Sekundärzitierungen von Umfragen sind so eine Sache …

Wer kennt das nicht: 10, 50 oder 100 Menschen stehen in einer Reihe. Der Erste sagt dem Zweiten etwas, sodass es die anderen nicht hören. Dann ist der Zweite gegenüber dem Dritten dran und so fort. Der Letzte berichtet dann dem Ersten, was er über ihn gehört habe. Zum Staunen aller verändert sich die Botschaft durch ihre Weitergabe bis ins Unkenntliche.

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Kommunikationsprobleme sind auch in der Vermittlung von Studienergebnissen häufig, wenn man mehr aus den Resultaten machen will, als möglich ist.

“24 Heures” publizierte letzte Woche eine Umfrage von MIS zum Verhältnis von SchweizerInnen zu Muslimen. Auf einen Nenner gebracht, lautete das Ergebnis: Ein Muslim kann ein guter Schweizer sein. Dem Islam als Ganzes stehen die BewohnerInnen des Landes aber distanziert gegenüber.

“32 – 38 – 24”, so lauten die Zahlen für ein positives, neutrales oder negatives Verhältnis zu Angehörigen des Islams gemäss MIS Befragung. Entsprechend sind die BewohnerInnen der Schweiz in vielen Frage, die den Islam betreffen, gespalten. In der Minarett-Frage sind 46 Prozent dagegen.

Fachmännisch gesprochen sind das alles Einstellungselemente: Bewertungen von Sachfragen, welche den aktuellen Informationsstand und die momentane Gefühlslage reflektieren. Da Entscheidungen auch Informationen und Stimmungen einer Kampagne reflektieren, können Prädispositionen und Entscheidungen identisch sein, müssen aber nicht.

Journalistisch ist das der Knackpunkt. Nicht selten wird alles mit allem gleichgesetzt! Denn besteht ein Zwang in den Medien, aus allen Umfragen vor Abstimmungen eine Prognose zu machen. Egal, ob auf gesicherter oder ungesicherter Basis.

Das konnte man Ende letzter Woche wieder einmal schön feststellen. Die Meinung zu Minaretten, wie sie “24 Heures” richtig wiedergab, wurde in “20 Minuten” zur unvermittelten Stimmabsicht über die anstehende Initiative. Eine Minderheit sei für Minarette, eine relative Mehrheit für die Initiative. “Rund zwei Wochen vor der Abstimmung seien noch 15 Prozent unentschieden”, lautete die Zusammenfassung der Studie.

In der österreichischen “Kleinen Zeitung” kams dann noch dreister: “Die Anti-Minarett-Initiative in der Schweiz hat gute Erfolgsaussichten”, wird der Artikel eingeleitet; übertitelt ist er mit: “Mehrheit für Anti-Minarett-Initiative”!

Quod erat demonstrandum: Mit jeder Weitergabe ändert sich die ursprüngliche Botschaft!

Claude Longchamp

Halbzeitbilanz im Nationalrat: Wer steht wo, und wer kann’s mit wem?

Ein intensiver Tag liegt hinter mir. Zahlreiche Gespräche wären es wert, reflektiert zu werden. Ein Beispiel hierfür greife ich gerne heraus: das zur Position der Parteien im Nationalrat nach Politikbereichen.

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Die Grafik zeigt, wir die Parteien im Nationalrat stimmen, und welche Konfliktprofile dabei typisch sind (quelle: soz/sotomo,eigene Darstellung)

Die “Sonntagszeitung” brachte gestern eine grosse Auswertung der Parteipositionen in Sachfragen. Nicht die WählerInnen waren massgeblich für die Rangierungen, auch nicht die Programme. Vielmehr hat Politgeograph Michael Herrmann wie scon 2005 und 2008 die Namensabstimmungen im Nationalrat verwendet, um die Parteien zu charakterisieren. Gut 400 Entscheidungen in der Volksvertretung hat er verwendet und sie in den 8 üblichen Politikfeldern verortet, die er zur Strukturierung des politischen Geschehens entwickelt hat. Doch, so fragt man sich beim Lesen, gibt es über die Daten hinaus auch eine sinnvolle Synthese?

Ein Gespräch mit einem Spitzenfunktionär einer Regierungspartei kam schnell zur Sache. Es gefiel die Aufmachung und die Uebersicht, die so entsteht. Man habe es umgehend verarbeitet, und man werde es in den intenen Planungen für die kommenden Wahlen verwenden.

