Politeratur 2015

2015 sind einige aufschlussreiche und bemerkenswerte Bücher zur Schweiz oder mit Bezug hierzu erschienen. Ein Dutzend habe ich für meinen kleinen Rückblick auf das Buch-Jahr 2015 herausgegriffen.

Lesen habe Zukunft, stand in der letzten “NZZ am Sonntag”. selbst wenn ich 2015 etwas mehr Zeit mit twittern verbracht habe als früher, auch bei mir blieb das Lesen eine regelmässige Beschäftigung – während der Nacht, am Abend, aber auch am Tag. Was dabei Eindruck gemacht hat in der Übersicht.

Politikwissenschaft:
. P. Sciarini, M. Fischer, D. Traber: Political Decision-Making in Switzerland. The Consensus Model under Pressure. Palgrave Macmillan, London/NewYork 2015.
Namentlich das Verhalten der politischen Eliten hat sich in der Schweiz des 21. Jahrhunderts Richtung Konflikt verändert, was die Konsensdemokratie und die Konkordanz der Regierungen in Frage stellt.

. “Consensus lost? Disenchanted Democracy in Switzerland”, ed. by D. Bochsler, R. Henggli, S. Häusermann. Special Issue Swiss Political Science Review, Wiley, Decembre 2015.
Etwas ungleiche geratene, insgesamt aber illustrative Sammlung von Aufsätzen zu “Lage der Nation” nach dem verlorenen Konsens – mit einer hilfreichen Einordnumg von Hanspeter Kriesi.

. M. Freitag, A. Vatter (Hg.): Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz. NZZ Libro, Zürich 2015.

Voluminöser Sammelband zur Wahlforschung in der Schweiz aus Sicht der Berner Politikwissenschaft – vor den Wahlen 2015 verfasst, aber auch darüber hinaus in Vielem der geltende Massstab.Meine Besprechung.

. Bürgerstaat und Staatsbürger. Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne, hgg. von A. Müller. Avenir Suisse, Zürich 2015.
Erfrischende Bestandesaufnahme zu einem vernachlässigten Grundprinzip der Schweizer Politik, verbunden mit der optimistischen Hoffnung, es auch in die Zukunft retten zu können.

Sozialwissenschaften:
. R. Blum: Lautsprecher und Widersprecher. Ein Ansatz zum Vergleich der Mediensysteme. Herbert von Halem Verlag, 2015.
Neuartige Typologie der Mediensysteme auf der ganzen Welt, mit einer Einordnung des schweizerischen Mediensystems im Schnittfeld von Service-public- und liberalem Modell.
Meine Besprechung.
. Jahrbuch Qualität der Medien 2015, hgg. vom fög, Schwabe Verag, Basel 2015.
Rückschau auf den kritischen Stand der Medien(nutzung) 2015, vor allem mit einem alarmierenden Bericht zur Entkoppelung junger MitbürgerInnen von Informationsmedien.

. U. Mäder. macht.ch. Geld und Macht in der Schweiz. Rotpunktverlag 2015.

Langgezogener, materialreicher Essay der Basler Soziologen zur ungleichen Machtverteilung in der Schweizer Gesellschaft, aus pointiert linker Sicht mit entsprechender Herrschaftskritik.

Geschichtswissenschaft:
. J. Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. C.H.Beck, München 2015.
Fundamentale Grundlegung der jüngsten Schweizer Geschichte durch den emeritierten Guru der Schweizer Zeithistoriker, mit perspektivischen Bezügen bis in die heutige Zeit.

. Integration am Ende? Die Schweiz im Diskurs über ihre Europapolitik, hgg von M. Schweizer, D. Ursprung. Chronos Verlag, Zürich 2015.

Ein Lesebuch mit zentralen Texten zur Schweizer Europapolitik aus den Jahren 1969 bis heute, vor allem mit einem bunten Bogen von Entwürfen für die Zukunft.

. F. Rogger: “Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte. Marthe Gosteli, ihr Archiv und der übersehene Kampf ums Frauenstimmrecht. NZZ Libro, Zürich 2015.
Das Lebenswerk der Berner Frauenrechtlerin Marthe Gosteli als Geschichtsbuch zur Frauengeschichte der Schweiz nach dem Motto, wer die eigene Geschichte kennt hat Vorbilder und Zukunft.

T. Maissen: Schweizer Heldengeschichten – und was dahinter steckt. Hier& Jetzt Verlag, Zürich 2015.
Streitschrift der liberalen Historikers Maissen, gegen den Nationalkonservatismus gerichtet, die im Vorwahlkampf zu den Parlamentswahlen selber ein wenig Geschichte schrieb.

. D. Bewes: Mit 80 Karten durch die Schweiz. Eine Zeitreise. Hier & Jetzt Verlag, Baden 2015.

Origineller Zugang zur Schweiz, via die speziellsten Karten zwischen 1480 und 2016 von der Schweiz als kreisrunder Insel bis hin zu ihrem Gotthardtunnel.

Natürlich hätte es eine ganze Reihe weiterer Erwähnungen geben können. Ich habe mich aber bewusst auf ein Dutzend Empfehlungen beschränkt. Ergängende Vorschläge sind deshalb willkommen.

Claude Longchamp

Wahlforschung zwischen Theorie und Praxis: Mein Rückblick auf die Wahlen 2015 als Vorlesung

Die Vorlesung im Frühlingssemester 2016 will Studierende der Politikwissenschaft (oder verwandter Disziplinen) an der Universität Zürich in den Stand der Wahlforschung ganz allgemein und speziell der aktuellen Wahlanalyse in der Schweiz einführen. Gegenstand sind dabei die Wahlen 2015, also die jüngsten National-, Stände- und Bundesratswahlen. Sie sollen im Lichte der Theorien analysiert werden.

Die Grosswetterlage
Das Wahljahr 2015 begann mit den Wahlen in Griechenland, und es endete mit jenen in Spanien. Zweimal gewannen neue Parteien der Linken, und zweimal verloren Konservative ihre mehrheitliche oder starke Stellung in einem EU-Mitgliedstaat. Damit nicht genug: Spätestens seit den EU-Wahlen 2014 ist auch der Aufschwung rechtsnationaler Kräfte ein grosses Thema in Wahlanalysen geworden. In Ungarn und Polen bilden Repräsentanten dieser Richtung die nationale Regierung, und in zahlreichen Ländern Europa hängen die Exekutiven von rechtoppositionellen Kräften ab. Verlierer war häufig die klassische Linke. Neuerdings stellt man sich gar die Frage, ob die EU angesichts Terrorismus, Flüchtlingskrise und Sparpolitiken auseinander brechen könnte.

