Kurzanalyse zum Stand der Meinungsbildung bei der Waffen-Initaitive

Am 13. Februar 2011 wird gesamtschweizerisch einzig über die Volksinitiative “Für den Schutz gegen Waffengewalt” abgestimmt. Hier wird der Stand der Meinungsbildung aufgrund der ersten von zwei SRG SSR Befragungen analysiert.

Tagesschau vom 14.01.2011

Die InitiantInnen werten ihren Vorstoss als Beleg, dass die politische Linke die veränderten Sicherheitsbedürfnisse der BürgerInnen aufnehmen. Ihre bürgerlichen Widersacher sehen darin nicht mehr als die Fortsetzung linker Politik zur Entwaffnung der Schweiz. Entsprechend klar ist der Abstimmungskampf gestartet, wobei sich starke Plakate zu Schussopfern im familiären Umfeld einerseits, Verrat an Schweizer Traditionen anderseits gegenüberstehen. Umstritten sind wie heute fast schon üblich, welches die Fakten sind. Das Bundesamt für Statistik nennt rückläufige Zahlung für Selbsttötungen mit der .Armeewaffe, während die Ärzte von einem Europarekord an Selbstmorden in der Schweiz sprechen.

Unsere erste von zwei Umfragen legt für die Anfangsphase des Abstimmungskampfes nahe, dass die Ja- gegenüber der Nein-Seite führt. Die momentanen Stimmabsichten lauten 52 zu 39 zugunsten der BefürworterInnen. Zudem zeigt die Erhebung, dass die Meinungsbildung trotz des frühen Zeitpunktes der Datenerhebung schon fortgeschritten ist. Sie ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Dafür stehen 9 Prozent ohne Stimmabsichten und weitere 22 Prozent der teilnahmewilligen BürgerInnen, die sich erst tendenziell festgelegt haben. Zudem steigt mit dem Abstimmungskampf die Beteiligung erfahrungsgemäss um 5 bis 10 Prozentpunkte, sodass Effekte der Mobilisierung auf das Endergebnis nicht ausgeschlossen werden können.

Nimmt man die Erfahrungen mit Vorbefragungen bei Volksinitiativen zu Rate, kann man die denkbaren Szenarien auf ein übliches und ein unübliches reduzieren: auf den Meinungswandel vom Ja ins Nein und auf den konstanten Ja-Anteil. Im ersten Fall ist mit einer mehr oder weniger knappen Ablehnung zur rechnen, im zweiten Fall eine knappe Zustimmung möglich.

Vom Konfliktmuster, das sich in der Repräsentativ-Befragung abzeichnet, kann man mit einem recht klaren Links/Rechts-Gegensatz rechnen. Aktuell bilden die Grünen auf der Ja-, die SVP auf der Nein-Seite die Pole. Das zustimmende Lager wird durch die WählerInnen der SP, mehrheitlich auch durch jene ohne Parteibindung verstärkt, derweil relative Mehrheiten von FDP und CVP die anlehnende Seite ergänzen. Für den weiteren Verlauf der Meinungsbildung entscheidend wird sein, in welche Richtung sich die BürgerInnen ohne eindeutige Parteibindung entwickeln, beschränkt auch, wie geschlossen die bürgerlichen Parteien auf der Nein-Seite stehen werden.

Anders als bei Links/Rechts-Polarisierung wegen materiellen Interessen prallen diesmal eher wertemässige Weltbilder aufeinander. Entsprechend ist sind die sonst üblichen Differenzierungen zwischen der Romandie und dem Rest respektive den Städten und dem Land diesmal wenigstens in der Ausgangslage nicht erheblich. Dafür gibt es zwei andere Phänomene: Belegt ist ein grosser Gegensatz in den vorläufigen Stimmabsichten nach Geschlechtern. Noch unbekannter ist der Sachverhalt, dass die Behörden, welche die Vorlage bekämpfen, durch die BürgerInnen mit ausgesprochenem Regierungsmisstrauen verstärkt werden.

Sowohl die Ja- wie auch die Nein-Seite haben je eine populäre Botschaft und einige mehrheitsfähige oder zielgruppenspezifische Argumente, die sie (noch) vorbringen können. Je zwei Drittel der befragten StimmbürgerInnen finden, dass ein Gewehr im Kleiderschrank eine Gefahr für Familien und Gesellschaft sei respektive auch ein Ja zur Initiative missbräuchliche Verwendungen von Waffen nicht ausschliessen würde. Mehrheiten sind der Auffassung, das Bedrohungsbild der Schweiz habe sich längst soweit verändert, dass keine Gewehr mehr zu Hause Schutz bietet, während auf der anderen Seite ebenso verbreitet begründet werden kann, dass das Gefährlichste an jeder Waffe, die Munition, nicht mehr zu Hause aufbewahrt werde. Etwas umstrittener ist, wie unsere Umfrage zeigt, ob mit einem Ja zur Initiative traditionelle Schweizer Werte aufgegeben würden respektive ob man damit die Selbstmordrate in der Schweiz verringern könnte.