Denn die Uebersicht macht klar, welche Partei in welche Politikfelder mit wem resp. gegen wen antritt.

Wenn die Fakten damit klar sind, gehen die Interpretationen doch auseinander. Die Sonntagszeitung suggerierte, dass ein SVP-FDP-Bündnis generell im Kommen sei. Das mag für die Finanzpolitik stimmen, und so kann die bürgerlichen Mitte unter Druck gesetzt werden. Es gilt wohl auch für die Ablehnung des starken Sozialstaaten und neuerdings auch für den Kampf gegen mehr Umweltschutz, wo die SP und Grüne isoliert wirken.

Ganz sicher trifft es nicht auf die Aussenpolitik zu, und neu auch nicht mehr auf die Ausländerfragen. Denn hier ist die SVP isoliert. Tendenziell gilt das auch, wenn sie sich gegen gesellschaftliche Liberalisierung stellt.

In Fragen der wirtschaftlichen Liberaliserung und sogar bei der Sicherheitspolitik gilt dar ein drittes Muster. Das Zentrum im Nationalrat sieht sich bisweilen zwei Polen gegenüber, wobei Grüne, beschränkt auch SP und SVP ihre Widersacher sind.

So sind wir uns – mit Nüancen – schnell einig. Im Parlament hat es drei Arten von Koalitionen: Mitte-Links ist die seltenste und hat an Einfluss verloren, Mitte-Rechts kommt häufiger vor, ist aber nicht dominant, und am häufigsten und am erfolgreichsten sind Allianzen aus FDP, CVP und BDP. Im Ständerat, der in der sonntägliochen Uebersicht fehlte, sind sie klar in der Mehrheit, und im Nationalrat reicht eine Minderheit von rechts oder links, um sich – je nach Themenbereich – durchzusetzen.

Claude Longchamp

Plakate für und gegen Minarette

Noch ist die Volksabstimmung vom 27. September 2009 in der Schweiz nicht vorbei. Und schon kündigt sich der Abstimmungskampf zur stark umstrittenen Minarett-Initiative an, über die die Stimmberechtigten in der Schweiz am 29. November 2009 entscheiden.

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Am Sonntag hatte der “Blick” seinen Primeur. Er stellte das Ja-Plakatt zur Minarett-Initiative vor, über die am 29. November 2009 abgestimmt wird. Es folgt der ebenso klaren wie simplen Logik der Initianten aus Kreisen der SVP, der EDU und der Lega. Die Schweiz wird mit islamischen Gotteshäusern überbaut, die alle von riesigen Minaretten überstrahlt werden. Doch die sind nicht einfache Kirchtürme, vielmehr sind sie eine bedrohlich schwarze Kampfansage. Deshalb sehen sie auf dem Plakat wie Raketen aus, welche das christliche Abendland bedrohen. Die stark verschleierte Frau im Vordergrund erinnert uns daran: Wer schon möchte bei uns zurück ins hohe Mittelalter? Schlimm genug, dass diese Kultur im Iran die Oberhand hat.

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Dem setzt nun Frank Bodin, in der Schweiz zum Werber des Jahrees 2009 gewählt, seine Sicht der Dinge gegenüber. Für die Gesellschaft “Minderheiten in der Schweiz” hat er das Nein-Plakat entworfen, das heute erstmals in “20 Minuten” vorgestellt wurde. “Der Himmel über den Schweiz ist weit genug”, ist hier die zentrale Botschaft. Sie firmiert über dem dezenten Blau des Schweizer Himmels, der allerdings durch Wolken leicht bedeckt ist. Das, suggeriert jedenfalls das Plakat, soll uns nicht beirren, vor allem nicht die Relgionsfreiheit und den Religionsfrieden trüben. Denn der funktioniert in der Schweiz mit und gerade wegen Minaretten. Symbolisch erscheinen sie deshalb zwischen den Turmspitzen des katholischen Klosters Einsiedeln und des protestantischen Grossmünsters in Zürich bereits eingemittet.