Die Wahlen in der Schweiz

Die jüngsten Wahlen in der Schweiz waren nicht minder interessant. SVP und FDP verfügen im Nationalrat zusammen mit kleinen Rechtsparteien neuerdings über eine Mehrheit. In den Ständeratswahlen dominierte zwar die Konstanz, doch Variabilität zeigte sich auch bei den Bundesratswahlen, wo die SVP zulasten der BDP gestärkt wurden.
Allgemein sprach man bei den Wahlen 2015 von einem Rechtsrutsch. Wer ganz genau hinschaute, sprach auch innerhalb der Parteien von einem Rechtstrend. Eindeutiger Verlierer der Wahlen 2015 war die junge BDP, die nach acht Jahren den Status als Regierungspartei einbüsste. Verloren haben aber auch die verschiedenen grünen Parteien, die Wählende angaben, ebenso Sitze und wohl auch die Themenführung in der Oekologie-Frage einbüssten.
In ersten Kommentaren verwiesen PolitikwissenschafterInnen darauf, dass die Gewinnerparteien gleichzeitig auch über die grössten Werbebudgets verfügten. Analysiert wurde die Wirkung der Mobilisierung Erst- und Neuwähler, welche die Siegerparteien verstärkten. Gesucht wurden Schlüsselthemen der Legislatur, verbunden mit der Frage, wer sich in Migrations-, Europa- und Finanzfragen in welcher Konstellation durchsetzen werden. Zahlreiche Stimmen zeigten sich skeptisch, dass es zu Blockbildungen kommen werde, denn ohne die (geschwächte) Mitte werde es keine stabilen Mehrheiten geben.

Das Konkrete und das Abstrakte

Was heisst das alles aus Sicht der politik- resp. sozialwissenschaftlichen Wahlforschung? Was ändert sich in der Politik, in den Prozessen und den institutionellen Grundlagen hierzu? – Diesen Fragen geht meine Bachelor-Vorlesung im Frühlingssemester 2016 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich nach.
Praxisbezogen ist die Veranstaltung, weil sie von konkreten Beispielen aus dem Wahljahr 2015 ausgeht. Theoriebezogen ist sie, weil sie das Konkrete mit den abstrakten Vorstellungen der Wissenschaft analysieren wird. Zur Sprache kommen die Entwicklungen des politischen Systems, aber auch des Medien- und Parteiensystems. Gezeigt werden die Einflüsse des Wahlrechts und neue Konfliktlagen auf deren Strukturen. Vorgestellt werden die wichtigsten Erkenntnisse aus der amtlichen Statistik, aber auch der politikwissenschaftlichen Erstanalysen. Erstmals behandelt werden auch die zahlreichen datenjournalistischen Produkte, die den Wahlkampf 2015 mitprägten. Genauso behandeln werde ich erstmals den Gebrauch sozialer Medien im Wahlkampf.
Dabei geht es nicht um eine Chronik der Ereignisse, vielmehr um Material, das aufgrund ökonomischer, psychologischer und medienwissenschaftlicher Theorien zum Verhalten der Wählenden untersucht werden soll. Zudem werden die Wahlen als Teil der politischen Partizipation besprochen und des Wandels der politischen Kommunikation. Schliesslich ziehe ich Bilanz, was die Wahlforschung vor dem Wahltag kann, und welche Rolle die Politikwissenschaft bei Wahlen spielt.

Ein Experiment
Das Ganze ist ein Experiment. Meine bisherige Vorlesung zur Wahlforschung war systematischer aufgebaut, quasi von der Theorie geleitet, verbunden mit einzelnen Anwendungen. Neu wird das Schwergewicht verlagert: Das Anschauliche soll bestimmen, wozu referiert wird ohne dass ich dabei stehen bleiben werde.
Interessierte melden sich bei der Ausschreibung mit Vorteil rasch an, denn die Lehrveranstaltung „Wahlforschung in Theorie und Praxis“ ist in der Regel schnell ausgebucht.

Claude Longchamp

Vier Voraussetzungen des Erfolgs bei Ständeratswahlen

Im Volksmund gelten Ständeratswahlen als Persönlichkeitswahlen. Nationalratswahlen seien dagegen Parteienwahlen. Die Wahlforschung ist sich da weniger sicher. Sie sieht beide Wahlen als Mischung von Ursachen, denn mit der Werbung sind Nationalratswahlen heute personalisierter, und die Polarisierung hat Ständeratswahlen parteiischer gemacht.

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Vier Bestimmungsgrössen von Ständeratswahlen gelten heute als zentral:
1. Wie bei anderen Majorzwahlen auch haben Bisherige eine grosse Chancen, wiedergewählt zu werden, wenn sie eine Politik betrieben haben, die von Mitte-Wählenden akzeptiert wird.
2. Wenn Amtierende nicht mehr antreten, haben Kandidierende der gleichen Partei, die grösste Chance gewählt zu werden, wenn sie sich im Zentrum empfehlen können.
3. Wenn weder die Bisherigen noch ihre Partei mit einer Personen antreten, die obige Bedingungen erfüllen, haben Mitte-Bewerbungen, die sich in einer Majorzwahl bewährt haben, die grösste Chance zu reüssieren.
4. In kleinen Kantonen spielen Parteien weniger eine Rolle, sind die Personen und ihr Werdegang unabhängig von Parteien wichtiger.

Letztlich fällt 2015 nur die Abwahl von Luc Recordon durch dieses Raster. Bemerkt sein allerdings, dass er gemäss Ständerats-Rrating noch linker politisierte als Géraldine Savary, die wiedergewählte Sozialdemokratin. Hinzu kam, dass er von bürgerlicher Seite gezielt und koordiniert herausgefordert wurde. Die anderen 34 StänderätInnen, die sich erneut bewarben, schafften allesamt die Wiederwahl. Von den 8 Bewerbungen auf einen Rücktritt, die aus der gleichen Partei(familie) wie der Amtsinhaber kamen, war einzig der von Martin Bäumle (GLP) kein Erfolg beschieden. Der Sitz ging an Daniel Jositsch, einem eingemitteten Sozialdemokraten. Und im Kanton Uri ging die Nachfolge des anderen GLP-Vertreters im Stöckli nach der dritten Regel an den FDP-Regierungsrat Dittli. Bleibt der Sitztausch zwischen CVP und FDP in den Kantonen Ob- und Nidwalden, welche die vierten der obigen Begründungen bestätigen.