Wenn sich die Zustimmung wie im zweiten Szenario zurückentwickeln sollte, ist mit einem Schwenker der Parteiungebundenen und der bürgerlichen Frauen, namentlich bei der CVP, zu rechnen. Unsere Abklärungen hierzu zeigen, dass es kein optimales Argument gibt, die Summe der Einwände aber entscheidend sein könnte, um Zweifel an einer Zustimmungsneigung zu nähren. Für unausgeschöpft halten wir das meinungsbildende Potenzial der Botschaft, dass es nebst der Ordonanzwaffe zahlreiche andere Waffen gibt, von denen im Alltag eine Bedrohung ausgeht. Die Nein-Seite versucht ganz bewusst mit einem der beiden Plakate darauf anzuspielen, indem wie bei der letzten Volksabstimmung auf Ängste gegenüber ausländisch wirkenden Mitmenschen angespielt wird.

Wie einleitend festgehalten: In der Ausgangslage hat die Ja-Seite einen Vorsprung auf das Nein-Lager. Es ist aber nicht auszuschliessen, dass es zu einem Meinungsumschwung kommt, wie er bei linken Initiativen eigentlich immer beobachtet werden kann, bei dem nicht nur der Nein-Anteil mit dem Abstimmungskampf steigt, sondern auch der Ja-Prozentsatz sinkt. So gesehen ist der Ausgang der Volksabstimmung vom 13. Februar 2011 offen.

Claude Longchamp

Kein wirkliches Wettfieber zur Ausschaffungsinitiative

Die Plattform heisst “Wahlfieber”. Denn über sie wird gewettet. Unter anderem über Politik, auch über Schweizer Volksabstimmungen. Doch bei der Ausschaffungsinitiative will einfach kein Wettfieber aufkommen.

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Wahlbörsen gibt es seit den amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 1988. Sie wurden entwickelt, um zu wissen, was bei der Wahl herauskommt. Sie basieren auf der Hypothese, wonach ein Markt die verfügbaren, aber auf viele Personen verstreuten Informationen, besser sammelt und bewertet als jedes andere Instrument.

Anders als bei Umfragen interessiert die eigene Positionen nicht. Dafür will man wissen, mit welche Ausgang gerechnet wird. Die Trader in Wahlbörsen setzen eigenes Geld auf den von ihnen erwarteten Ausgang. Am Schluss erhalten sie es nur dann zurück, wenn sie auf den richtigen Ausgang der Entscheidung gesetzt haben. Aendern die Händler ihre Ansichten, versuchen sie ihre Aktien zu verkaufen. Finden sie dafür Käufer, entsteht ein Tausch und ein neuer neuer Kurswert.

Die Erfolge der Wahlbörsen lassen sich insgesamt sehen; sie haben sich als spielerische Alternative zu Wahlumfragen etablieren können. Sie haben aber Schwächen. Wenn der Mitteleinsatz hoch ist, bleibt die Zahl der Trader geringer. Wenn er klein ist, schmerzt der Verlust nicht. Man wettet dann unter Umständen nicht auf den erwarteten, sondern erwünschten Ausgang, was das Experiment verfälscht.

Die Wette zur Ausschaffungsinitiative auf der Plattform “Wahlfieber” könnte darunter leiden. Gerade 22 Trader haben sich zu diesem Thema auf Wahlfieber eingeschrieben. Sie pokern seit dem 12. November, also bloss seit 2 Wochen. Transaktionen bleiben selten, und haben auf das Ergebnis grosse Wirkungen. Insgesamt ist man nahe der 50:50 Marke, mit Tagesschwankungen darüber und darunter.

Konkret erwartet man heute Freitag einen minimalsten Ueberhang der Nein-Seite bei der Ausschaffungsinitaitive – ohne dass die erwarteten Ja- und Nein-Anteile zusammen 100 Prozent ergeben würden. Ausser knapp und unklar ziehe ich nicht wirklich einen Schluss daraus!