Eines wird aus beidem klar: Der Abstimmungskampf zur Minarett-Initiative ist lanciert. Die Wortführer beider Seiten sind bestrebt, die mediale Lufthoheit erobern. Hierfür kündigen sie polarisierenden Kampangen an, die mit klaren Bildsprachen Propaganda betreiben werden. Ein wenig schon kommt eine Stimmung auf wie nach dem 11. September 2001, als der Attacke aus der Luft die Zwillingstürme der WTO in New York zum einstürzen brachte. Das soll sich nicht wiederholen, folgern die einen; den Krieg der Kulturen, den die abgewählten Republikaner im Irak angezettelt haben, auch nicht, erwidern die andern.

Claude Longchamp

“Die allgemeine Volksinitiative bietet zu wenig Demokratie”

Es ist eine typisch binnenschweizerische Diskussion. Aber eine, die Grundsätzliches zum Verhältnis von Demokratie und Herrschaft berührt. Denn kurz vor der Volksabstimmung über die Allgemeine Volksinitiative meldet sich Andreas Gross, Politikwissenschafter mit Spezialgebiet direkte Demokratie, mit einem kritischen Votum in der NZZ zu Wort und plädiert für die Abschaffung der Fehlkonstruktion unter den Volksrechten.

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Andreas Gross, der wohl beste Kenner der Philosophie der direkten Demorkatie spricht sich gegen die Allgemeine Volksinitiative aus.

Am 27. September 2009 stimmen die Schweizer Stimmberechtigten über die Nicht-Einführung der Allgemeinen Volksinitiative ab. Das bestehende Initiativrecht soll bleiben, die Verfeinerung, die 2003 bewilligt, bisher aber nicht umgesetzt wurde, soll jedoch wieder verschwinden.

Einen Abstimmungskampf hierzu gibt es kaum. Im Parlament war nur einer dagegen, doch der weibelt in allen Medien. Nun kontert Andreas Gross, vormals Präsident der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates. Dies ist umso glaubwürdiger, als Gross schon im Abstimmungskampf bei der Einführung 2003 gegen das Instrument war.

Ein Drittel aller Volksinitiative, die zur Abstimmung gelangen, verlangen Aenderungen der Bundesverfassung; zwei Drittel zielen auf Korrekturen im Gesetzeswerk der Schweiz ab. Diesem Umstand wollte Bundesrat Arnold Koller Rechnung tragen, als er die allgemeinen Volksinitiative vorschlug. Gemäss der könnte das Parlament entscheiden, ob eine angenommene Anregung aus einer Volksabstimmung in der Verfassung oder im Gesetz verankert werden solle.

Andreas Gross hält die Erweiterung des bestehenden Initiativrechtes durch eine Gesetzesinitiative für die richtige Schlussfolgerung. Die Allgemeinen Initiative bekämpft er mit dem Hinweis, wer Unterschriften für eine Volksinitiative sammle, sei mit dem Status Quo in der Regel nicht einverstanden. Diese Verägerung entstehe nicht selten, weil das Parlament falsche Entscheidungen getroffen habe. Deshalb hält Gross es für im Ansatz verfehlt, dass der mittels Volksinitiative vorgetragene Volkswille im Fall einer Annahme durch die Stimmenden vom Parlament interpretiert werden dürfe.

Oder pointiert gesagt: “Um neue Fehlkonstruktionen und Irrtümer zu vermeiden, muss die direkte Demorkatie aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger verstanden und verfeinert werden und darf nicht aus herrschaftlicher Sicht zurückgebunden werden wollen.”

Claude Longchamp

Freudscher Verschreiber

Manchmal ist die politische Berichterstattung tiefgründiger, als sie sich selber versteht. Zum Beispiel in der heutigen NZZ über das bürgerlich-liberale Pro Komitee zur IV-Zusatzfinanzierung.

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Abhandlung von Sigmund Freud, in der er sich mit dem “Freudschen Versprecher” auseinander setzte.

Seit einigen Tagen heizt die SVP mit Inseraten die Volksabstimmung zur IV-Zusatzfinanzierung kräftig an. Das bürgerliche-liberale Pro-Komitee sah sich deshalb gestern gezwungen, mit einer Medienmitteilung zu reagieren. Die verbreiteten Zahlen seien falsch, die Ausgaben für die IV konnte zwischenzeitlich gedrosselt werden; jetzt brauche es noch die Mehreinnahmen, um die IV wieder ins Lot zu bringen, hiess es ganz im Sinne der Vorlage, über die wir am 27. September 2009 abstimmen.

