Leuenberger: Volkswahl für den Primus oder die Prima

In der heutigen Spiegel-Ausgabe empfiehlt der abtretende Bundesrat Moritz Leuenberger einen Paradigmenwechsel beim Bundespräsidium. Der oder die Vorsitzende des Bundesrates soll für ein Legislatur amten, kein Departement führen und vom Volk gewählt werden.

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Moritz Leuenberger, wäre 2011 Bundespräsident geworden, tritt aber als Bundesrat zurück, und macht einen Vorschlag für eine radikale Neugestaltung des Amtes an der Regierungsspitze

Mathieu von Rohr irrt. Der Schweiz-Korrespondent des Magazins Der Spiegel meint, die Schweiz sei für Revolutionen einfach nicht gemacht. Dabei geht es ihm weniger um die Personenentscheidungen am kommenden Mittwoch, nicht einmal um die parteipolitische Zusammensetzung der Bundesregierung. Nein, es geht ihm um einen Vorschlag von Moritz Leuenberger, bekannter Skeptiker, der, wenn eine Regierungsreform schon nötig sei, mit einem Uebergang zu einem Präsidialsystem liebäugelt.

O-Ton Leuenberger: “Wenn schon eine Veränderung, warum dann nicht einen Bundespräsidenten für vier oder fünf Jahre, der kein eigenes Ministerium führen muss und der vielleicht sogar vom Volk gewählt würde?”

Ohne Zweifel wäre das ein Paradigmenwechsel. BundespräsidentIn zu sein, war in der Konkordanz in erster Linie Ehre, ein repräsentative Amt mit beschränkten Koordinationsaufgaben für das Regierungsgremium selber. Dann nahm die Medialisierung der BundesrätInnen in den letzten 20 Jahren zu, und seit gut 10 Jahren sind sie auch viel im Ausland unterwegs. Da eignet sich die jetzige Regierung ohne eine mittelfristig dauerhafte Spitze immer weniger.

Von daher ist es nur verständlich, wenn man, wie mit der Regierungsreform, sowohl über die Institutionalisierung eines neuen Bundespräsidiums diskutiert, als auch, wie es Leuenberger macht, über die Legitimatierung von aufgewerteten AmsträgerInnen. Der jetzige Bundesrat favorisiert ein Bundespräsidium auf zwei Jahre, weiterhin im Rotationssystem unter den Mitgliedern, wobei der oder die InhaberIn zusätzlich zu den Repräsentationsaufgaben im Innern solche im Ausland übernehmen würde.

Was Leuenberger heute im Spiegel erwägt, kommt durchaus einer kleinen Revolution gleich. Statt das Bundespräsidium in Richtung eines Ministerpräsidentenamtes ohne Volkslegitimation weiterzuentwickeln, wie es die parlamentarischen Demokratien kennen, orientiert es sich mehr am Präsidialsystem, wie es in den USA mustergültig existiert. Demnach würde der primus inter pares, wie er heute zelebriert wird, würde verabschiedet. Der neue Primus oder die neue Prima würde durch die Volkswahl gestärkt auf die Regierungsbildung einzuwirken, hätte wohl auch Weisungsbefugnisse in zentralen Fragen, wäre die Schaltstelle im Innern, Ansprechpartner nach Aussen, und in einem erhöhten Masse direkt vom Volkswillen abhängig.

Leuenberger weiss, dass man in der Schweiz sarken Persönlichkeiten distanziert begegnet, weil sie zu oft polariseiren. So definiert er die Rolle des oder der BundesprädisentIn als Integrationsfigur, verkörpert durch eine Person, die mehrsprachig kommunizieren kann, und die Botschaft der Schweiz nach Innen und Aussen vermitteln würde.

Der jetzige Bundespräsident ist aus dem Landammann der Helvetischen Republik hervorgegangen. Napoleon legte den ersten revolutionären Grundstein für das Regierungssystem der Schweiz, dem 1848, dem Revolutionsjahr par exellence, weitere beigefügt wurden. Entwickelt hat sich eine Kollektivregierung, dei nach dem Kollegialsystem funktioniert, das durch die direkte Demokratie kontrolliert, bisweilen auch geführt wird. Das alles ist nicht einfach seltsam, wie man im Spiegel meint, sondern weltweit ohne Vorbild – und damit revolutionär im wahrsten Sinne. Ueberlagert wird das alles durch einen merkwürdigen Strukturkonservatismus in der Schweiz, der mit Leuenbergers Vorschlag einen kräftigen Schups Richtung Führung bekommen hat, für die sich klarer als bisher jemand verantwortlich fühlen müsste. Das kann ich durchaus unterschreiben.

Claude Longchamp

Nochmals: Ist arithmetische oder politische Konkordanz das Richtige?

Politologen unterscheiden gerne zwischen politischer und arithmetischer Konkordanz. Erstere setzt darauf, dass Regierungsentscheidungen im Prinzip im Konsensverfahren gesucht werden, was ohne Kompromissbildung nicht möglich ist. Letztere bevorzugt die Zusammensetzung der Regierung nach einem klar festgelegten Schlüssel. Es gibt jedoch keinen Konsens darüber, sich nur auf eines der beiden Kriterien zu stützen, wenn man gute Politik will. Eine nochmalige Auslegeordnung.