Claude Longchamp

Von unseren verschiedenen Seelen

Es ist ein höchst bemerkenswerter Artikel, den Hannes Nussbaumer heute im Tages-Anzeiger platziert hat. Selbstredend geht es um die Abstimmungen vom Wochenende, um die politische Kommunikation, und wie deren Macher die Sache sehen.

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Porträtiert wird Alexander Segert, der SVP-Werber und “Vater von Ivan S., dem wir in diesem Abstimmung allgegenwärtig begegnen. Segerts Rezept ist bekannt: “Keep it simple and stupid!” Konstrastiert wird alles durch Aussagen von Guido Weber, dem einzigen Werber, dem es bisher gelungen ist, Segert die Stange zu halten. Sein Rezept: Jeder habe sowohl eine Angst- wie eine Vernunft-Seele in der Brust. Massgeblich sei, welche davon beim Entscheidend dominiere. Die Richtige zu treffen, sei die Aufgabe einer guten Kampagne.

Solche Werberweisheiten hat meines Erachtens von Stephan Dahlem, einem deutschen Kommunikationsforscher, unter dem Titel “Wahlen in der Mediengesellschaft” am treffendsten untersucht. Seine Analyse ist: Bei Wahlen und Abstimmungen unterhalten wir uns sehr wohl über Sachen, die in unserem Alltag real sind: die Probleme in unserem sozialen Umfeld, den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung, das allgemeine politische Klima und die öffentliche Meinung. Doch machen wir bei weitem nicht nur aus der persönlichen Erfahrungen heraus, im Zwiegespräch mit Freunden, Arbeitskollegen und Nachbarn, sondern immer mehr aufgrund von Inhalten der Massenmedien. Damit wird unsere Realitäten durch Darstellungen von Realitäten überlagert, was zu einer Erweiterung, aber auch zu einer Standardisierung dessen führt, was kollektiv ist – oder sein soll.

Dahlem nennt das alles die externen Faktoren der Entscheidungen. Zu den internen gehören eigenen Vorstellungen: vom diskutierten Problem, von den angebotenen Lösungen, von den Folgen der Entscheidung, von den Trägern von Politik und Kommunikation. Bewertet wird dies durch unsere Parteibindungen, durch unsere Werte, unsere Ideologien, ja durch die in unserer Persönlichkeit verankerten Weltbilder. Bei Wahlen sind das unsere Bilder der Parteien und KandidatInnen, bei Abstimmungen der Volksinitiativen oder Gesetzesvorschläge.

Dahlems springender Punkt ist nun der: Zwischen der Vorstellung und der Darstellung vermitteln unsere Wahrnehmungsfilter, die nicht eindeutig sind. In der Fachsprache ist von Konationen, Emotionen und Kognitionen die Rede. Oder einfacher gesagt: von unseren Meinungen, unseren Gefühlen, und von unseren Informationen. Was bei der Entscheidung überwiegt, ist gar nicht so einfach vorherzusehen.

Genau da sind sich Kommunikationswissenschafter Stefan Dahlem und die Werber Weber oder Segert einig: Es ist aber die Aufgabe der Vermittlung von Themen der Entscheidung durch die Kommunikation, das in uns anzusprechen, was am klarsten zu einer Entscheidung führt. Wer das besser macht, löst Meinungsbildungsprozesse aus und hat die Chance, mit seiner Kampagne mehr herauszuholen, als von Beginn weg schon da war.

Oder anderes gesagt: Wir sind immer die Gleichen, die sich entscheiden. Wir sind aber immer Verschiedene, wenn wir in einem bestimmten Fall entscheiden. Oder wie es heute im Tagi steht: “Jeder habe sowohl eine Angst- wie eine Vernunft-Seele in der Brust. Entscheidend für den Abstimmungsausgang sei also, ob beim Ausfüllen des Stimmzettels die Angst oder die Vernunft dominiere. Ein Entscheid, den man mit einer guten Kampagne beeinflussen könne”.

Claude Longchamp

Steuergerechtigkeits-Initiative: Auf welcher Nutzen(oder Schadens)erwartung entscheiden wir?

Die Volksabstimmung vom 28. November 2010 über die Steuergerechtigkeit ist auch aus politikwissenschaftlicher Sicht interessant. Denn sie wirft die Frage auf, aufgrund welcher Präferenzen abgestimmt wird.

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Kanton, mit direkter Betroffenheit resp. mit betroffenen Gemeinden durch die SP-Steuergerechtigkeitsinitiative

In der Theorie des rationalen Wählens alles einfach: Beim Wählen und Abstimmung optimieren die BürgerInnen ihren Nutzen. Entsprechend stimmen sie ab. Sie haben eine eindeutige Präferenz und aufgrund informieren sie sich und fällen sie anhand der verfügbaren Informationen ihre Entscheidungen.