Nun weiss man, dass die Frontstellung vor allem der FDP.Die Liberalen zugunsten der IV-Revision nicht einfach war. Zuerst musste Bundesrat Pascal Coucepin die Abstimmung verschieben, weil er seine freisinnigen Truppe nicht mobilisieren konnte. Dann hielt sich die economiesuisse mit Aktitvitäten zurück, weil sie eine Steuererhöhung in der aktuellen Wirtschaftslage ablehnte. Schliess fand sich aber, wobei die Einführung bei einem Ja um ein Jahr verspätet erfolgen und eine weiter reichende Revision der IV angekündigt wurde.

Doch scheint einiges an Bedenken in bürgerlicher Redaktionen hängen geblieben sein. Die NZZ erfand nämlich im heutigen Artikel (leider nicht auf Internet nachschlagbar) hierzu eine neue politische Position. Statt das bürgerlich-liberale Pro-Komitee zu zitieren, schrieb man, die Stellungnahme sei vom “gegnerischen Pro Komitee” abgegeben worden ….

Die Definition des Freudscher Versprechers oder Verschreiber lautet: “Bei der Bewertung eines Versprechers als eine „Freudschen Fehlleistung“ wird davon ausgegangen, dass in der Bedeutungsabweichung, die durch einen Versprecher entsteht, eine tief verankertere, unbewusste Aussage ausdrückt wird, die durch das aktuelle Bewusstsein nur unzureichen überlagert ist.”

Claude Longchamp

Angebliche Studentin schreibt Seminararbeit, horcht aber politische Gegner aus: Was tun?

Es ist eine unappetitliche Geschichte, welche die aktuelle Wochenzeitung unter dem Titel “Studentin in fremden Diensten” präsentiert. Den Universitäten kann es nicht egal sein, wenn studentischen Qualifikationsarbeiten für andere als vorgesehene Zwecke missbraucht werden.

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Laut WOZ hat eine Freelancerin der Zürcher PR-Firma Farner AG, seit Jahren gegen armeekritische Volksinitiativen aktiv, an einem Strategieseminar der pazifistischen “Gruppe für eine Schweiz ohne Armee” teilgenommen, bei dem es um die Kampagnenplanung zur anstehenden Volksabstimmung über die Kriegsaterialausfuhr ging.

Seitens der PR-Firma beteuert man, mit der privaten Aktion nichts zu tun zu haben. Die Agentur werte nur aus, was allgemein greifbar ist. Das Initiativkomitee seinerseits wehrt sich gegen den Vorwurf, mit der Ausschreibung der Veranstaltung auf Internet zur Bespitzelung geradezu eingeladen zu haben; Es sei auf die Mitarbeit von vielen Gleichgesinnten angewiesen.

Aus Sicht der Politikwissenschaft als Fach darf die Diskussion nicht dabei stehen bleiben. Vielmehr muss interessieren, dass das unübliche Vorgehen seitens der Freelancerin mit der tatsachenwidrigen Aussage begründet wurde, sie studiere in Bern Politologie und bereite eine Seminararbeit über Abstimmungskämpfe vor.

Es ist fast schon symptomatisch, wie wissenschaftliche Ausbildungsvorschriften zu politischen Zwecken missbraucht werden können. Denn universitären Qualifikationsarbeiten geht der Ruf voraus, ohne Hintergedanken gemacht zu werden. Das verschafft notwendige Freiräume, die es auch für die Zukunft zu schützen gilt.

Angesichts der Vielzahl Seminar- und ähnlicher Arbeiten, die in den Sozialwissenschaften auch zu aktualitätsbezogenen Fragen verfasst werden müssen, entsteht ein kollektives Forschungssystem, das individuell leicht missbraucht werden kann. Letztlich können sich wissenschaftliche Institute nur so schützen, indem sie als Institutionen die bewilligten Arbeiten und deren VerfasserInnen auf Internet publizieren. Damit kann jeder und jede, der oder die Verdacht schöpft, einen einfachen Kontrollckeck machen. Und die Tarnung der Politik als Wissenschaft entfällt.

Claude Longchamp

Selten so gestaunt

Am 27. September 2009 kommt es in der Schweiz zu einer Volksabstimmung, um das Ergebnis einer anderen ausser Kraft zu setzen, weil das Parlament das Verlangte nicht umsetzen will. Ein demokratiepolitisch erstaunlicher Vorgang.

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Seltene Einmütigkeit: Der Nationalrat hat den Bundesbeschluss mit 178 Ja bei 1 Gegenstimme und 15 Enthaltungen angenommen, der Ständerat mit 42 zu 0 Stimmen und 1 Enthaltung.