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Nach Phasen der Konstanz ist Bewegung in die Zusammensetzung des Bundesrates gekommen – Zeit, auch als Politikwissenschafter nach neuen Kriterien der Sitzverteilung Ausschau zu halten

Daniel Bochsler, bienenfleissiger Analytiker der Konkordanz auf Kantonsebene, kam in einem 2006 publizierten Aufsatz zum Schluss, dass sich die meisten Kantone an der arithmetischen Konkordanz ausrichten, ohne ganz streng danach zu handeln.

Das hat zunächst mit der Volkswahl der Regierungen zu tun, aber auch mit der Vielfalt der kantonalen Parteien und der geringen Zahl der Regierungssitze. Im Einzelfall kommen deshalb erhebliche Abweichungen vor, wie die Kantone Aargau, St. Gallen oder Luzern im Stichjahr 2004 zeigten. Rasch wachsende Oppositionsparteien, die in der Regierungsratswahl fallieren, aber auch Allianzbildung an einem politischen Pol zur Ausschliessung gewisser Parteien, die nicht auf konsensualer Basis politisieren wollen, sind die Ursachen dafür. Immerhin, die Beispiele sind nicht die Regel, eher die Ausnahme. Kantone wie Wallis, Waadt, Thurgau, Tessin, Neuenburg und Zug funktionieren recht klar nach dem Prinzip der numerisch bestimmten Regierungsbildung.

Aufgrund klassischer theoretischer Annahmen zur Konkordanz bevorzugt Bochsler die arithmetische Konkordanz. Die Repräsentation politischer Minderheiten in den Regierung verhindere, dass sie oppositionelle Politik betreiben würden, ist sein Argument. Das ist in der Schweiz nicht ohne, denn die Möglichkeiten, die das Referendum bieten, zwingen zu konsensförderndem Verhalten, um Referenden zu vermeiden, und damit die Chance von Blockierungen zu verringern.

Neue Analysen des Funktionierens von Regierungssysteme lassen aber auch gegenteilige Argumente zu. Demnach sind Blockierungen von Regierungen umso wahrscheinlicher, je mehr Vetogruppen in die Regierung eingebunden sind, denn sie erschweren die Konsensbildung, vielleicht sogar die Mehrheitsbeschaffung. Bei breiten Allianzen ist es so gar möglich, dass sich verschiedene Vetogruppen aus unterschiedlichsten Gründen zur Blockierungsmehrheit vereinigen. Das kann nicht das Ziel von Regierungen sein.

Das ist denn auch der zentrale Einwand gegen Allparteienregierungen, welche das Repräsentationsprinzip aus der Parlamentswahl auf die Regierungswahl direkt übertragen. Sie maximieren die Integration politischer Minderheiten jeder Grösse in der Exekutive ohne zu fragen, ob das Ganze ein effektive Regierung abgibt. Denn gleichzeitig minimieren sie das Erfordernis der Entscheidungsfähigkeit in einer Grosszahl von politischen Fragen.

In der Tat konnte Bochsler bisher nicht zeigen, dass es eine nachweisliche Kausalkette von der arithmetischen Konkordanz zur politischen gibt, und beides zusammen bessere Entscheidung bewirkt. Entsprechend haben die Politikwissenschafter die rein arithmetischen Regeln der Regierungsbestimmung eher kühl aufgenommen. Andreas Ladner neigt am klarsten dazu; Iwan Rickenbacher lässt sie indessen kaum gelten. Pascal Sciarini bevorzugt zwischenzeitlich die Modell der kleinen Konkordanz, die auch Mitte/Rechts- oder Mitte/Links-Allianzen zulässt. Und Michael Hermann hängt der Volkswahl des Bundesrates an. Ich selber kann da nur beifügen: Wählerstärken und Sitzverteilungen sind sicherlich ein wesentliches Kriterium der Bestimmung Regierungsfähigkeit von Parteien. Die einzige Vorgabe sind sie weder in Konkordanz- noch in Allianz-Regierungen.

Denn nichts ist bewiesen, dass der Rechenschieber alleine zu einer guten Politik führt.

Claude Longchamp

Nachdenken über strategische Entscheidungen bei den Bundesratswahlen

Es war ein interessanter Meinungsaustausch mit Christoph Darbelley, dem CVP-Präsidenten, gestern, kurz vor der Entscheidung über eine CVP-Kandidatur bei den anstehenden Bundesratswahlen. Und es hat mich zum Nachdenken über generelle Strategien angeregt.

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Den Entscheid von CVP-Partei- und Fraktionsspitze kennt man seit gestern Abend. Bei den kommenden Bundesratswahlen tritt man nicht mit einer eigenen Kandidatur an. Ständerat Frick hatte in dieser Sache Druck gemacht, Fraktionspräsident Schwaller und Parteipräsident Darbelley waren von Anfang an zurückhaltend. Drei Gründe schimmerten gestern für den Verzicht durch:

. Eine über die Parteigrenzen hinaus unbestrittene Bewerbung aus den CVP-Reihen gibt es gegenwärtig nicht. Der eine oder andere Name ist zwar im Gespräch, wohl aber erst für die Zeit nach den nächsten Parlamentswahlen.
. Seit der Nichtwahl von Urs Schwaller vor einem Jahr orientiert sich die CVP vermehrt an der politischen Mitte. Selbst wenn die Allianz der Mitte eher thematisch ausgerichtet ist, bleibt, dass man die wahrscheinlichsten Partner in zentralen personalpolitischen Entscheidungen nicht ohne Not brüskieren darf.
. Interessant fand ich vor allem das dritte Argument: Ohne Gewinne bei den nächsten Parlamentswahlen werden Ansprüche nicht durchsetzbar sein. 2 Prozente WählerInnen-Anteil mehr für die CVP sind nötig, bei gleichzeitigen Verlusten für die fusionierten FDP/Liberalen.

