein; bei der EVP waren es 78 Prozent. Auf der rechten Seite des Parteienspektrums zeichnete sich dagegen eine deutliche Zustimmung zum Minarettverbot ab. Die SVP-Kandidaten stimmten der Initiative mit 89 Prozent zu. Mit 96 Prozent Zustimmung klar für die Minarett-Initiative waren auch die KandidatInnen der Mitinitiantin EDU. Von den übrigen Kleinparteien waren die BewerberInnen der Grünliberalen mehrheitlich dagegen, jene der SD und Lega mehrheitlich dafür.

Unter den weiblichen Kandidierenden lehnten 79 Prozent die Minarett-Initiative ab, während der Anteil bei den Männern geringere 69 Prozent betrug. Kandiderende im Rentenalter waren am deutlichsten dagegen, JungpolitikerInnen unter 35 Jahren am wenigsten deutlich auf der Nein-Seite. Die KandidatInnen aus der französischsprachigen Schweiz lehnten die Initiative mit 75 Prozent ab, jene aus der deutschsprachigen Schweiz zu 70 Prozent. In der italienischsprachigen Schweiz waren 67 Prozent gegen die Minarettverbots-Initiative.

Damit war unter den PolitikerInnen die Parteizugehörigkeit das entscheidende Mermal unter den PolitikerInnen. Das zeigte sich auch im Parlament, wo die Vorlage die Ratsrechte von der Mehrheit separierte: 51 NationalrätInnen waren dafür, 132 dagegen. Das entspricht einem Nein-Anteil von 72 Prozent. Im Ständerat war es übrigens nicht anders: 39 KantonsvertreterInnen votierten gegen ein Minarett-Verbot, 3 dafür. Das entpricht eine Ablehnung von 93 Prozent.

Claude Longchamp

Lehren aus kantonalen Abstimmungen für die Minarett-Initiative.

In der NZZ vom Samstag veröffentlichte Adrian Vatter einen Artikel zur Analyse kantonaler Abstimmungen über Minderheitsrechte, die Schlüsse für die Volksabstimmung über die Minarett-Initiative zulässt. Hier eine Kurzfassung der Hypothese aus dem laufenden NF-Projekt.

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Was überwiegt: Die “kulturelle Distanz zu bedrohlichen Muslimen” (Vordergrund) oder “Schutz vor Rechtsabbau, der den Religionsfrieden stört” (Hintergrund)?

Adrian Vatter, seit wenigen Wochen Professor für Politikwissenschaft und Inhaber des Lehrstuhls für Schweizer Politik an der Universtität Bern, untersucht in einem Nationalfonds-Projekt die Volksabstimmungen der Gegenwart, die sich mit Gleichstellung von religiösen Minderheiten beschäftigen. Da das auf eidgenössischer Ebene kaum mehr ein Thema war, konzentriert er sich auf die kantonalen Volksentscheidungen. 15 hat er im letzten halben Jahrhundert identifiziert.

12 davon wurde angenommen. Sie betreffen alle die Gleichstellung christlicher oder jüdischer Glaubensgemeinschaften. Abgelehnt wurden aber die drei Vorlagen, die entweder die AusländerInnen mit den SchweizerInnen im Kirchenrecht eines Kantons gleichstellen oder aber explizit die Stellung der muslimische Minderheit in den Kantonen Zürich oder Bern verbessern wollten.

Aus der Analyse der kantonalen Abstimmungsergebnisse zur 200 Vorlagen, die Minderheiten jedweder Art beinhalteten, leitet Vatter zwei Folgerungen ab, die auch auf Entscheidungen mit religiösem Inhalt angewendet werden können: Vorlagen scheitern, wenn “erstens ein Ausbau von Minderheitsrechten angestrebt wird, und zweitens dieser Ausbau gemäss der öffentlichen Meinungschlecht integrierte Gruppen betrifft.”

Was folgt daraus für die Volksabstimmung über die Minarett-Initiative? Vatter lässt das Verdikt gelten, Muslime seinen in der Schweiz eine kulturelle Fremdgruppe. Doch gehe es nicht um einen Ausbau von Rechten für sie, vielmehr um einen Abbau bisheriger Rechtsstandards.