Von der Steuergerechtigkeitsinitiative der SP direkt betroffen sind 1-2 Prozent der EinwohnerInnen resp. SchweizerInnen. Käme es zu einer direkten, interessenbezogenen Entscheidung wäre das Ergebnis eindeutig. Die Initiative müsste klar angenommen werden.

Die Ja-Seite argumentiert entsprechend: Betroffen seien wenige Reiche. Das schwäche den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz; verhindert werden könne das nur, wenn man die kantonalen und kommunalen Gesetze hinsichtlich der Besteuerung höchster Einkommen und Vermögen einander angleicht.

Die Nein-Seite widerspricht dem, aber nicht direkt. Sie sucht eine andere Entscheidung. Sie will die Problematik auf die generelle Frage des Steuerföderalismus durch Kantone und Gemeinden und auf die indirekten Folgen letztlich für alle SteuerzahlerInnen ausdehnen, wenn die Begüterten abwandern.

Die heute veröffentlichte Repräsentativ-Befragung zu den vorläufigen Stimmabsichten der BürgerInnen in Sachen Steuerinitiative der SP lässt eine erste Beurteilung der vorrangigen Nutzenerwartungen zu: Wäre am 13. Oktober 2010 entscheiden worden, wäre die Initiative aller Voraussicht nach angenommen worden.

Das Spannendste dabei ist, dass die Polarisierung zwischen den Einkommensschichten effektiv gering ausfällt. Die Privilegierung hoher Einkommen führt in breiten Schichten zu Unmut, und die Vereinheitlichung der Steuertarife im Ganzen Land findet Zuspruch. Doch zeigen sich auch Grenzen: Der Steuerföderalismus ist nicht an sich vorbei, und Aengste bezüglich neuer Steuerbelastungen können vor allem im Zusammenhang mit dem Mittelstand thematisiert werden.

Der Konflikt ist zunächst parteipolitisch: Links vs. rechts. Er ist aber auch regional: West vs. Ost. Wie er ausgeht, ist noch offen. Denn zu Beginn einer Kampagnen beurteilen die BürgerInnen das Problem. Das hilft in der Regel der Initiative. Am Ende bewerten sie meist die Lösung des Problems. Das führt bei Volksinitiativen meist zu einem Meinungsumschwung vom Ja ins Nein.

Mit Blick auf die Theorie des rationalen Wählens (und Abstimmens) kann man deshalb folgende Beobachtungen festhalten: Die BürgerInnen haben nicht eine eindeutige Präferenz. Sie haben in der Regel Präferenzordnungen. Auf welche Ebene dieser Hierarchie sie sich entscheiden, ist nicht im Voraus klar. Es hängt davon ab, was ihnen in einer bestimmten Situation am wichtigsten ist, und was in dieser Situation auch am meisten öffentlich verhandelt wird.

Entscheidungen können sehr wohl rational im Sinne der Nutzenoptimierung oder Schadensminimierung interpretiert werden. Die Krux aber ist, was der Nutzen oder Schaden ist. Das sieht anders aus, wenn man sich anhand direkter und indirekte Folgen entscheidet, es sieht auch anders aus, ob man sich als Wirtschaftssubjekt oder als StaatsbürgerIn definiert.

Wie man in diesen Hinsichten hin und her schwankt, kann man ab heute bis zum Abstimmungstag exemplarisch verfolgen.

Claude Longchamp

Nützliche Links zu Abstimmungen und Wahlen in der Schweiz

Letzte Woche unterrichtete ich an der Zürcher Hochschule in Winterthur im Rahmen des CAS “Politische Kommunikation”. Es ging um BürgerInnen und Demoskopie im weitesten Sinne, also um Fragen, wie aus BürgerInnen-Meinungen politische Entscheidungen werden und wie die Ergebnisse auf kollektiver Ebene auf die individuelle herunter gebrochen werden können.

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Mehrfach wurde ich danach gefragt, nebst den Literaturangaben eine Linksliste abzugeben. In der Tat hatte ich das in den Unterlagen nicht gemacht, weshalb ich das auf diesem Weg nachhole.