Letzteres deutet darauf hin, dass sich die CVP vermehrt damit auseinander setzt, die Sitzverteilung im Bundesrat nicht unabhängig ist von Entwicklungen in der Wählerschaft zu sehen. Das tönte bis vor Kurzem noch anders. Klarer als auch schon kam zum Ausdruck, dass man damit aber noch nicht beantwortet hat, wie die Bundesregierung ausgerichtet sein sollte.

Aus meiner Sicht können vier Varianten strategisch begründet werden, die man für die nahe Zukunft vor Augen haben kann.

1. Weiter wie bisher: Konkordanz wird partei- und personenpolitisch beurteilt. Das zwar nur als Uebergang so, aber ohne zeitliche Limitierung. Die jetzige Zusammensetzung fällt erst, wenn Eveline Widmer-Schlumpf zurücktritt, allenfalls wenn sie abgewählt wird. Von Strategie kann man hier am wenigsten sprechen.
2. Rückkehr zur Konkordanz der Grossen: Regierungstauglich ist strikte nur, wenn eine minimale elektorale und parlamentarische Stärke hat. Die Verteilung richtet sich aufgrund der Grössen. Konkret heisst das aus gegenwärtiger Sicht: 2 SVP, 2 SP, 2 FDP, 1 CVP. Faktisch wäre das die Rückkehr zur Zauberformel.
3. Mitte/Links-Allianz: Uebergang zu einem Regierungs- und einem Oppsitionslager, erhöhte Konkordanz nur im Regierungslager, arithmetische Verteilung, in diesem Fall : 2 SP, 2 FDP, 2 CVP, 1 Grüne. Strategisch wäre das eine Neuausrichtung, müsste deshalb auch mit der Regierungsreform verbunden werden.
4. Mitte/Rechts-Allianz: Ebene Unterscheidung zwischen Regierungs- und Oppositionslager, erhöhte Konkordanz ebenso nur im Regierungslager, arithmetische Verteilung, wobei ja nach Entwicklung zwei denkbar sind: 3 SVP, 2 FDP, 2 CVP oder je 2 SVP; FDP, CVP und 1 BDP. Strategisch wäre auch das eine Neuausrichtung. Auch dass wäre wohl ohne Regierungsreform nicht möglich.

Die erste Variante spricht dafür, die beiden freien Sitze mit den gleichen Parteien zu besetzen. Denn ihre Neubesetzung betrifft keine zentrale Frage. In der zweiten Variante macht es keinen Sinn, einen der beiden Sitze durch eine andere Partei zu besetzen. Der BDP-Sitz muss an die SVP zurück. Gemäss der dritten Variante bleiben die beiden freien Sitze auch bei den bisherigen Parteien. Die CVP bekommt jedoch den BDP-Sitz, und die Grünen beerben die SVP. Nur in der vierten Variante macht eine Parteiwechsel jetzt Sinn. Dabei würde der SP-Sitz an die SVP gehen. Der FDP-Sitz würde bleiben. Allenfalls, allenfalls auch der BDP-Sitz. Bei der nächsten Möglichkeit ginge der zweite SP-Sitz an die SVP.

Gar keine Begründung gibt es, jetzt die Grünen zu Lasten der FDP zu stärken. Das wäre nur unter einer Allparteienregierung ohne Ausrichtung sinnvoll. Und das wäre ein Parlament in der Regierung, vielleicht 2 SVP und je 1 Person der SP, FDP, CVP, der Grünen und der BDP. Das macht am wenigsten Sinn von allem.

Claude Longchamp

Nützt Konkordanz einfach der SP, und schadet sie der SVP an sich?

In der aktuellen Weltwoche analysiert der emeritierte Fribourger Oekonom Henner Kleinewefers den Zerfall der Konkordanz und stellt hierzu eine gewagte Ursachenbehauptung in den Raum: Konkordanz sei politisch nicht neutral, sie benachteilige die Rechte, sprich die SVP, an sich. (M)ein Einspruch.

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Konkordanz ist kein “Parlament in der Regierung”, sondern ein Wille, gemeinsam politische Verantwortung zu tragen


Henner Kleinerwefers ökonomische Systemanalyse

Kleinewefers beginnt mit einer treffenden Begriffskritik: Regierungen, die nach rein numerischen Kriterien zusammengesetzt werden, tendieren zu Allparteienregierungen. Von solchen können man keine effiziente Politik erwarten. “Bravo!”, sag ich da.

Verbesserungen erwartet der Oekonom durch eine Verringerung von Spannungen, wenn Zahl und Ausrichtung der Parteien reduziert werden. Machbar seien entweder Mitte/Rechts-Regierungen mit SVP, FDP und CVP oder Mitte/Links-Regierungen mit SP, Grünen, CVP und FDP. Zu erwarten seien zwar Wählerabwanderungen zur jeweiligen Opposition, und mit Splitterparteien im eigenen Lager müsse man ebenfalls rechnen. Doch seien die Koalitionen heute stark genug, um das Experiment über Jahre hinweg zu überstehen. “Korrekt” ist da mein Kommentar.

Doch dann werden die Ableitungen aus der Politökonomie tendenziös. Warum nur, fragt sich Kleinewefers, hielten mit den Mitte-Parteien gerade jene an der Konkordanz fest, welche die eigentlichen Verliererinnen seien? Erklären könne man sich das nur mit der Angst, in einer Koalition noch mehr zu verlieren und unerheblich zu werden. Deshalb seien FDP und CVP konfliktscheu, was der SP nütze. Bald werde die Linke drei der sieben Sitze im Bundesrat beanspruchen, um ihren Einfluss zu mehren, ohne die Verantwortung übernehmen zu müssen.