Ständeratswahlen waren, wie die Wahlforschung in den 90er Jahren festhielt, lange durch Absprachen unter bürgerlichen Parteien und damit verbundenem geringem Wettbewerb ausserordentlich stabil. Die kleine Kammer war auch eine Bastion für rechte und konservative Politikerinnen. Das hat sich seither etwas geändert. Die Konkurrenz bei Ständeratswahlen ist gewachsen, teils mit Profilierungskandidaturen, teils auch mit solchen, die politische Veränderungen zum Ziel haben. Die Volatilität ist sprunghafter geworden, letztmals 2011 mit dem Auftreten erfolgreicher Bewerbungen aus dem grünen Lager. 2015 ist davon nicht mehr viel zu spüren, denn das Ergebnis zeugt von Stabilität.

Im neuen Ständerat haben die CVP und die FDP je 13 Sitze, die SP 12. Die FDP gewann 2 Mandate, die SP 1. Verloren haben sie die GLP (-2) und die GPS (-1). Das führt dazu, dass im neuen Ständerat CVP und FDP weiterhin eine rechnerische Mehrheit haben, und beide Parteien mit der SP zum gleichen Ziel kommen können. Hingegen reicht keine Allianz keiner Partei mit der SVP für eine Mehrheit im Stöckli – ausser sie bezieht drei Parteien mit ein.

Das dürfte die Entscheidungen im Ständerat weniger polarisiert machen. Nicht die Weltanschauung wird entscheiden, vielmehr das Machbar bestimmend bleiben. Damit bleibt der Ständerat das Gegenstück zur grossen Kammer, der nach rechts gerückt ist, selbst wenn sich die kleine nicht nach links bewegte.

Gefragt sein werden Brückenbauer. Der wichtigste unter ihnen, Urs Schwaller, ist nicht mehr im Rat. Seine “Nachfolge” ist noch nicht bestimmt, denn die Rolle erwirbt man sich informell. Die wichtigste Person dürfte aber wiederum aus der CVP stammen, mit Flügel-Vertretern aus der FDP und SP. Nötig sind Schwergewichte der Fraktionen, die aber fähig sind, Kompromisse nach rechts oder links einzugehen. Meine Favoriten hierfür sind Pirmin Bischof, Karin Keller-Sutter und Anita Fetz.

Claude Longchamp

Generelleres zur Wahlanalyse 2015 hier.

Stabilität im Ständerat nach Variabilität im Nationalrat

Korrigieren die Ständeratswahlen den Eindruck aus den Nationalratswahlen? Eine Uebersicht zu den anstehenden zweiten Wahlgängen und eine neuartige Bewertung der möglichen Ausgänge jenseits von Persönlichkeitsmerkmalen.

27 der 46 Sitze im kommenden Ständerat sind seit der ersten Wahlrunde bekannt. In der Zwischenbilanz führt die FDP mit 8 Sitzen vor der CVP mit 7, der SP mit 6 und der SVP mit 5 Mandaten. Zudem ging ein Sitz an den parteilosen Thomas Minder.
Bisher zugelegt hat die FDP mit 2 Gewinnen, während die SP ein Mandat gewann. Verloren haben bis jetzt die CVP und GLP. Beide Parteien haben je ein Mandat weniger.
19 Sitze werden in den zweiten Wahlgängen vergeben, die im November 2015 stattfinden werden. Noch ist nicht in jedem Kanton klar, wer antritt und wie die Allianzen aussehen werden. Erfahrungsgemäss ist das für den Ausgang einer Ständeratswahl jenseits der Persönlichkeit vorentscheidend.
Dennoch kann man die Ausgangslagen bewerten und so einen Eindruck gewinnen, was alles noch geschehen könnte.

Eine Uebersicht über die offenen Wahlgänge in den kommenden Wochen zeigt die Ausgangslagen im Detail.

Tabelle: Uebersicht über die 2. Wahlgänge bei den Ständeratswahlen 2015
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Bisher analysierte man Ständeratswahlen stark nach Persönlichkeitsmerkmalen. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass das in Einerwahlkreisen so ist, in grösseren Kantonen aber andere Kräfte auf den Wahlausgang wirken.

Die bewährtesten Prognoseregeln lauten: Im zweiten Wahlgang werden Bisherige und neue KandidatInnen aus Parteien, die den Sitz bisher innehatten, bevorzugt. Das zeigt sich am deutlichsten daran, dass sie im ersten Wahlgang an der Spitze der Nicht-Gewählten liegen.
Am ehesten gefährdet sind solche Bewerbungen allerdings dann, wenn sich starke HerausforderInnen zeigen, die das politische Zentrum für sich zu gewinnen können.

Bewertet man so die 19 offenen Sitze, kommt man zu folgenden Schlüssen, die wir auch der Tagesschau von SRF präsentiert haben:

Erstens: Quasi sicher gewählt sind die beiden Bisherigen im Kanton Bern. Der einzig verbliebene Herausforderer ist ein politischer Aussenseiter ohne Wahlchancen.
Zweitens: Gute Wahlaussichten haben die Favoriten in den Kantonen Freiburg, Luzern und Tessin denn sie sind die Bisherigen, vertreten die bisherigen Farben und die Herausforderungen kommen nicht aus dem Zentrum. Etwas weniger sicher sind die Ausgänge in Genf und der Waadt, denn hier fordert die jeweils die FDP die doppelte, linke Standesvertretung heraus. Etwas gefährdet sind die beiden grünen Kandidaturen. Hinzu kommt das Kanton Wallis mit seiner CVP-Doppelvertretung, die von der FDP in Frage gestellt wird.
Drittens: Recht offen sind die Wahlausgänge in den fünf Kantonen mit Einervakanzen:
. In Solothurn und St. Gallen sind die SP-Ständeräte als Bisherige favorisiert; sie werden von SVP-Bewerbungen herausgefordert. Hier entscheidet die Mitte. (Eine analoge Situation entstände im Kanton Freiburg dann, wenn die SVP eine bekannte Person für den zweiten Wahlgang nominieren sollte.)
. In Zürich ist FDP-Noser als Nachfolger von FDP-Gutzwiller Favorit. Er wird aber von SVP-Vogt aufgrund dessen Hausmacht bedrängt, allenfalls auch von Girod, wenn dieser geschlossen von SP und GLP unterstützt wird und sich die bürgerlichen Stimmen aufteilen.
. Im Aargau ist SVP-Knecht wegen der SVP-Parteistärke an sich im Vorteil. Müller hat zudem das Handicap, dass er den Wahlkampf unterbrechen musste. Immerhin ist er der Vertreter der bisherigen Partei, verbunden mit seiner persönlichen Bekanntheit und Wahlkampferfahrung. Das lässt ihn doch als Favoriten erscheinen. Die Ausgangslage ist allerdings komplex, denn auch die CVP tritt mit Ruth Humbel nochmals an.
. Schliesslich Obwalden: Hier liegt nach der ersten Runde CVP-Ettlin vor FDP-Windlin. Letzter kann aber auf Stimmen seitens der SVP zählen, denn zwei Vertreter im Bundesbern aus den CVP-Reihen erscheint manchem zu viel.