Amtliche Informationen:
Offizielle Informationen Wahlen und Abstimmungen Schweiz
Amtliche Wahlergebnisse Schweiz
Amtliche Volksabstimmungsergebnisse Schweiz

Abstimmungsforschung Schweiz:
Abstimmungsforschung (Schweiz)
Historisches Datenarchiv Volksabstimmungen Schweiz
VOX-Analysen eidgenössischer Abstimmungen
Vimentis: Ueberparteiliche Abstimmungsinformationen
Parlamentsmonitoring
SF Abstimmungen Archiv
Dispositionsansatz zur Analyse der Meinungsbildung bei Volksabstimmungen
SRG-Trendbefragungen zu Volksabstimmungen/Hochrechnungen/Erstanalysen
Ballotpedia (Archiv Volksabstimmungen in den US-Gliedstaaten)
Direkte Demokratie in Europa

Wahlforschung Schweiz:
Wahlforschung (international)
Prognosemodelle für Wahlen (vorwiegend für die USA)
Wahlatlas Schweiz
Selects – Schweizer Wahlstudien
Smartvote Wahlhilfe
Schweizer Parlamentswahlen 2007
Schweizerische Bundesversammlung
SF Wahlen 07
Grafik Datenbank Wahlbarometer 2007
Kommentierte Literaturliste politische Kommunikation (vorwiegend Wahlen)

Aktuelles findet sich jeweils auch in der Kategorien Wahlforschung, Abstimmungsforschung und Politische Kommunikationsforschung auf diesem Blog.

So, ich hoffe damit, diese Bringschuld eingelöst zu haben.

Claude Longchamp

Das neue Telefonbuch der Schweizer Volksabstimmungen

Obwohl das Buch finanziell von Swisslos unterstützt wurde, hat es die Absicht, das Gegenteil einer Lotterie zu befördern: Denn das neue “Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848-2007” ist die bisher kompletteste, systematische Uebersicht über Volksabstimmungen im Musterland der direkten Demokratie und dürfte innert Kürze bei allen SpezialistInnen zum unentbehrlichsten Nachschlagewerk avancieren.

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Seit einiger Zeit hat man mit Swissvotes online eine ausgesprochen nützliche Datenquelle über Schweizer Volksabstimmungen zur Verfügung. Nun haben Wolf Linder, Christian Bolliger und Yvan Rielle, unterstützt von Roswitha Dubach, Manuel Graf und Brigitte Menzi weiter recherchiert und das erste Handbuch zu den Schweizer Volksabstimmung herausgegeben, das schon aufgrund der Informationsmenge beeindruckt.

Denn jede der 529 Volksabstimmungen, die in der Schweiz auf Bundesebene zwischen dem 6. Juni 1848 über die Bundesverfassung und dem 17. Juni 2007 über die 5. IV-Revision stattgefunden haben, wurde von den ForscherInnen nach einem einheitlichen Raster dokumentiert. So findet man zwischen zwei Buchdeckeln, die gut 750 Seiten umrahmen, je ein Kurzporträt der Volksentscheidungen, welche

. die Vorgeschichte
. den Gegenstand
. den Abstimmungskampf und
. das Ergebnis behandeln.

Zudem werden in einer Info die wichtigsten Kennziffern mitgeliefert, die einen Anschluss an die bisherige, amtliche Abstimmungsstatitik liefern. Ferner werden alle verwendeten Materialien vom Bundesblatt über Zeitungen und bisheriger wissenschaftlicher Literatur rubriziert.

Als Erstes kann man für die erstaunliche Fleissarbeit nur danken. Denn jede(r), der oder die sich fast täglich mit Abstimmungen beschäftigt und sich aus aktuellen Anlässen Fragen stellt wie das bei vergleichbaren Themen, Ausgangslagen, Abstimmungskämpfen früher einmal war, kennt das Problem: Die eigene Erinnerung bleibt auch beim besten Willen selektiv, die Rückschauen der Engagierten und Betroffenen sind bisweilen einseitig, und die Wissenschaft hat sich bisher mehr unter einzelnen Fragestellungen, kaum jedoch unter einer systematischen Gesamtsicht mit vergangenen Volksabstimmungen beschäftigt.

Als Zweites kann man auch ein wenig Stolz sein: Zwar sind seit 1980 die Dokumentationen, Datenbanken und Uebersicht über Schweizer Volksabstimmungen besser geworden, doch der Zeitraum, der damit bestrichen wird, bleibt noch lang eng – vor allem angesichts des weltweit einmaligen Reichtums an Abstimmungsentscheidungen, – themen und -konstellationen, den man in der Schweiz ausschöpfen kann. Und genau diese Möglichkeiten sind uns nun, nach Swissvotes, sogar in einer verbesserten Form eröffnet worden.