Und jetzt kommt’s: Eine vergleichbare Positionierung sei der SVP an sich nicht möglich, weshalb sie sich zurecht als Verliererin der Konkordanz sehe und nur warten können, bis die unheilige “Allianz der Profiteure” an ihrer eigenen Schwäche untergehe.

Christian Bolligers Analyse des Parteienverhaltens

Der Berner Politikwissenschafter Christian Bolliger hat mit seiner Konkordanzanalyse eine klar andere Perspektive entwickelt und eine sinnvolle Unterscheidung vorgeschlagen: In Konkordanzregierungen bemisst sich der Erfolg von Parteien sowohl am Verhalten gegenüber der Wählerschaft wie auch dem gegenüber der anderen Parteien. Denn beides ist nicht gesichert, muss aber gleichzeitig in eine Balance gebracht werden.

Diese Analyse der Mitte deckt sich in ihrem Aussagen mit denen von Kleinewefers. Die Zentrumsposition hat Vorteile in Verhandlungen mit links und rechts, aber Nachteile in der Erneurung der Wählerschaft. Anders fällt das Urteil bei der “Linken” aus, denn sie zerfällt in zwei ungleiche Parteien: die SP als dauerhaft Regierungsbeteiligte teilt das Schicksal der Zentrumsparteien, hat aber komplementäre Probleme wie die Grünen, denn diese Wachen in der Opposition, ringen aber um ihre Regierungsbeteiligung.

Seit den Wahlerfolgen der SVP ist die Ausgangslage rechts anders. Wenn sie diese nur mit Distanz zu den Regierungspartnern hochhalten kann, erschwert sie ihre eigene Integration. Sollte sich die BDP etablieren, könnte das die Herausforderung der SVP erschweren.

Mein Schluss
Anders als bei Kleinewefers ist die Konkordanz bei Bolliger parteipolitisch neutral, wenigstens was die Polparteien einerseits, die Zentrumsparteien anderseits betrifft. Differenzen in ihrem Erfolg ergeben sich nicht aus der Position, sondern aus dem eigenen Verhalten, das Identitätsbildung mit der Wählerschaft und Kooperation mit den Regierungsparteien erfordert.

Anders als es Kleinewefers unterstellt, ist Konkordanz keine Allianz der Profiteure, die sich zwangsläufig gegen die SVP wendet. Vielmehr ist sie eine genuine Regierungsweise, die in plurikulturellen Gesellschaften mit ausgeprägtem Föderalismus und ausgebauten Volksrechten Sinn macht. Gewählt werden jene KandidatInnen und Parteien, die Unterstützung von mindestens zwei anderen grösseren Parteien haben.

Gleich wie Kleinewefers empfinde ich einige der jetzigen Diskussionen auch als Abweichungen von der Konkordanz – hüben wie drüben. Denn Konkordanz wird nicht durch ein Parlament in der Regierung gelebt, sondern entsteht aus dem Willen, gemeinsam Verantwortung tragen zu wollen. Das erträgt Abweichung von Fall zu Fall, aber keine Polarisierungen gegen Institutionen und Regierungsmehrheiten.

Ein geeignetes Regierungssystem und ein entsprechendes Parteienverhalten sind Voraussetzungen dafür.

Konkordanzen verschiedenster Art

Konkordanz ist in aller Parteien Mund, alleine jede versteht etwas anderes darunter. Ein Ordnungsversuch.

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Nach den letzten Bundesratswahlen war man sich einig: Ein Sieg der Konkordanz, sei das gewesen. Jetzt diskutiert man wieder darüber, wenn auch in alle Richtungen!


Eine Frage der Zahlen …

Die arithmetische Konkordanz für die Bestimmung der Bundesratszusammensetzung ist am klarsten definiert. Sie stellt auf Parteistärken ab. Mehr oder weniger unbeeinflusst kann diese, nach jeder Wahl, anhand der Parteistärken im Nationalrat oder der Sitzzahlen in beiden Parlamentskammern bestimmt werden. Im Einzelfall ergeben sich daraus unterschiedliche Schlüsse, was der Sache etwas von ihrer Präzision nimmt. Aktuell berufen sich fast alle Parteien darauf, am klarsten die SP. FDP und CVP betrachten das Kriterium ebenfalls als Referenz, greifen aber aus Eigennutz auf verschiedene Indikatoren zurück: die FDP stellt strikte auf die Wählerstärken ab, die CVP auf die Fraktionsmitglieder. Die SVP wiederum, welche die rein arithmetische Bestimmung der Bundesratsformel aus ebenso nachvollziehbaren Gründen favorisierte, bezieht sich darauf, wenn sie ihren Anspruch auf zwei Sitze legtimieren will, nicht aber, wenn sie dafür die Ansprüche anderer Parteien in Frage stellt. Selbstredend ist schliesslich auch, dass die Grüne mit dieser Definition liebäugeln, während die BDP davon nichts wissen will.