SpezialistInnen erinnern sich: Am 9. Februar 2003 haben Volk und Stände die Vorlage der allgemeinen Volksinitiative mit über 70 % der Stimmen angenommen, obwohl es von links und rechts eine Elitenopposition gab. Dies spiegelte sich gemäss VOX-Analyse aber nicht einmal bei den AnhängerInnen von SVP und SP. Doch konnte sich das Parlament in der Folge nicht einigen, wie man den Auftrag umsetzen solle. Weil es unverändert Opposition vor allem rechts, aber auch von links gab. Deshalb schickte man das Ganze an den Absender zurück, und stimmen wir am 27. September 2009 erneut über die allgemeine Volksinitiative ab.

Mit der allgemeinen Volksinitiative wollte man den Bürgern ermöglichen, mittels allgemein formulierten Anliegen Gesetze einzuführen, anzupassen oder aufzuheben. Das Parlament hätte dann über die Frage entschieden, ob das Anliegen auf Gesetzesstufe oder in der Verfassung umgesetzt wird und wie der entsprechende Artikel genau formuliert werden soll.

Nun will man das alles rückgängig machen: Stimmt das Volk der Vorlage diesmal zu, wird auf die beschlossene, bisher aber nicht eingeführte Erweiterung des Initiativrechts ganz verzichtet. Die Möglichkeit, eine Initiative starten zu können, die zu einer Änderung eines Bundesgesetzes führt, würde zurückgenommen.

Als Beobachter staunt man nicht schlecht, wie Mehrheiten entstehen, und wie sie mit verfahrenstechnischen Begründungen für obsolet erklärt werden können. Und man ist überrascht, dass es zu diesem Rückwärtssalto praktisch keine öffentliche Debatte gibt. Organisierte Gegner werden keine sichtbar, obwohl sie im Parlament auftraten, und die Befürworterschaft des Verzichts hält sich im gestarteten Abstimmungskampf fast ganz zurück, – ganz in der Hoffnung, niemand merkt, was geschieht.

Claude Longchamp

Die Debatte zur Volkswahl von BundesrätInnen ist lanciert

Die Debatte über die Volkswahl des Bundesrates ist neu lanciert. Sie entzweit nicht nur das Volk und die PolitikerInnen. Auch unter den PolitikwissenschafterInnen werden beide Standpunkte zwischen Demokratisierung und Mediokratisierung von Bundesratswahlen vertreten.


(Rundschau vom 1.7. anclicken)

In der gestrigen “Rundschau” des Schweizer Fernsehens ordnete der Freiburger Historiker Urs Altermatt die neu aufgebrachte Forderung der SVP des Kantons Zürich in den grösseren Kontext ein: Er sieht darin den Angriff auf die BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf 2007, die als SVP-Vertreterin gewählt, dann von der eigenen Partei ausgeschlossen wurde. Die Initiative ist für den arrivierten Bundesratsforscher die Begleitmusik hierzu.

Unter den Politikwissenschaften werden kontroverse Einschätzung gemacht. Michael Hermann von der Uni Zürich sieht darin eine Chance der Demokratisierung von Bundesratswahlen, die sich in den Kantonen bewährt hat und nun auf der Bundesebene Anwendung finden soll. Er verspricht sich mehr politisches Interesse durch Volkswahlen des Bundesrates.

Ich selber vertrete die Gegenposition: Was mit der Volkswahl von BundesrätInne kommt, ist die gesteigerte Bedeutung von Personen für die politische Mobilisierung sowie die Amerikanisierung von Wahlen, verbunden mit einer Stärkung der Medienmacht. Das sich das mit der Konkordanz für den Bundesrat nicht verträgt, tendiert die Aushebelung der Rückbindung von Regierungsmitgliedern ans Parlament zum Uebergang des Regierungssystems der Schweiz zur Konkurrenzdemokratie mediokratischen Stils.

Claude Longchamp

“Volkswahl des Bundesrates”: indirekte Wirkungen wichtiger als direkte

Das Volk lehnte bis jetzt die Wahl des Bundesrates in Volksabstimmung immer ab. Dennoch hatten entsprechende Initiative oder Projekte indirekte Wirkungen, stärkten sie doch die Vertretung der Parteien, welche die Initiativen lancierten, im Bundesrat früher oder später.