Klar ist eines: So wenig man Telefonbücher von A-Z liesst, weil sie spannend wären, so unverzichtbar sind sie – in der papierernen oder elektronischen Form, wenn man umfassend miteinander kommunizieren will. Und genau das dürfte auch mit diesem Buch geschehen, wenn man in Geschichts-, Politik- und Staatswissenschaften, aber auch in Redaktionsräumen, Amtsstuben oder Studienarbeitsplätze ab heute über Volksabstimmungen in der Schweiz sprechen will. Nur besteht es nicht nur aus Zahlen, sondern aus dem Geschehenen.

Claude Longchamp

“Zum Beispiel Bolligen”: Vor- und Nachteile von Fallstudien

Eine interessante Studie ist in der Vorortsgemeinde von Bern zur Teilnahme ab Abstimmungen und Wahlen erstellt worden. Sie beobachtete BürgerInnen über die Zeit hinweg in ihrem Verhalten bei Volksabstimmungen. Der Forscher in mir ist entzückt, der Bürger erschreckt und der Demoskope erstaunt, welche weitrechende Schlüsse aus einer Fallstudie gezogen werden.

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Ruedi Burger, parteiloser Gemeindepräsident von Bolligen, im Nebenamt Berner Journalist, verkauft “seine” Gemeinde gerne medienträchtig: mal mit einem gefällschten Ortsschild, mal mit einer überinterpretierten Fallstudie zur politischen Partizipation.

Oliver Heer analysierte die politische Partizipation bei 15 Abstimmungen und Wahlen in der Gemeinde Bolligen. Dafür bediente er sich nicht der klassischen Methode, der Befragung. Vielmehr erhielt er den Zugang zu den Daten der Gemeinde, die zeigen, wer jeweils teilnimmt, und wer jeweils der Entscheidung fernbleibt. Er analysierte also Beobachtungen.

Sein erster Befund lautet: Nur rund 1 Prozent nimmt immer teil, wenn die Bürgerschaft aufgerufen wird, politisch zu entscheiden. Und nur 15 Prozent beteiligen sich nie. 84 Prozent sind damit selektiv Teilnehmende.

Sein zweiter Befund heisst: Die Häufigkeit der Abstimmungsteilnahme variiert nach Kriterien, wie etwa der Integration und Schicht, nicht aber hinsichtlich des Geschlechts und des Alters.

Der erste Befund radikalisiert Vortellungen, die es in der politischen Partizipationsforschung der Schweiz seit rund 20 Jahren gibt. Demnach ist die Unterteilung in Aktive und Passive nicht korrekt, vielmehr gibt es regelmässig Teilnehmende, gelegentlich Partizipierende und konstant Abwesende. Die Zahlenverhältnisse wären aber, so die Bolligen-Studie, klar krasser als bisher angenommen zugunsten der selektiven Teilnahme verteilt. Der zweite Befunde überrascht nicht bei den sozio-ökonomischem Determinanten, wohl aber beim Alter. Denn alle anderen Auiswertungen hierzu verweisen mit hoher Regelmässigkeit auf entsprechende Abhängigkeit der politischen Partizipation in der Schweiz.

Nun können die Divergenzen in den Ergebnissen zum Anlass genommen werden, denn Stand der Forschung, der überwiegend auf Befragungsdaten basiert, einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Im Schwang ist es dabei, die Demoskopie für falsche abweichende Befunden verantwortlich zu machen und zu diskreditieren. Dafür müssten die gleichen Fälle mit verschiedenen Methoden untersucht worden sein.

Das ist es aber nicht, denn einmal hat man gesamtschweizerische Umfragen vor Augen, dann Beobachtungen in der Vorortsgemeinde. Wäre diese repräsentativ, ging der Vergleich noch. Doch auch das ist nicht Fall. Faktisch ist Bolligen eine reiche Vorortsgemeinde mit starker Ueberalterung, was Verzerrungen gerade in der Partizipation mit sich bringen kann. Diese Verdacht nährt schon der Vergleich mit der Quasi-Nachbargemeinde Bern, wo die Unabhängigkeit der Teilnahme vom Alter nicht belegt wird.

So bleibt der Einwand, dass Verallgemeinerungen aus Fallstudien erst dann gezogen werden sollten, wenn viele Fallstudien vorliegen, oder typologisch ausgewählte oder solche in klaren Durchschnitssgemeinde. Sonst vergleicht man Kirschen mit Melonen!