… der Uebereinstimmung …

Das Gegenstück ist die inhaltliche Konkordanz. Dabei geht es um sachpolitische Uebereinstimmungen. Die Allianz der Mitte, die sich diesen Sommer zu bilden begann, stützt sich auf diesen Gedanken. Die Zusammenarbeit in der Regierung soll sich auf Uebereinstimmungen in wesentlichen Dossiers stützen. Wer das vermehren will, ist regierungsfähig, wer dem indessen wiederspricht, erfüllt das Kriterium nur beschränkt. Die Schwäche dieser Definition ist, nur bedingt operabel zu sein. Denn was wesentlich ist, umschreiben die verschiedenen Protagonisten meist unterschiedlich. Es ist auch eine Definition, die dem Zentrum eher nützt, den Polen eher schadet. Zudem lehnt sie sich stark an parlamentarische System an, die auf Koalitionsbildung ausgerichtet sind. Der Funktionsweise direkter Demokratien ist sie nur bedingt angemessen. Und der föderalistischen Struktur der Schweizer Parteien trägt sie ebenfalls kaum Rechnung. Deshalb ist und bleibt sie wohl die Aussenseiterin unter den Konkordanzdefinitionen, und hat sie operativ auch kaum Konsequenzen für die eine oder andere Partei.

… des Willens …
Beliebter ist es in der Schweiz, statt auf thematische Uebereinstimmung auf den Willen zur Kooperation anzustellen. Eine der Gründungsmythen des Landes kommt damit ins Spiel: eidgenössisch kann man kaum abstrakt definieren, aber konkret als der Wille jener Orte, dann Kantone und schliesslich Parteien, die es auf Dauer miteinander versuchen wollen. Respekt vor dem Institutionen, grundlegenden Werten der Schweiz und dem politischen Gegner, nicht Uebereinstimmung mit ihm wurde dabei zum zentralen Stichwort. Die historischen Feinde FDP und CVP müssen sich untereinander vertragen; für SVP und FDP, die gemeinsame Wurzeln haben, wirtschaftspolitisch aber verschiedene Wegen gingen, gilt das Gleiche, und die Bürgerlichen und Linken, zwischen denen es seit der Russischen Revolution tiefe Gräben gibt, müssen mit ihrem Verhalten beweisen, dass sie gemeinsam regierungswürdig sind. Vor allem in den Kantonen ist das eine unverändert beliebte Formel: Die Parteien, die regieren wollen, stellen ihrer Bewerbungen, das Volk als unabhängiger Akteur wählt aus, und danach hat man, egal in welcher Kombination zu kooperieren. Dem ganzen förderlich ist das Majorzwahlrecht, das daraus auch seine wichtigste Legitimation gerade auch für Regierungswahlen in der Schweiz bezieht. Eveline Widmer-Schlumpf und die BDP insistieren gerne auf diese Definition. Damit finden sie, ausser bei der SVP, bei allen anderen Partnern mehr oder minder Unterstützung.

… der Macht …

Gegenwärtig haben wir es höchstwahrscheinlich mit einem vierten Verständnis von Konkordanz zu tun, das am wenigstens einheitlich definitiert ist. Das hat mit der Sache selber zu tun: Zur neuen politischen Kultur gehört es, das Ich im Wir in den Vordergrund zu rücken. Zuerst zählen die Eigeninteressen der Parteien, die rücksichtslos definitiert werden. Dann sucht man Allianzen von Fall zu Fall – und scheint ebenso vor nichts zurück. Im Einzelfall ist das möglich, als Ganzes wenig stabil. Denn die damit verbundene Machttaktik, die sich über Einbezug und Ausgrenzung definiert, kann in einer bestimmten Sachfrage zu dieser Folgerung, in Personenfragen schnell auch zu anderen Schlüssen führen. So pokert jeder überall ein wenig, für sich und gegen die andern – bis ins Herz der Regierung hinein. Entsprechend ist daran Kritik laut geworden. Das “Wir” muss gegenüber dem “Ich” wieder gestärkt werden, um den hohen Ansprüchen der Konkordanz zu genügen – im Bundesrat und unter den Parteien, die da vertreten sein wollen. Und: Das Momentane muss gegenüber den Anhaltenden zurückgestuft werden. Da das alles im Fluss ist, ist bisher nicht verbindlich ableitbar geworden, wie eine neuen Regierung auf Bundesebene parteipolitisch zusammengesetzt werden sollte.

Die eigentliche Frage ist nur, was wirklich Gültigkeit beanspruchen kann? – Konkretisierung habe ich in diesem Interview mit Samuel Reber vom newsnetz gesucht. Weitere Antworten sind durchaus erwünscht …

Claude Longchamp

«Non più di otto anni in Consiglio federale»

Nachstehend das aktuelle Interview mit der Cooperazione, der italienischsprachige Ausgabe der COOP-Zeitung. Für einmal ist Alles auf Italienisch!

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Il noto politologo e sondaggista ci parla delle prossime elezioni al Consiglio federale, del ruolo dei media, di possibili riforme.

Cooperazione: Si è temuto che il parlamento dovesse affrontare due elezioni al Consiglio federale in due sessioni successive. Ora tutto è chiarito, i due ministri saranno eletti in settembre. Se l’aspettava?
Claude Longchamp:?No, fino all’ultimo momento non ci credevano neppure i due diretti interessati, i consiglieri federali Leuenberger e Merz. Per fortuna ora il processo è stato riportato su binari normali. Queste elezioni potrebbero marcare una cesura, un nuovo inizio per il governo. Sarebbe un segno di svolta importante rispetto alla difficile situazione vissuta durante le discussioni sul segreto bancario, quando sembrava che il governo si stesse spaccando.

Cosa ha indotto secondo lei Moritz Leuenberger ad anticipare le sue dimissioni?