Blickt man auf die Sitzstärke der Parteien, ergibt sich folgendes:
. Die FDP kann zu den acht sicheren Sitzen 1 bis 7 hinzu gewinnen, was 9-16 Mandate gäbe.
. Die CVP kann zu den bestehenden 7 Sitzen 4 bis 6 hinzu gewinnen, was für 11 bis 13 Ständeratssitze reichen dürfte.
. Bei der SP sind 3 bis 6 weitere Sitze möglich, was dann 9 bis 12 Mandate wären.
. Bei der SVP können 0 bis 5 weitere Kantonsvertreter hinzukommen. Es sind aber durchwegs nicht Favoriten. Das spricht eher für 5, im besten Fall für 9 Sitze im neuen Ständerat.
. Schliesslich die GPS: Maximal sichert sie sich im 2. Wahlgang 3 Sitze, im schlechtesten Fall keinen. Wahrscheinlich sind 2.

Beeinflusst werden kann die Einschätzung, falls neue Kandidatinnen auftauchen, oder deals zwischen den Parteien stattfinden, die hier nicht berücksichtig sind.

Oder anders gesagt: Im besten Fall gewinnt die FDP im Vergleich zu 2011 bis fünf Mandate hinzu und wäre Wahlsiegerin. Das gilt abgeschwächt auch für die SVP. Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ist aber geringer.
Kleine Gewinnchancen haben SP, GPS und Lega, derweil sich die CVP maximal halten kann.
Verlustrisiken gibt für die GPS, die CVP und die SP. Sicher sind sie für die GLP, allenfalls treffen sie auch die GPS. Minimal vorhanden sind sie bei CVP und SP.

Die Veränderungsmöglichkeiten im Ständerat sind insgesamt eher gering. Bei den Wahlen 2015 gilt wohl: Die Nationalratswahlen zeigten die Variabilität der Schweizer Polititik, die Ständeratswahlen dürften eher für Stabilität stehen.

Claude Longchamp

Stand: 23.10.2015

SVP löst CVP in den Unterschichten ab

Seit 1995 führt unser Institut Wahlanalysen vor und nach Wahlen durch. Grund genug, nach 20 Jahren eine Bilanz zu ziehen, was sich verändert hat.

1995 kam die SVP auf einen Wählendenanteil von 14.9 Prozent. 2007 lag sie mit 28.9 Prozent auf dem bisher höchsten Wert. Im aktuellen Wahlbarometer liegt sie bei 27.9 Prozent. Das ist ein satter Gewinn von 13 Prozentpunkten.
Das macht der SVP keine andere Partei nach, die GPS hat im besagten Zeitraum ein Plus von 2 Prozentpunkten, die CVP ein Minus von 5, die FDP von 4 und die SP von 3 Prozentpunkten.

Untersucht man die Veränderungen nach Merkmalsgruppen, bei denen die Parteistärken mehr variieren, stösst man unweigerlich auf die Schicht und da insbesondere auf die Schulbildung. Ganz generell gilt: Je höher die Schicht ist, desto stabiler blieben die Wählendenanteile respektive je tiefer sie ist, umso eher veränderten sie sich. Nutzniesserin war überwiegend die SVP, verloren hat aber vor allem die CVP.

Betrachtet man die SchulabgängerInnen, die als letztes die obligatorische Schule besucht haben, legte die SVP in diesem Wählerumfeld um satte 28 Prozentpunkte zu. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Durchschnitt. Grosse Verliererin ist aber nicht die SP, wie man häufig annimmt, sondern die CVP. Ihr Anteil in dieser Gruppe reduzierte sich von 30 auf 9 Prozent, was einer Differenz von 21 Prozentpunkten entspricht.

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Die zweitgrössten Unterschiede finden sich übrigens bei der Konfession. Auch bei den Katholiken gewinnt die SVP vor allem zulasten der CVP. 2015 könnten die ersten Wahlen sein, bei denen die SVP selbst unter den römisch-katholischen Wahlberechtigten die stärkste Partei ist.

Die Wahlforschung interpretiert solche Phänomene als typische Umbrüche angesichts neuer Konfliktlinien. Grob gesagt handelt es sich um den Globalisierungskonflikt. Bei dem geht es hauptsächlich darum, wer sich im Verhältnis zwischen einheimischer und zugewanderten Bevölkerungsteilen wie positioniert. Die SVP setzt da am klarsten auf die Privilegierung der SchweizerInnen. Damit hat sie gerade bei tieferen Bildungsschichten den grössten Erfolg.
Getroffen hat es in der Schweiz die CVP, weil sie am ehesten noch ein traditionell-konservatives Potenzial hatte. Dieses hat sie zusehends verloren. Abgebaute konfessionelle Grenzen zwischen Katholiken und Reformierten waren hier die Voraussetzung.
Die Öffnung der Schweiz nach aussen beschleunigte die Entfremdung seit dem europäischen Binnenmarktprogramm. Die andauernden Kontroversen rund um Migrationsfragen taten das ihre. Aus der christlich-konservativen Wählerschaft wurde in den vergangenen 20 Jahren eine nationalkonservative.

Sind Schweizer Wahlen integer?

Ein Jahr lang werde ich mit Berner und Zürcher StudentInnen im Master Politikwissenschaft zur Frage forschen und kommunizieren, ob Schweizer Wahlen integer sind.

Normalerweise verwendet man Integrität im Zusammenhang mit Personen und Organisationen. Gemeint ist, dass ihre Ethik stimmt. Ansprüche, in Idealen und Werten selbstformuliert, werden eingehalten.
Seit wenigen Jahren wird der Begriff in der Politikwissenschaft, insbesondere der Institutionenlehre, vermehrt verwendet. Allen voran fragt sich die führende Politikwissenschafterin Pia Norris in all ihren neuen Publikationen, ob auch Wahlen integer seien? Gemeint ist hier, ob sie sich am wachsenden Setting international formulierter Ansprüche an demokratische Wahlen halten? Die generelle Hypothese lautet dabei: Je weniger sie sich daran orientieren, umso grösser ist das Risiko des Misslingens von Wahlen.