Dass es bisher nur wenige Studien mit der hier beschriebenen Methode gibt, hat seine Gründe. Der BürgerInnen-Beobachtung hängt der Geruch an, das Stimm- und Wahlgeheimnis zu unterlaufen. Das muss zwar nicht der Fall sein, man bewegt sich aber sehr nahe an der Grenze dazu. Diesen Verdacht auf keine Art und Weise schüren zu wollen, dürfte denn auch der Hauptgrund sein, weshalb “Bolligen” Bolligen ist und wohl auch für immer “Bolligen” bleiben wird.

Hochrechnung zu den Berner Regierungsratswahlen 2010

Wie seit 1986 üblich, gibt es am Wahlsonntagnachmittag eine Hochrechnung zu den Berner Regierungsratswahlen. Neu wird das Projekt vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern mit dem Forschungsinstitut gfs.bern realisiert.

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Die Analyse der Ergebnisse für Telebärn und Radio capital fm nimmt der Politikwissenschfter Adrian Vatter, Direktor des IPW, vor. Präsentiert werden diese von Lukas Golder, ebenfalls Politikwissenschafter und Senior-Projektleiter am gfs.bern.

Ziel der Hochrechnung ist es, so genau wie möglich und so schnell wie es geht Hochrechnungen zu den Regierungsratswahlen vom 28. März 2010 zu haben. Dafür werden die Resultate der KandidatInnen aus den Berner Gemeinden eingelesen, nach einem neuen Verfahren bewertet und auf die kantonale Ebene hochgerechnet. Das neue Verfahren hat Stephan Tschöpe vom Forschungsinstitut gfs.bern ausgearbeitet.

Die Ausgangslage ist diesmal nicht nur für die KandidatInnen neu; sie ist es auch für die Hochrechner. Denn es wird keine vorgedruckten Wahlzettel mehr geben. Vielmehr werden die Wähler und WählerInnen die Bewerber ihrer Wahl eigens aufschreiben müssen. Das kann das Muster im bisherigen Wahlverhalten verändern. Zudem kommen zwei neuen Parteien hinzu, wovon die BDP für ein Regierungsamt kandidiert, im bürgerlichen Lager aber keine ungeteilte Unterstützung hat. Umgekehrt tritt das rotgrüne Lager geeinigt und als Vertretung der Regierungsmehrheit an, was bisher nicht sehr häufig vorgekommen ist.

Insgesamt rechnen man deshalb mit einem leicht verzögerten Ablauf der Auszählung, sodass erst im Verlaufe des Nachmittags eine valide Hochrechnung vorliegen wird. Ueber die genauen Zeiten wird eine Woche vor der Wahl informiert werden.

Alle Hochrechnungsergebnisse werden mit 10minütiger Verzögerung auf Internet dokumentiert. Ich selber werden sie laufend im www analysieren.

Claude Longchamp

Erweiterte Erstanalyse der BVG-Entscheidung

Der Links/Rechts-Gegensatz, wie er bei sozialpolitischen Entscheidungen üblich ist, wirkte sich bei der BVG-Entscheidung nur beschränkt aus. Das Nein war besonders stark, wenn es nebst einer starken Linken auch eine konservative Arbeiterschaft hat oder bürgerliche WählerInnen ihre individuellen Interessen tangiert sahen.

Die Senkung des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule, die vielen Versicherten eine verkleinerte Rente gebracht hätte, wurde in der gestrigen Volksabstimmung deutlich angelehnt. 73 Prozent der Stimmenden waren dagegen, gerade 27 Prozent dafür. Die erweiterte Erstanalyse zeigt, was die räumlichen Hintergründe der Ja/Nein-Entscheidungen waren.

Die Höhe der Ablehnung spricht zunächst für einen erheblichen Graben zwischen Parlaments- und Volksentscheidung, wie sie etwa alle 5 Jahre einmal in sozialpolitischen Fragen vorkommt. Vergleichbare Momente gab es 1996 beim Arbeitsrecht, 1999 bei der IV-Versicherung, 2004 bei der 11. AHV-Revision und eben 2010 bei der BVG-Entscheidung.

In allen vier Fällen erschienen das elementare Gerechtigkeitsempfinden mit den vorgeschlagenen Veränderungen für verschiedene Wählerschaften verletzt oder die Kosten und der Nutzen einseitig verteilt. Anders als im Parlament, wo die weltanschauliche Links/Rechts-Polarisierung das alles überlagerte, kam es bei solchen Abstimmungen in der stimmenden Bevölkerung immer wieder zu gemischten Konfliktlinien.

Gemessen an den Bezirksergebnissen zur BVG-Abstimmung kann man drei Beobachtungen festhalten:

Erstens, die Ablehnung war in Gebieten mit linker Stimmtradition etwas verstärkt, in solchen mit rechter etwas abgeschwächt. Ganz verwunden ist der Links/Rechts-Unterschied nicht, doch war er nur schwach ausgeprägt.