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Das Ergebnis der Abstimmung von 1900 zur KK/SP-Initiative: 35 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 59 Prozent der Stimmberechtigten.

Bereits zweimal wurde über die Volkswahl des Bundesrates abgestimmt: 1990 aufgrund einer Volksinitiative, getragen von den Katholisch-Konservativen und den Sozialdemokraten; 1942 als Folge eine Volksinitiative der SP. In beiden Fällen mobilisiert das Thema im Schnitt; zweimal scheiterte das Anliegen in der Volksabstimmung klar: 1900 votierten 65 Prozent dagegen, und es lehnte 14 Kantone ab; 1942 waren 68 Prozent und alle Kanton gegen die Vorlage.

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Das Ergebnis der Abstimmung von 1942 zur SP-Initiative: 32 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 62 Prozent der Stimmberechtigten.

Das Abstimmungsergebnis erhellt nicht nur der Blick auf den räumlichen Kontext der Resultate. Der Zeitpunkt der Entscheidung ist mindestens so wichtig.

1900 befand sich die KK im Aufstieg zum Regierungspartei. Seit 1891 war sie als Minderheit mit einem Sitz im siebenköpfigen Bundesrat; im Parlament, vor allem im Ständerat hatte sie aufgrund ihres regionalen Profiles aber mehr Gewicht. 1942 war die SP auf dem Weg in den Bundesrat. Was ihr seit Längerem von bürgerlicher Seite verwehrt wurde, sollte 1943 effektiv erstmals erfüllt werden.

Volksinitiativen für die Volkswahl des Bundesrates gehören damit zu den Instrumenten, die Parteien einsetzen, welche ihre Macht in der Regierung stärken wollen. Sie kennen deshalb ein ausgesprochen taktisches Element. Von einer eigentlichen Konfliktlinie, die alle bestimmen würde, kann damit, wenigstens im historischen Rückblick, nicht gesprochen werden. Die Initiativen scheiterten recht deutlich, da sie keine soziologisch oder ökonomisch beschreibbares Potenzial kannten.

Angewendet auf die Gegenwart heisst dies: Die SVP fühlt sich im Bundesrat untervertreten. Sie verspricht sich, dass von der diskutierten Initiative Druck aus geht; das war schon im Jahr 2000 so, und es dürfte auch momentan der Fall sein. Direkte Wirkungen zeigten die Initiative nicht, weil sie in der Volksabstimmung scheiterten; indirekte Wirkungen stellten sich aber bisher immer ein: 1919 wurde die KK mit zwei Vertretern im Bundesrat bedient, und 1943 wurde die SP erstmals in die Bundesregierung aufgenommen. Bei der SVP reichte schon die Ankündigung der Initiative, dass die Verdoppelung ihrer Vertretung 2003 vorbereitet werden konnte.

Claude Longchamp

Einwände zur Volkswahl des Bundesrates

Die Volkswahl des Bundesrats wird in der Schweiz wieder zum Politikum. Vorgetragen wird sie gegenwärtig erneut durch die SVP, die ein entsprechendes Initiativprojekt diskutiert, obwohl ein analoger Vorschlag erst 2009 durch den kommunistischen Abgeordenten eingebracht, im Nationalrat klar abgelehnt worden ist.

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Quelle: Tages-Anzeiger, 30. Juni 2009

Seit 1848 sind alle Bestrebungen dazu gescheitert

Seit 1848 die Volkswahl des Bundesrats in der Diskussion der ersten Verfassung der Schweiz abgelehnt worden ist, wird das Thema regelmässig wieder diskutiert; alle Vorschläge hierzu sind bisher verworfen worden.

Sicher, die Voraussetzung seit damals haben sich geändert; die Kantone sind nicht mehr ausschliessliche und nach Innen gerichtete Teilstaaten. Dennoch gibt es kaum nationale Medien, eher ein sprachregional geprägtes Mediensystem, das die Möglichkeiten gesamtschweizerische Diskussion und Wahlen mindestens einschränkt.