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Quelle: Norris (2014)

Eine Uebersicht hierzu gibt die nebenstehende Grafik. Sie enthält die eher klassischen Erwartungen an Wahlen, die auf einem universellen, geheimen und gleichen Wahlrecht basieren, wonach Wahlen regelmässig abgehalten werden müssen und sie vor Korruption zu schützen sind. Miteinbezogen sind aber auch 13 weitere Anforderungen wie die Freiheit vor Diskriminierung, die Sicherheit der Akteure, die Möglichkeit der sozial gleichen Partizipation im öffentlichen Raum und der der Zugang zu Informationen. Teilweise sind sie jüngeren Datums oder noch wenig standardisiert.
In einem global angelegten Forschungsprojekt, koordiniert von der Universität Sydney, werden gegenwärtig alle Wahlen der Welt aufgrund eines einheitlichen Expertenfragebogens bewertet. 2015 werden auch die Schweizer Wahlen beurteilt werden.

Im Herbstsemester 2015 führe ich am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern ein erstes Forschungsseminar zur Integrität Schweizer Wahlen durch. Im Frühlingssemester 2016 wird ein weiteres an der Universität Zürich folgen, das sich speziell der datenjournalistischen Umsetzung von Forschungsergebnissen in diesem Beriech widmen wird.
Die bisherigen Erfahrungen in den rund 100 untersuchten Ländern zeigen, dass die Integrität von Wahlen mit dem Grad Einkommen pro Kopf grundsätzlich steigt, aber einen Sättigungswert kennt. Die Integrität von Wahlen nimmt nicht mehr gesichert zu, wenn ein Land nicht nur reich ist, sondern noch reicher wird. Das kann eine Folge steigender Erwartungen an den Wahlprozess sein, aber auch des Zerfalls der demokratischen Kultur. Positives Vorbild ist gegenwärtig Norwegen, das in dieser Hinsicht kaum Probleme kennt, während die USA das negative Beispiel mit vielen Schwierigkeit ist. Die Schweizer Wahlen dürften irgendwo dazwischen rangieren. Sicher ist jetzt schon, misslingen werden Schweizer Wahlen nicht so schnell, ihre Legitimation kann aber leiden.

Genau das lässt es sinnvoll erscheinen, wie auf der ganzen Welt auch hierzulande kritische Fragen genauer zu stellen. Vorgespräche, die ich mit verschiedenen Akteuren und Experten hierzu geführt habe, zeigen wiederholt folgende, kontroverse Diskussionspunkte:
. Benachteiligt das Wahlrecht kleine Parteien, vor allem ausserhalb der Regierung?
. Welche Rolle kommt dabei Wahlkreisbildung nach Kantonen bei der Gewährleistung fairer Wahlen zu?
. Gewährleisten die Massenmedien eine ausgewogene Berücksichtigung der verschiedenen Parteien und KandidatInnen, insbesondere im Vergleich von Regierungs- und Nicht-Regierungsparteien?
. Kommt Wahlbetrug vor, und wird dieser dank neuen Medien aufgedeckt und verhindert?
. Haben Parteien und KandidatInnen gleichen Zugang zu öffentlichen Vergünstigungen bei Wahlen?
. Können reiche Leute Wahlen kaufen?
. Ist das Wählen einfach genug, um niemanden auszuschliessen?
. Kann e-Voting die Wahlbeteiligung sinnvoll gewährleisten und verbessern?

Im Herbstsemester werde ich solche Fragen gemeinsam mit Masterstudierenden in Bern diskutieren, werden die Teilnehmenden Recherchen anstellen und Forschungsprojekte erarbeiten. Diese sollen bis Ende Januar 2016 vorliegen und in eine erste Uebersicht münden, die an einem Workshop diskutiert werden soll. Auf dieser Basis wir ein neues Team von Züricher Master-StudentInnen über die mediale Umsetzung der ersten Ergebnisse brüten und sie gezielt der Oeffentlichkeit vorstellen.
Start ist am kommenden Freitag morgen!

Claude Longchamp

Combining als neues Verfahren für Wahlgewinne oder -verluste

Wie gross ist der Wählenden-Anteil der Parteien bei der kommenden Wahl? Wer kann mit Gewinnen rechnen, wer muss von Verlusten ausgehen? Ein neues Verfahren verspricht Präzisierungen der bisherigen Bilanzen und Prognosen.

Auf der Suche nach Antworten auf die Frage nach den Parteistärken kann man sich mit der Lektüre von Zeitungen begnügen. Man kann sich auch an eine(n) ExpertIn wenden. Beides bleibt jedoch schwach evidenzbasiert und subjektiv.

Neue Wege der Wahlforschung

Die Wahlforschung begeht seit 10 Jahren neue Wege. Combining heisst eine der neuen Methoden. Auf gut Deutsch: Kombination.
Kerngedanke des Vorgehens, das Scott Armstrong entwickelt und PollyVote popularisiert hat, ist: Jedes Verfahren hat einige Stärken und Schwächen. Wenn man nicht weiss, welches Verfahren auf Dauer am sichersten ist, verbindet man am besten die verschiedenen Vorgehensweisen. Deshalb ist die unvoreingenommene Kombination die neutralste.
In der Schweiz stehen vier denkbare Instrumente zur Verfügung: repräsentative Wahlbefragungen wie das Wahlbarometer, Mitmach-Umfragen, wie die 20 Minuten Erhebungen, Wählbörsen, wie sie der Tagesanzeiger publiziert, und Extrapolationen kantonaler Wahlen, wie man sie vom ZdA und dem Institut für Politikwissenschaft an der Uni Zürich kennt.
Wahlbörsen wären am ehesten Prognosen, aber wenig stabil. Umfragen lassen ausgefeilte Analysen zu, haben aber einen Unsicherheitsbereich. Und kantonale Wahlergebnisse liegen in aller Breite vor, sind am nationalen Wahltag aber veraltet.

Ergebnis der ersten Anwendung in der Schweiz

Gemäss Combining sind Gewinne der FDP.Die Liberalen resp. der SVP am wahrscheinlichsten. Möglich sind Gewinne auch bei der SP. Verlieren dürfte dagegen die GPS. Rückgänge sind auch bei CVP und BDP möglich. Generell gilt: Grössere Parteien können zulegen, kleinere werden geschwächt.

