Ab- und Aufbau von Parteibindungen.

Die sechste Zürcher Vorlesung zur Wahlforschung behandelte die Dealignment/Realignment-Perspektive in der Analyse von Parteien. Ich halte das für den besten Ansatz, um mittelfristige Veränderungen in den Voraussetzungen von Wahlergebnissen zu verstehen.

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Bei aller Kritik, die das sozialpsychologische Konzept der Parteiidentifikation zwischenzeitlich erfahren hat: Die “emotionalen Mitgliedschaft” in Parteien bleibt eine entscheidende Verhaltensgrösse bei Wahlen. Sie ist aber weniger konstant, als man lange meinte. Und sie ist nicht die einzige individuelle Entscheidungsgrösse.

Dealignment: Abbau von Parteibindungen
Zahlreiche Studien vor allem von Russel Dalton, der Messungen der Verbreitung von Parteiidentifikation länderübegreifend verglichen hat, dass diese insgesamt zurückgehen. Er nennt das dealignment, zu Deutsch Erosion von Parteibindungen. Immer mehr BürgerInnen haben keine Parteibindung mehr, weil sie auch ohne solche politisieren können und wollen, oder weil sie sich für (Parteien)Politik nicht interessieren. Extrapolitiert man das, kommt man zum Schluss, dass sich eine Politik ohne Parteien etablieren wird.

Realignment: Aufbau von Parteibindungen
Dem muss man jedoch die dealignment-Perspektive, die der Neueinbindung gegenüber halten. Diese Neueinbindung kann taktischer Natur sein; sie kann sich in kritischen Wahlen äussern oder durch Wahlrechtsänderungen ausgelöst werden. Aus meiner Sicht entscheidend ist aber eine vierte Begründung: Die Neueinbindung von Menschen durch mittelfristige Prozesse wie die Verarbeitung von neuen Konflikten über eine Wahl hinaus.

Bei ErstwählerInnen ist das selbstredend. Der Aufbau von Parteibindungen bei Frauen kommt hinzu. Schliesslich weiss man, dass sich ausgehend von höheren Bildungsschichten neue Muster im Verhältnis von BürgerInnen und Parteien zeigen.

Das Beispiel Schweiz
Das Beispiel der Schweiz ist typisch für einen Realignment-Zyklus über eine Wahl hinaus. Zwar sank der Anteil parteigebundener Menschen grob gesprochen zwischen 1980 und 2000 von knapp 50-60 Prozent auf rund 30 Prozent. Seither nehmen die Anteile Parteigebundener aber wieder zu, sodass wir heute wieder annähernd gleich viele Parteibindungen kennen wie vor 30 Jahren.

Allerdings sind die neuen Parteienbindungen nicht die alten. Sie sind rund um die Verarbeitung neuer Fragestellungen entstanden. Erwähnt seien der Postmaterialismus oder der Nationalkonservatismus. Profitiert haben davon die SVP einerseits, die Grünen, zeitweise auch die SP anderseits. Neueinbindungen haben zunächst an den Polen stattgefunden. Der Prozess scheint nun an ein Ende zu gelangen. Das eröffnet im Zentrum neue Möglichkeiten, wie sich an der Entstehung neuer Parteien Mitte-Links und Mitte-Rechts zeigt, die neue Partei-Ein-Bindungen repräsentieren.

Wer weiss, vielleicht erfasst diese Entwicklung bald auch die Mitte!

Claude Longchamp