Drei Einwände gegen die Volkswahl des Bundesrats werden immer wieder vorgebracht:

1. Der permanente Wahlkampf

Die Volkswahl des Bundesrates würde die Anbindung der Regierung an die Oeffentlichkeit stärken. Bei allen Vorteilen, die das auch hat, bleibt ein Problem: Die Gewählte würden sich dem ständigen medialen Dauerdruck der Abwahl ausgesetzt sehen. Diese wären letzlich auch in der Lage, die Abwahl in eigener Regie zu inszenieren. Ganz sicher wären die Medien auch eine zentrale publizistische und werberische Wahlvoraussetzung. Denn nur wenige PolitikerInnen erreichen die Bekanntheit, die nötig wäre, um national gewählt werden zu können. Faktisch sind das heute die Bundesräte nach der Wahl und Spitzenvertreter der Opposition wie das bei James Schwarzenbach, Jean Ziegler und Christoph Blocher der Fall war. Letztere sind geeignet, neue Themen aufzubringen und der politischen Diskussion zuzuführen, haben sich aber letztlich als zu wenig geeignet erwiesen, auch lösungsorientierte Sachpolitik zu betreiben.

2. Die Schwächung des Parlaments

Der Parlamentarismus ist die Norm der Demokratie. Darüber hinaus sind die direkte Demorkatie und das Präsidialsystem als Erweiterungen bekannt. Eine Kombination der drei System gibt es nationalstaatlich gesehen letztlich nirgends. Auf der Ebene der Gliestaaaten kommt Kalifornien dem am nächsten, – und zeigt mit hoher Regelmässigkeit die Schwäche: Da der Gouverneur, das Parlament und Volksabstimmung, alle ähnlich legitimiert, sehr unterschiedliche Politiken befürworten können, mangelt es schnell an Kohärenz, womit die politischen Satbilität, wie auch die jüngste Krise gezeigt hat, schnell leidet. Die Schweiz hat sich für den starken Ausbau der direkten Demokratie entschieden. Sie ist nach 1874 in verschiedenen Schritten stark ausgebaut worden, sodass sie die Bedeutung des Parlaments strukturell und in Policy-Fragen relativiert hat. Mit der Volkswahl des Bundesrates würde man dem Parlament nun auch die Wahlfunktion nehmen, womit nicht auszuschliessen wäre, dass das Parlament ganz zwischen Stuhl und Bank fallen würde, demokratiepolitisch eindeutig verantwortungslos.

3. Der erschwerte Minderheitenschutz

Volkswahlen der Regierung finden nach dem Mehrheitswahlrecht statt. Denn nur dieses legitimiert, im Namen der Mehrheit sprechen zu können. Entsprechend werden in aller Regel nicht Regierungen direkt gewählt, sondern das Präsidium. Die konsequente Anwendung des Mehrheitswahlrechtes auf nationaler Ebene für jedes einzelne Regierungsmitglied hebt konsequenterweise den Minderheitenschutz auf, oder aber schränkt über diesen das Mehrheitswahlrecht ein. Der Kanton Graubünden, als einziger Gliedstaat der Schweiz mit drei Regionalsprachen, hat ganz bewusst darauf verzichtet, den Sprachenproproz in die Volkswahl des Regierung einzuführen. Ohne das ist aber davon auszugehen, dass die deutschsprachige Schweiz – und mit ihr die Zürcher Optik – Volkswahlen der Bundesregierung dominieren müsste. Umgekehrt müsste man bei einem geregelten Minderheitenschutz müsste man klar sagen, wer in den Genuss kommen würde: nur die französischsprachige Schweiz? auch die italienischsprachige Schweiz? Und in welcher Zahl: je einen? zusammen zwei? Die Siebner-Zahl ist da nicht die einfachste.

Fazit
In der Tat kennt die Schweiz in den Kantonen die Volkswahl der Regierungen, kombiniert mit einem Parlament und direkter Demorkatie. Könnte man das nicht einfach auf die Schweiz übertragen? Meine Einschätzung lautet: eher Nein. Denn die Stabilität des Systems ist auch in den Kantonen nur gewährleistet, solange sich die grösseren Parteien untereinander an einen freiwilligen Proporz halten, der dem gleich, was wir im Bundesparlament haben. In den grösseren Kantonen werden in die Grenzen immer wieder sichtbar: Zürich, Bern, Waadt, Genf und Aargau kennen faktisch keine festen Schlüssel mehr für die Regierungszusammensetzung. Blöcke bilden sich, die bei Regierungswahlen gegeneinander antreten. Gesamtschweizerisch muss man klar Farbe bekennen: Wer die Volkswahl einführen will, will genau diese Polarisierung und verabschiedet sich von der politischen Konkordanz.

Claude Longchamp