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Tabelle anklicken, um sie zu vergrössern
Erläuterungen
Wbaro=SRG-Wahlbarometer, Repräsentativ-Befragung CATI, gfs.bern
20 min Umfrage= Mitmachumfrage online, sotomo
Wbörse: Wahlbörse, Wettplattform Tagesanzeiger (nur für Teilnehmer zugänglich)
Kantonale Wahlen: ZdA/Daniel Bochsler
Kantonale Wahlen: IPW/Pirmin Bundi

Bei allen sechs Parteien stimmen kantonale und nationale Trends überein. Moderiert wird durch die Kombination einzig das Ausmass an erwarteter Veränderung je Instrument. Zum Beispiel die FDP, die in den nationalen Instrumenten besser abschneidet als in den kantonalen. Das gilt nicht für die GLP, denn da zeigen die Trends diametral Unterschiedliches an. In der Kombination resultiert denn auch ein Halten.
Generell gilt: Grössere Parteien können zulegen, kleinere werden geschwächt.
Die für die Schweiz neue Methode hat auch den Vorteil, Ausreisser der verschiedenen Instrumente sichtbar zu machen: Bei der “20 Minuten”-Umfrage ist es der tiefe Werte für die SP, bei der Wahlbörse der hohe für die BDP. Kein wirklicher Ausreisser ergibt sich beim Wahlbarometer, obwohl er nur mit 17%-Anteil in die finale Hochrechnung einfliesst.

Was es in der Schweiz noch bräuchte
Die bisherigen Erfahrungen mit der Methode in den USA und Deutschland sind bei Wahlen überwiegend positiv.
Gut wäre es in der Schweiz, wenn auch ökonometrische Modellrechnungen und systematische ExpertInnen-Befragung miteinbezogen werden könnten. Das würde die Zahl der Instrumente erhöhen und die Wahrscheinlichkeit von Präzisierungen vergrössern. Zudem gibt es erheblich weniger Umfragen und Wahlbörsen als in anderen Ländern. Entsprechend haben wir hier nicht einen Teilindex je Methode gewählt, sondern je einen für die nationale und die kantonale Ebene.
Dennoch, die Schweizer Wahlforschung kann sich sehen lassen. Die mittlere Abweichung kurz vor Wahlen beträgt bei Umfragen gut 1 Prozent. Alles unter 1 Prozent gilt als Spitzenwert. Das heisst nicht, dass man nicht mehr tun soll. Unsere Erwartungen sind: Bei einer normalen Wahl verringerte sich die durchschnittliche Abweichungen. Nur bei einer ausserordentlichen Wahl mit starken Ereignissen in der Schlussphase des Wahlkampfs sind die kurzfristigen Instrumente geeigneter.
Die Situation in der Schweiz hat bis jetzt einen Nachteil. Es gibt zu wenig Instrumente, und es gibt je Instrument zu wenig Messungen. Die Kombination ist damit besser als die Einzelinstrumente. Mehr Material für Kombinationen wäre jedoch noch besser.

Claude Longchamp

PS:
Heute ist die neueste 20min-Umfragen erschienen, und die Wahlbörse wurde aufdatiert. Das neueste combining sieht wie folgt aus:
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Die wesentlichste Veränderung betrifft die GLP, jetzt leicht Plus. Das SP-Ergebnis der 20min-Umfrage bleibt der markanteste Ausreisser.

Gemässigter oder polarisierter Pluralismus? Die Schweiz am Scheideweg

Bis jetzt sind mir drei Szenarien zum Ausgang der Nationalratswahlen begegnet:

  • die Fortsetzung des Trends von 2011 mit einer gestärkten Mitte;
  • die erneute Polarisierung mit Siegern rechts und links und
  • ein allgemeiner Rechtsrutsch.

Angesichts der neuesten Ergebnisse aus dem Wahlbarometer halte ich ersteres für das unwahrscheinlichste. Es müssten BDP und GLP gewinnen und alle grösseren Parteien, vor allem an den Polen, müssten verlieren. Zweiteres ist denkbar. Vieles hängt gemäss Wahlbarometer davon ab, wie die linke Wählerschaft ihre Präferenzen zwischen SP und GPS resp. ihren KandidatInnen verteilt. Je nachdem stagnieren beide oder eine kann zulegen. Das dritte Szenario steht heute im Vordergrund. Auf dem Stand Ende August werden Gewinne für die FDP.Die Liberalen und SVP im Bereich von 1,5 bis 2 Prozentpunkten möglich, begleitet von Verlusten bei BDP, CVP, GPS und GLP von jeweils rund 1 Prozentpunkt.

Das Wahlbarometer zeigt zudem, dass die Polarisierung der Wählerschaft wohl noch einmal zunehmen wird. Der Trend ist sei 1995 fast ungebrochen. Die Distanz des mittleren SVP-Wählers zu demjenigen der SP oder GPS ist angewachsen. Diese Distanz ist grösser denn je, wenn man SVP und GPS miteinander vergleicht.

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Die Politikwissenschaft nimmt solche Spaltungen seit längerem zum Anlass, um über die Möglichkeiten der Regierungsbildung resp. die Stabilität von Regierungen nachzudenken. Typologisch unterschieden wird dabei zwischen einem gemässigten Pluralismus und einem polarisierten. Pluralistisch werden grundsätzlich alle Mehrparteiensysteme genannt. Gemässigt sind sie, wenn die weltanschaulichen Differenzen der Parteiwählerschaften eher gering sind, derweil man den Pluralismus als polarisiert betrachtet, wenn drei Bedingungen erfüllt sind:

Erstens, die relevanten Parteien sind sich in Kernfragen der Politik nicht einig, und sie finden auch keine Einigkeit in Verhandlungen.
Zweitens, unter den relevanten Parteien gibt es eine Fundamentalopposition, minimal in der Kommunikation, maximal auch in der Programmatik.
Drittens, die Fundamentalopposition ist in der Lage, die Regierungsbildung mit einer regierungsfähigen Mitte zu sabotieren und so ein neues Regierungssystem zu erzwingen.

Ohne Zweifel, der erste Punkt ist gegeben. Gerade in der Migrationsfrage liegen die Positionen seit der Masseneinwanderungsinitiative weit und unversöhnlich auseinander. Das gilt nicht nur bezogen auf die linken Parteien in ihrem Verhältnis zur SVP; es trifft auch im Vergleich der CVP mit der FDP.Die Liberalen weitgehend zu. Ob der zweite Punkt einer Fundamentalopposition gegeben ist, bleibt selbst unter ExpertInnen umstritten. Einig ist man sich, dass die SVP mit ihrer Art politische Kommunikation zu betreiben, neue Wege gegangen ist und die vorherrschende politische Kultur der Mässigung verlassen und dabei verschiedene Nachahmerinnen gefunden hat.