C’è stata una forte reazione dell’opinione pubblica, trasversale a tutti i partiti. Credo che questa sia stata la causa principale. È anche questo indice di una presa di coscienza: i politici non sono individui che possono decidere da soli, operano sempre sotto lo sguardo dell’opinione pubblica. Moritz Leuenberger ha capito di potersene andare da uomo di Stato, facendo nello stesso tempo un favore al suo partito.

Sembra ci siano le premesse per un’elezione ordinata, senza troppi colpi di scena. Pensa che i partiti e i media sapranno cogliere l’occasione?
Oggi le elezioni al Consiglio federale sono al centro dell’attenzione mediatica. È una tendenza generale, nella nostra società; deriva in fondo da un bisogno di maggior trasparenza. In questo senso, non è in sé un fenomeno negativo. Ma può avere aspetti negativi, come si è già visto in passato. Il primo si manifesta in attacchi personali; tutti ricordano la campagna contro la socialista Christiane Brunner. L’altro è il tentativo dei media di dettare il nome dei candidati. È accaduto per esempio nel 1999, dopo le dimissioni dei due consiglieri federali Flavio Cotti e Arnold Koller. Al momento non vedo però segnali in questo senso.

Non si aspetta sorprese?

Dipende da cosa s’intende per sorpresa. Di fatto, ci sono due candidate favorite: Simonetta Sommaruga per il partito socialista e Karin Keller-Sutter per i liberali-radicali. La prima è molto popolare, la seconda è favorita soprattutto per motivi di politica regionale. Probabilmente ci sarà una discussione sulla presenza di cinque donne in governo. Nessun governo al mondo ha una quota femminile del 73%. A soli quarant’anni dalla concessione del voto alle donne, la Svizzera diventerebbe campione della presenza femminile in governo. Un fenomeno fantastico, anche dal punto di vista dell’immagine.

Si discute anche della rappresentanza della Svizzera italiana in governo…
Se guardiamo alla storia della Confederazione, non si può dire che la Svizzera italiana sia stata sottorappresentata. Prima e durante la guerra, per motivi di politica linguistica, la Svizzera italiana aveva un posto assicurato in governo. La situazione è cambiata con la formula magica. La Svizzera italiana deve comunque accettare di essere una minoranza. E imparare che per avere successo, una candidatura deve essere sostenuta da un partito forte e preparata per tempo.

Che ne pensa dell’idea di fare eleggere il Consiglio federale dal popolo?

Sono un avversario dichiarato di quest’idea. Non farebbe che aumentare la mediatizzazione della politica e le tendenze individualiste all’interno del governo. Io avrei un’alternativa: limitare a otto anni il mandato dei consiglieri federali, riducendo anche le possibilità di dimissioni prima della scadenza del mandato.

Wie sich die CVP die Regierungsreform vorstellt

Unübersehbar, Doris Leuthard, unsere gegenwärtige Bundespräsidentin, möchte in ihrem Präsidialjahr eine griffige Regierungsreform verabschieden. Neuerdings erhält sie von ihrem Parteipräsidenten Christophe Darbellay Unterstützung. Allerdings gehen beide zu wenig konsequent vor, denke ich.

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Darbellay Befund im NZZ-Interview ist klar: Steit im Bundesrat gab es immer. Doch häuft sich der spätestens seit der Finanzkrise. Kennzeichen des Bundesrates 2010 ist: Dass es primär Departementschefs gibt, aber nicht sieben Bundesräte.” Gefordert sind eine stärkere Leadership, aber auch Institutionen, die für die Arbeit im 21. Jahrhunderts geschaffen sind.

Auch der CVP-Chef will primär beim Präsidium ansetzen. 4 Jahre soll es inskünftig dauern, 2 mehr als es der Bundesrat vorschlägt. Und es soll mit einem Dossier verbunden bleiben, das Gewicht hat. Vorziehen würde Darbellay es, wenn der oder die BundespräsidentIn gleichzeitig auch das Aussendepartement führen würde. Gewählt werden müsste diese Person vom Parlament – und notfalls auch von diesem abgesetzt werden können.

Den Hauptgrund sieht der Walliser Nationalrat in der Aussenkommunikation des Landes: “Die Schweiz braucht international ein Gesicht und Beziehungen.” Die Anspielung auf den aktuellen Fall ist unübersehbar. Die Schweiz muss sich daran gewöhnen, dass eine Regierung nicht nur nach innen repräsentiert, sondern auch nach aussen eine Ansprechsperson braucht.

Nicht einstimmen mag Darbellay in das Lieblingsspiel der Medien. Köpfe hochjubeln, einen wählen, fallen lassen und Rücktritt fordern. Das mag der CVP-Präsident nicht. Er will, “dass er seine Arbeit macht und endlich schweigt.” Aufklärung bringen müsse das Parlament selber; spätestens bis im Herbst 2009.

Einen Punkt sieht Darbellay zweifelsfrei richtig: Die Regierungsreform muss beim schwächsten Glied in der Kette anfangen. Und das ist das Präsidium. 4 Jahren sind besser als 2, und zwei sind besser als 1. Das Präsidium darf sich auch nicht selber konstituieren; es muss dem Parlament direkt verpflichtet sein.

Geteilter Meinung kann man sein, ob das Präsidium mit einem Dossier verbunden sein soll oder nicht. Denn es ist auch denkbar, dem neuen Präsidium eine erweiterte Bundeskanzlei zu unterstellen. Koordination im Innern des Gremiums, Kommunikation nach Aussen wären die zentralen Aufgaben.