Zweitens, die Ablehnung war gestern mehr als im Mittel, wenn es einen überdurchschnittlichen Anteil gibt, der in der Industrie tätig ist, was gerade in der deutschsprachigen Schweiz nicht zwingend mit SP-Wählerschaft gleichgesetzt werden kann.

Drittens, die Ablehnung war speziell dann über dem Mittel, wo sozialpolitische Sensibilitäten stark entwickelt sind. Hier kann es durchaus sein, dass eine bei Wahlen bürgerliche ausgerichtete Wählerschaft mit der Linken stimmt, insbesondere wenn sie ihre individuellen Interessen negativ tangiert sieht.

Alles miteiander kombiniert, wirkte sich bei der BVG Abstimmung vor allem auf CVP-Hochburgen aus, beispielsweise im Oberwallis, im Freiburger Hinterland oder im Kanton Jura. Es findet sich aber auch im einigen Gebieten im Tessin, in der Waadt und in Neuenburg.

Ganz anders strukturiert sind die zustimmenden Gebiete bei dere BVG-Reform. Auf Bezirksebene gibt es sie nicht, auf dem Niveau von Gemeinden indessen schon. In Graubünden, in Appenzell, im oberen Tessin und im Emmental finden sie sich. Und vereinzelt auch an der Zürcher Goldküste. Ihnen gemeinsam ist, dass sie entweder bäuerlich geprägt sind, oder aber zu den reichts, rechtsliberal ausgerichteten Regionen der Schweiz zählen.

Diese Mischung von Trennlinien im Stimmverhalten bei der BVG-Entscheidungen hat zur Folge, dass der klassische Stadt/Land-Gegensatz nicht einheitlich spielte.

Bravo, Michelle Beyeler!

Eine junge Politologin risikierte am Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft eine Prognoseformel für HarmoS-Abstimmungen. Und bekommt nun durch die Entscheidung im Kanton Freiburg von gestern weitgehend Recht.

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Michelle Beyeler von der Uni Bern entwickelte das Prognosemodell zu HarmoS-Abstimmungen mit ihrem Kollegen Konstantin Büchel

Anfang Januar 2010 trafen sich die forschenden PolitikwissenschafterInnen aus der Schweiz in Genf, um die neuesten Ergebnisse auszutauschen und zu diskutieren.
Michelle Beyeler, Doktorin der Politikwissenschaft und Lehrbeauftragte an der Uni Bern, stellte ihre Analyse der verschiedenen kantonalen HarmoS-Abstimmungen vor, die sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Konstantin Büchel erarbeitet hatte.
Einige der einflussreichen Meinungsmacher unter den Schweizer Politologen waren nicht so begeistert. Keine klare Fragestellung, zu wenig Theorie, nicht stringente Ableitungen warf man ihr vor.
Mir hat die Präsentation gut gefallen – nicht zuletzt, weil Michelle Beyeler eine der einzigen war, die nicht nur Vergangenes analysiert, sondern auch eine Prognose machte, wie es mit der nächsten HarmoS-Abstimmung im Kanton Freiburg weiter gehen würde.

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Die Politikwissenschafterin nutzte die spezielle Ausgangslage, dass in zahlreichen Kantonen innert kürzestester Zeit über praktisch das Gleiche abgestimmt wurde und in weiteren wohl noch wird. Sie analysierte die Eigenheiten der Gliedstaaten und verglich diese mit früheren Abstimmung. Dabei kam sie zum Schluss, dass die Entscheidungen zu Hamros wenig mit Bildungspolitik zu tun haben, aber in hohem Massen denen gleichen, die man schon zur Mutterschaftsversicherung gefällt hatte. Je mehr Ja es das gab, umso wahrscheinlicher sei die Zustimmung zu HarmoS. Hinzu komme noch, wie viele Neuerungen die HarmoS-Vorlage bei der Einschulung in einem Kanton bringe. Denn mit der Abstimmung würden traditierte Frauen- und Familienbilder wachgerufen.
Am Ende machte die Berner Politikwissenschafterin sogar eine Prognose zur anstehenden Abstimmung im Kanton Freiburg. Der werde annehmen, sagte sie, mit rund 58 Prozent Ja fügte sie bei.
Gestern war der Tag der Entscheidung: Freiburg sagte Ja zu Harmos, mit 61 Prozent Ja.
Bravo, Michelle Beyeler!