Nicht gegeben erscheint mir der dritte Punkt. Die SVP hat nach dem Debakel bei der Volkswahl des Bundesrats von Systemänderungen Abschied genommen. Sie bekennt sich zur Parlamentswahl und sie steht zur Konkordanz, mindestens in der numerischen Form. Auch in den Kantonen gibt es nur eine Tendenz: So schnell wie möglich in die Regierung, und, wo man schon drin ist, wo immer möglich sich auszubreiten. Auch bei der anstehenden Bundesratswahl gilt die Losung: Lieber 2 als 1, keinesfalls 0 statt einem Bundesrat.

Unsere Übersicht über die Eckwerte im Vergleich zu 2011 legt nahe: Mitte/Links könnte ihre kleine Mehrheit in der Wählerstärke 2015 verlieren. Doch auch SVP und FDP.Die Liberalen werden nach der Parlamentswahl keine Mehrheit hinter sich wissen. Mehrheitsfähig bleibt aber der bürgerliche Schulterschluss von SVP bis CVP, allenfalls wird es auch eine Allianz aus SVP, FDP.Die Liberalen und GLP.

Das lässt verschiedene Schlüsse zu, denn Eveline Widmer Schlumpf wird eine erneute Kandidatur für den Bundesrat von einer Wahrscheinlichkeit einer Mehrheit abhängig machen. Besteht diese nicht mehr, dürfte sie sich selber aus dem Rennen nehmen. Hierfür gibt es drei Szenarien:

Szenario 1: Von linker Seite wird der CVP ein zweiter Bundesratssitz offeriert, als Übergang zu einem System mit einem rotierenden Sitz. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die CVP unter der Bundeskuppel sitzmässig hält oder verbessert. Eine Untervariante hiervon sieht die GLP in der Nachfolge von Bundesrätin Widmer-Schlumpf.

Szenario 2: Die SVP erhebt einen Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz, der von der FDP.Die Liberalen und CVP nicht bestritten, aber an personelle Bedingungen geknüpft wird, beispielsweise bei den Bilateralen, der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und im Umgang mit Volksinitiativen. Voraussetzung hierfür ist, dass die SVP zulegt und mindestens die FDP.Die Liberalen aus der Position der Stärke eines Wahlsiegers die Regeln bestimmen kann.

Szenario 3: Last but not least schliesse ich eine dritte Variante nicht aus. Demnach kommt es zu knappen Mehrheitsverhältnissen und den Fraktionspräsidien gelingt es, nicht ihre Stallorder durchzusetzen. Die Bundesratswahlen würden wohl unübersichtlich mit Ausgängen wie oben beschrieben, oder einer Überraschung mit einer weiteren Variante.

Szenario 1 würde auf eine Mässigung des Pluralismus im Parteiensystem hindeuten.
Szenario 2 wäre wohl das Gegenteil, allerdings mit einer angezogenen Handbremse, die ihresgleichen auch auf linker Seite kennt.
Sollte die Bundesratswahl ganz von der Stange fallen, hätte der polarisierte Pluralismus sein Werk vollbracht.

Claude Longchamp

Wo SVP und SP dank Polarisierung gewinnen – und wo sie verlieren

Wo auf der Links/Rechts-Achse haben die grössten Parteien in den letzten Monaten gewonnen, wo haben sie verloren.

Einige Ueberlegungen
Polarisierung ist das grosse Stichwort der Wahlanalyse in der Schweiz der letzten 20 Jahre. Begonnen hat alles mit den Folgen der EWR-Entscheidung 1992. Von 1995 bis 2003 formierten sich sowohl der linke wie auch der rechte Pol in der Parteienlandschaft und legten SVP, SP und GPS bei Nationalratswahlen zu, 2007 war dies noch bei der SVP und der GPS der Fall.
Erst 2011 kam die Gewinne für Polparteien gar nicht vor, denn die “neue Mitte”, bestehend aus BDP und GLP, traten neu auf und wurden sie stärker.
Unabhängig von den Wirkungen der Polarisierung auf die Parteistärke ist die Polarisierung zum festen Bestandteil des medialen Diskurses über Parteien geworden. Schwarz/Weiss-Schematisierungen haben in der Berichterstattung haben zugenommen. Typisch hierfür ist, dass sich in zentralen Frage meist schroff unterschiedliche Positionen gegenüber stehen: Pro oder Kontra Asylsuchende aus Eritrea, für oder gegen den Ausstieg in der Atomenergie, Ja oder Nein zu Eveline Widmer-Schlumpf.
Parteipolitische Protagonisten sind in aller Regel die SVP und die SP, bisweilen auch die GPS. Zwar vermeiden sie heuer die direkte Interaktion vielfach, doch sind ihre Vorschläge häufig so formuliert, dass sie von der Gegenseite nicht unterstützt werden können. Neu ist 2015, dass sich vor allem FDP und SP duellieren, um im klassischen Konflikt zwischen Staat und Markt an Profil zu gewinnen.

polarisierung
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Einige Befunde

Die nebenstehende Grafik zeigt exemplarisch, was die Folgen der Polarisierung im Wahlkampf sind. Stellvertretend für andere haben wir die SVP und SP als die grössten Polparteien ausgesucht. Dargestellt werden die Wählerschaften beider Parteien auf der Links/Rechts-Achse. Dabei handelt es sich um eine Selbsteinschätzung der eigenen Position auf dem zentralen Konstrukt für die politische Einteilung.
Die fette rote und grüne Linie zeigt die Verteilung im Wahlbarometer vom Juni 2015, der jüngsten Erhebung hierzu. Hinzu kommt der Mittelwert für die Eigenpositionierungen. Die schmale grüne resp. rote Linie deutet die Verteilung im September 2014 an, der letzten Erhebung bevor Aktivitäten zu Wahlkampf einsetzten. Auch hier gibt es einen Mittelwert.

• Die erste Aussage lautet: Die Polarisierung der Wählerschaften von SVP und SP hat im Verlaufe des letzten Jahres zugenommen. Der Mittelwert hat sich jeweils um rund einen halben Punkt weg von der Mitte verschoben.
• Die zweite Bemerkung ist: Stark gewandelt haben sich die Parteistärken dabei nicht. Die SVP ist von 25 auf 26 Prozent gestiegen; die SP von 20 auf 19 Prozent gesunken.
• Schliesslich der dritte Befund: Verändert hat sich das denkbare Elektorat beider Parteien. Denn die SVP ist bei Wählenden mit einer Position von 8-9 stärker geworden, bei Werten darunter indessen schwächer. Bei der SP gilt ersteres für Werte von 1-3, nicht aber darüber.