Die Nähe zur Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik sehe ich sehr wohl, nicht aber die Personalunion. Denn es kann auch von Nachteil sein, wenn man gleichzeitig ein Dossier führt und alle anderen zu verknüpfen suchen muss. Deshalb plädiere ich hier für Trennung, kann mir aber einen Aussenminister oder eine Aussenministerin als Vize sehr wohl vorstellen.

Für eine umfassende Reform des Regierungssystems

Die Beobachtung ist fein und trifft: Wenn sich der Bundesrat trifft, sitzt jeder und jede an einem eigenen Pult. Besser wäre ein runder Tisch, um zu einem gemeinsamen Handeln zu kommen.

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Alleine stehen gelassen: Die Vorschläge des umfassenden Regierungsreformes Fässler gingen dem Bundesrat zu weit. Ich finden, sie haben etwas für sich.

Das jedenfalls sagt Ulrich Fässler, früher FDP-Regierungsrat in Kanton Luzern, dann Delegierter des Bundesrates für die Bundesverwaltungsreform, im heutigen “Bund” (leider nicht auf dem web). 2007 lieferte er sein Gutachten ab – ohne grossen Erfolg zu haben, denn der Bundesrat folgte seiner Gesamtschau nicht.

Was die Reform eben dieses Bundesrats angeht, hat der Luzerner keine Binnen-, sondern eine Aussensicht. Verlängertes Präsidium und mehr StaatssekretärInnen, wie es der Bundesrat selber wünscht, lehnt er zwar nicht rundweg ab, nennt er schon mal “das Pferd am Schwanz aufzäumen.

Sein Reformplan, der ohne Gesetzänderungen realisiert werden könnte, sieht vor:

Erstens, intensive Nutzung der Mittel zur Früherkennung neuer Probleme;
zweitens, regelmässige Klausurtagungen der Landesregierung, um Schwergewichte der Arbeit zu setzen;
drittens, radikale Vereinfachung und Beschleunigung der Vorbereitung von Bundesratssitzungen;
viertens, Beizug interner und externer ExpertInnen bei kritischen Fragen;
fünftens, Entlastung des Bundesrates durch Aufwertung der GeneralsekretärInnen-Konferenz; und
sechstens, interdepartementale Taskforces in Not- und Krisenfällen.

Daran ist nicht alles neu; auch nicht alles wird vom Bundesrat abgelehnt. Vielmehr ist es die Gesamtsicht, die mir hier gefällt – und wohl auch zur Rückweisung geführt hat.

Denn diese orientiert sich an einem modernen Führungsverständnis, das zielgerichteter als das bisherige, effizienter als das bekannte und durchsetzungsfähiger als der status quo sein sollte. Der Bundesrat würde sich vom Repräsentionsgremium der Kräfte im Parlament zum eigentllichen Leitungsorgan der Staatsgeschäfte entwickeln.

Fässler will dabei nicht stehen bleiben. Seine Meinung war, dass das bis Ende der laufenden Legislatur bewältigt werden müsste. Bis 2015 wäre dann eine Reorganisation der Aufgaben und Departemente angestanden. Und bis 2020 wäre es die Aufgabe von Regierung und Parlament, die zahlreichen Doppelspurigkeiten im föderalistischen Gefüge zu beseitigen. Denn die Krise des Regierungssystems in der Schweiz ist seiner Meinung nach kein Problem von Personen, vielmehr ihrer Chancen, auf Bund- und Kantonsebene gemeinsame Ziele zu formulieren, an deren Umsetzung gezielt gearbeitet werden könnte.

Bei der Krisenbewältigung keine Option ausgeschlossen – und bei der Regierungsreform?

Seit alle in Libyen festgehaltenen Schweizer in der Schweiz in Sicherheit sind, erfährt man Tag für Tag mehr über Abläufe und Hintergründe ihrer Arrestierung. Spektakulärster Höhepunkt bisher sind die gestern publik gemachten Planspiele für militärische Befreiungsaktionen.

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Chapatte zum Thema, warum es zur Befreiung von Göldi/Hamdani zu keiner militärischen Intervention der Schweiz in Libyen gekommen sei.

Bundesrätin Micheline Calmy-Rey beschreibt in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger die Eskalation des Prozesses, der mit der Verhaftung von Hannibal Ghadafi 2008 in Genf begann. Unmittelbar danach sei ein Krisenstab aus Justizvertretern der Schweiz und Libyens eingesetzt, dann anfangs 2009 die Regierungsebene eingeschaltet worden. Mitte Jahr habe der Bundesrat dann entschieden, eine Lösung auf höchster Staatssufe zu suchen. Obwohl sich die Schweiz entschuldigt, einen Vertrag geschlossen und einem Schiedsgericht zugestimmt habe, kam es wegen der libyschen Seite zu keiner Lösung.

In der Folge habe man schweizerischerseits aus der Druck erhöht. Die Visa-Restriktionen hätten sich dank dem Schengen-Abkommen als wirksamste Methode erwiesen. Geprüft worden seien auch andere Vorgehensweisen, denn, so Calmy-Rey, in einer Krise dürfe man a priori keine Möglichkeit ausschliessen. Zu konkreten Plänen für eine Militärinvention wollte sich die Aussenministerin aber nicht äussern, ausser, dass solche Aktionen in der Schweizer Oeffentlichkeit mehrfach diskutiert worden seien und das nicht auf taube Ohren gestossen sei. Konkret heisst das, es gab sie.

Gemäss der Schweizer Aussenministerin waren drei Momente besonders schwierig: als Rachid Hamdani freigelassen, Max Göldi gleichzeitig ins Gefängnis geführt worden sei; als die Visa-Restriktion gelockert werden mussten, ohne dass Libyen Gegenleistung erbracht habe; und als man letzten Sonntag in Tripolis die konkreten Modalitäten der Freilassung geregelt habe.

Befreiungsaktionen der Arretierten, hält der Tages-Anzeiger aufgrund eigener Recherchen fest, seien für den Schweizer Geheimdienst zweimal zur Disposition gestanden: Ende 2008 und Mitte 2009. Im ersten Fall wollte man sie nach Algerien bringen, was dieses akzeptiert habe, doch forderte es die Freilassung politischer Gefangener in der Schweiz. Das zweite Mail sei eine Ueberführung nach Niger geplant gewesen, doch sei es nicht zustande gekommen, weil vermutlich Algerien Libyen informiert habe.

Bundesrat Merz soll sich gestern im Bundesrat schriftlich beklagt haben, pber mögliche Befreiungsaktionen nicht informiert gewesen zu sein, als er in Libyen weilte. Offizielle Informationen gab es dazu nicht, inoffiziellen zu Folge sei der Gesamtbundesrat in die Vorbereitungen, bei denen es schliesslich geblieben sei, nicht involviert gewesen, der Sicherheitsausschuss indessen schon.

Das Ganze erinnert in hohem Masse an die Befunde der GPK zur Funktionsweise des Bundesrates als Kollegium in Sachen UBS. Auch da dominierte die departementale Logik und wurde der Gesamtbundesrat nur schrittweise und erst bei der Entscheidung vollständig miteinbezogen. Gerade dieser Prozess erscheint untergeregelt zu sein, und in der Praxis stark von der Kooperationsbereitschaft der Departementschefs abzuhängen. Das kritisierte vorgestern auch Franz Steinegger, der ehamalige FDP-Präsident und “starke Mann” im Parlament.

Der aktuelle Fall ist noch etwas komplizierter, weil auch der Bundespräsident eingeschaltet wurde. Doch das erwies sich als eigentlicher Bumerang. Gegenüber Libyen brachte zeigte es nicht die erhoffte Wirkung, in der Schweiz problematisierte es aber symbolträchtig die Leistungs(un)fähgikeit der Bundesrates.

So bleibt mir nur eine Bilanz: Bei der Krisenbewältigung schloss der Bundesrat keine Option aus – bei der Regierungsreform müssen die Optionen aber erst noch auf den Tisch gelegt werden.

Von Uebermenschen und Kleinbürgern, Regierungen, Parlamenten … und Verwaltungen

Dieter Freiburghaus, bis vor kurzem Professor für europäischen Studien am IDHEAP, der Kaderschule der Schweizer Verwaltungen, nimmt zur laufenden Diskussion zu überforderten Bundesräten und Regierungsreform Stellung. Weniger den Bundesrat kritisiert er, mehr das Parlament, und er verschweigt, dass hinter allem eine starke, ausgleichende Verwaltung steht. Davon hätte man aus berufenem Munde gerne mehr gehört.

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Dieter Freiburghaus, emeritierter Professor am IDHEAP, wo er jahrelang die Kader der Verwaltungen von Bund und Kantonen ausgebildet hat.

Zuoberst in der politischen Hierarchie sieht Freiburghaus Volk und Stände. Sie bestimmen das Zweikammern-Parlament der Schweiz. Dieses wählt den Bundesrat und das Bundesgericht. Und es übt die Oberaufsicht aus, wie es sich seit 1848 geziemt!

Gewollt sei, so der Mathematiker, Oekonom und Politikwissenschafter, dass wir auf Bundesebene keine starke Regierung haben. Eigentlich haben wir überhaupt keine Regierung, keinen Ministerpräsidenten, keine Richtlinienkompetenzen, keine verbindliche parlamentarische Mehrheit, keine Parteidisziplin und keine kohärente Regierungspolitik. Es sei das Vorrecht des Parlamentes, das zu zuersausen, was es vorgelegt bekomme. Und Gleiches dürfe mit den Referenden auch das Volk, bisweilen auch die Stände. Das alles sei dann zusammenfasst “Konkordanz”!

Angesichts schwacher Strukturen für den Bundesrat erwarteten wir, dass Uebermenschen die Defizite kompensieren würden. Schlimmer noch: Die medialen Uebermenschen müssten kleinbürgerlich wie wir selber sein, damit wir uns mit ihnen identifizieren können. Klappen werde das alles nie

Das Parlament, so urteilt der Wissenschafter in Pension, habe mit dem GPK-Bericht seine Verantwortung wahrgenommen. Es habe einen Splitter im Auge des Bundesrates entdeckt. Und es übersehe geflissentlich den Balken in seinem eigenen. Daran müsse man arbeiten, wenn man weiter kommen wolle.

Die Schweiz habe die Finanzkrise besser bewältigt als die meisten anderen Staaten, hält Freiburghaus dem Klagelied entgegen, in das er selber eingestimmt hat. Warum? Wegen der Verwaltung, möchte man in Ergänzung zum Kommentar von Freiburghaus in der NZZ beifügen. Darüber würde man IDHEAP-Professor, der sein Leben lang dessen Kader ausgebildet hat, gerne mehr erfahren.

Denn das Funktionieren der Administration als Hemmschuh in starken Zeiten ist eine gängiges Thema der gängigen Staatskritik. Ihre Wirkung als Stabilisator in Krisenzeiten ist dagegen bisher kaum diskutiert worden.