Das Ausgang der Abstimmung hängt seiner Meinung nach stark davon ab, was mehr gewichtet wird: die mangelnde Integration oder die Verringerung von Rechten der Minderheit. Die VOX-Analyse, die erstmals unter der Leitung des neuen Berner Professors entsteht, wird Anhaltspunkte geben, ob hier eine neue und hinreichende Hypothese vorliegt, die uns hilft, den Umgang der Stimmenden mit Minderheiten zu erklären – und inskünftig auch vorherzusehen.

Claude Longchamp

Halbzeitbilanz im Nationalrat: Wer steht wo, und wer kann’s mit wem?

Ein intensiver Tag liegt hinter mir. Zahlreiche Gespräche wären es wert, reflektiert zu werden. Ein Beispiel hierfür greife ich gerne heraus: das zur Position der Parteien im Nationalrat nach Politikbereichen.

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Die Grafik zeigt, wir die Parteien im Nationalrat stimmen, und welche Konfliktprofile dabei typisch sind (quelle: soz/sotomo,eigene Darstellung)

Die “Sonntagszeitung” brachte gestern eine grosse Auswertung der Parteipositionen in Sachfragen. Nicht die WählerInnen waren massgeblich für die Rangierungen, auch nicht die Programme. Vielmehr hat Politgeograph Michael Herrmann wie scon 2005 und 2008 die Namensabstimmungen im Nationalrat verwendet, um die Parteien zu charakterisieren. Gut 400 Entscheidungen in der Volksvertretung hat er verwendet und sie in den 8 üblichen Politikfeldern verortet, die er zur Strukturierung des politischen Geschehens entwickelt hat. Doch, so fragt man sich beim Lesen, gibt es über die Daten hinaus auch eine sinnvolle Synthese?

Ein Gespräch mit einem Spitzenfunktionär einer Regierungspartei kam schnell zur Sache. Es gefiel die Aufmachung und die Uebersicht, die so entsteht. Man habe es umgehend verarbeitet, und man werde es in den intenen Planungen für die kommenden Wahlen verwenden.

Denn die Uebersicht macht klar, welche Partei in welche Politikfelder mit wem resp. gegen wen antritt.

Wenn die Fakten damit klar sind, gehen die Interpretationen doch auseinander. Die Sonntagszeitung suggerierte, dass ein SVP-FDP-Bündnis generell im Kommen sei. Das mag für die Finanzpolitik stimmen, und so kann die bürgerlichen Mitte unter Druck gesetzt werden. Es gilt wohl auch für die Ablehnung des starken Sozialstaaten und neuerdings auch für den Kampf gegen mehr Umweltschutz, wo die SP und Grüne isoliert wirken.

Ganz sicher trifft es nicht auf die Aussenpolitik zu, und neu auch nicht mehr auf die Ausländerfragen. Denn hier ist die SVP isoliert. Tendenziell gilt das auch, wenn sie sich gegen gesellschaftliche Liberalisierung stellt.

In Fragen der wirtschaftlichen Liberaliserung und sogar bei der Sicherheitspolitik gilt dar ein drittes Muster. Das Zentrum im Nationalrat sieht sich bisweilen zwei Polen gegenüber, wobei Grüne, beschränkt auch SP und SVP ihre Widersacher sind.

So sind wir uns – mit Nüancen – schnell einig. Im Parlament hat es drei Arten von Koalitionen: Mitte-Links ist die seltenste und hat an Einfluss verloren, Mitte-Rechts kommt häufiger vor, ist aber nicht dominant, und am häufigsten und am erfolgreichsten sind Allianzen aus FDP, CVP und BDP. Im Ständerat, der in der sonntägliochen Uebersicht fehlte, sind sie klar in der Mehrheit, und im Nationalrat reicht eine Minderheit von rechts oder links, um sich – je nach Themenbereich – durchzusetzen.

Claude Longchamp