Einige Folgerungen
Was folgt daraus? Die Polarisierung der Wählerschaften auf individuellem Niveau findet auch 2015 statt. Ob auch das Parteiensystem an den Polen gestärkt wird, bleibt allerdings unsicher. Die grossen Polparteien kennen einen vergleichbaren Effekt: Sie legen bei klar positionierten Wählenden zu, verlieren aber gegen die Mitte. Die Bilanz ist bei der SVP möglicherweise positiv, bei der SP vielleicht negativ. Hauptgrund ist, dass die SP nicht in die Mitte reicht, die SVP jedoch hier einen minimalen Sukkurs behält.
Von einer weiteren Polarisierung im Wahlkampf 2015 kann sich die rechte Polpartei Vorteile versprechen, denn sie nähert sich im Wahlbarometer den Werten früherer Wahlen. Allerdings, auch sie überlässt gemässigtere WählerInnen den Parteien, die stärker im Zentrum angesiedelt sind. Diesmal sind es die FDP, CVP und BDP. Schwieriger noch ist es für die SP, aus der Polarisierung Gewinne zu erzielen. Nicht nur ist die Bilanz eher negativ, links hat sie keine hegemoniale Stellung, denn die GPS ist hier in vielen Kantonen die Konkurrenz. Die SP könnte letztlich nur Punkten, wenn sie ihre Bindungsfähigkeit im Mitte/Links-Lager Aufrecht erhält, dort, wo sie von GLP und CVP konkurrenziert wird.

Claude Longchamp

Meinungsverstärkung, Meinungsaufbau, Meinungswandel – neue Einsichten zu Wahlkampagnen

Parteiidentifikation ist das entscheidende Konzept in der Wahlforschung. Als theoretisch relevante Ansatzpunkt werden die Bindung an die Partei als Ganzes, aufgrund ihres Personals oder ihrer programmatischen Aussagen gesehen. Im Beitrag zum neuen Sammelband “Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz” sind Cloe Jans und ich der Frage nachgegangen, wie sich Wahlkämpfen auf die Meinung zur Parteien auswirken.

Eine Neuinterpretation der Daten zu den Nationalratswahlen 2011 führte uns zu drei Indikatoren:

. die Meinungsverstärkung,
. der Meinungsaufbau und
. die Verhinderung von Meinungswandel.

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Meinungsverstärkung baut auf einer mehr oder weniger gefestigten Parteibindung bei Wählenden auf. Sie muss frühzeitig vor einer Wahl reaktiviert und gestärkt werden. Meist braucht es hier keine programmatische Ueberzeugungsarbeit mehr, doch muss der Kitt an die Partei emotional erneuert werden. Die Stimmung im Wahlkampf zählt dazu, Spitzenkandidatinnen im Kanton können massgeblich sein, aber auch der direkte Kontakt zwischen Partei und Wählenden können die Prädisposition, eine bestimmte Partei bevorzugt zu wählen, stärken.
Meinungsaufbau meint, dass punktuelle Beziehungen zwischen Wählenden und Parteien entwickelt werden können, im Idealfall bis zu einer neuen Parteibindung. Die lockersten Meinungen zu Parteien haben wir in der Schweiz zu Personen, insbesondere wenn wir bereit sind, Kandidatinnen verschiedenster Partei zu wählen. Hinzu kommt, dass man für Parteien auch in einer Sachfrage eine Präferenz haben kann, ohne gleich die ganze Partei zu unterstützen.
Schliesslich geht es in einem Wahlkampf darum, bisherige Wählenden von einer Aenderung der früheren Wahlentscheidung abzuhalten. Das kann bezüglich des bisherigen Parteientscheides der Fall sein, aber indem man die bisherige Teilnahme ernsthaft in Frage stellt.
Man kann alles drei Indikatoren zu einem übergeordneten Konzept zusammenfassen, und diese Mobilisierungsfähigkeit nennen.

Die Re-Analyse der Nationalratswahlen 2011 legt nahe, dass die SVP alle drei Aufgaben am besten gelöst hat. Ihre Art der Kampagnenführung ist am ehesten geeignet, vorhandene Meinung zu stärken, zu entwickeln und eine Aenderung von Meinungen zu verhindern. Letzteres können alle Parteien, unabhängig von ihrer Stimmenstärke ähnlich gut. Bei der Meinungsverstärkung und dem Meinungsaufbau gibt es aber erhebliche Unterschiede. So ist die Mobilisierung bestehender Parteibindungen namentlich bei GLP, BDP und GPS weiter unterdurchschnittlich, während dies bei CVP, FDP und SP im Mittel erfolgt, aber deutlich schwächer ist als bei der SVP. Der Meinungsaufbau gelingt nach der SVP der SP noch einigermassen, während dies bei allen anderen Parteien zurückbleibt.
Auf einem Index, bei dem jede Partei bei jedem Indikator 100 Punkte holen konnte, kam die SVP im Schnitt auf sensationelle 82. Die SP erreichte 57, die FDP 56 und die CVP 55 Punkte. Deutlich geringer lag das Mittel bei GPS (41), BDP (38) und GLP (31).
Mit anderen Worten: Die SVP löst die Mobilisierungsaufgaben sensationell gut, die grösseren Parteien im Mittel, und die kleineren verschenken, trotz gelegentlichen Wahlerfolgen viel.

Nun fiel uns auf, dass der Mobilisierungserfolg in erheblichem Masse vom finanziellen Mitteleinsatz abhängt. Denn zwischen Mitteleinsatz, Mobilisierungsleistungen und Wahlerfolg gibt es einen Zusammenhang. Erklärt werden können sie kaum Veränderungen im Stimmanteil, aber die Stärke der Partei unter den Wählenden insgesamt. Es lassen sich drei Hypothesen vermuten:
. Je höher der finanzielle Mitteleinsatz ist, umso eher kann sich eine Partei eine ausgedehnte Vorkampagne leisten, mit Folgen insbesondere für die Meinungsverstärkung.
. Je höher der Mitteleinsatz bei rechten Partei ist, umso eher gelingt, bestehende Meinungen zu verstärken.
. Je höher der Mitteleinsatz bei einer Polpartei ist, umso eher gelingt der Meinungsaufbau an den Polen.

Wir interpretieren die Abhängigkeiten nicht streng kausal, vermuten aber temporale Zusammenhänge. Politische Kommunikation ist in der Schweiz einem starken Wandel unterworfen, indem Finanzierung, Medialisierung und Professionalierung der Partei-Wählenden-Beziehung zunehmen. Der Trend kommt von rechts, hat die entsprechenden Parteien früher und stärker erfasst, dehnt sich aber immer weiter aus.

Claude Longchamp

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Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz