Gemässigter oder polarisierter Pluralismus? Die Schweiz am Scheideweg

Bis jetzt sind mir drei Szenarien zum Ausgang der Nationalratswahlen begegnet:

  • die Fortsetzung des Trends von 2011 mit einer gestärkten Mitte;
  • die erneute Polarisierung mit Siegern rechts und links und
  • ein allgemeiner Rechtsrutsch.

Angesichts der neuesten Ergebnisse aus dem Wahlbarometer halte ich ersteres für das unwahrscheinlichste. Es müssten BDP und GLP gewinnen und alle grösseren Parteien, vor allem an den Polen, müssten verlieren. Zweiteres ist denkbar. Vieles hängt gemäss Wahlbarometer davon ab, wie die linke Wählerschaft ihre Präferenzen zwischen SP und GPS resp. ihren KandidatInnen verteilt. Je nachdem stagnieren beide oder eine kann zulegen. Das dritte Szenario steht heute im Vordergrund. Auf dem Stand Ende August werden Gewinne für die FDP.Die Liberalen und SVP im Bereich von 1,5 bis 2 Prozentpunkten möglich, begleitet von Verlusten bei BDP, CVP, GPS und GLP von jeweils rund 1 Prozentpunkt.

Das Wahlbarometer zeigt zudem, dass die Polarisierung der Wählerschaft wohl noch einmal zunehmen wird. Der Trend ist sei 1995 fast ungebrochen. Die Distanz des mittleren SVP-Wählers zu demjenigen der SP oder GPS ist angewachsen. Diese Distanz ist grösser denn je, wenn man SVP und GPS miteinander vergleicht.

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Die Politikwissenschaft nimmt solche Spaltungen seit längerem zum Anlass, um über die Möglichkeiten der Regierungsbildung resp. die Stabilität von Regierungen nachzudenken. Typologisch unterschieden wird dabei zwischen einem gemässigten Pluralismus und einem polarisierten. Pluralistisch werden grundsätzlich alle Mehrparteiensysteme genannt. Gemässigt sind sie, wenn die weltanschaulichen Differenzen der Parteiwählerschaften eher gering sind, derweil man den Pluralismus als polarisiert betrachtet, wenn drei Bedingungen erfüllt sind:

Erstens, die relevanten Parteien sind sich in Kernfragen der Politik nicht einig, und sie finden auch keine Einigkeit in Verhandlungen.
Zweitens, unter den relevanten Parteien gibt es eine Fundamentalopposition, minimal in der Kommunikation, maximal auch in der Programmatik.
Drittens, die Fundamentalopposition ist in der Lage, die Regierungsbildung mit einer regierungsfähigen Mitte zu sabotieren und so ein neues Regierungssystem zu erzwingen.

Ohne Zweifel, der erste Punkt ist gegeben. Gerade in der Migrationsfrage liegen die Positionen seit der Masseneinwanderungsinitiative weit und unversöhnlich auseinander. Das gilt nicht nur bezogen auf die linken Parteien in ihrem Verhältnis zur SVP; es trifft auch im Vergleich der CVP mit der FDP.Die Liberalen weitgehend zu. Ob der zweite Punkt einer Fundamentalopposition gegeben ist, bleibt selbst unter ExpertInnen umstritten. Einig ist man sich, dass die SVP mit ihrer Art politische Kommunikation zu betreiben, neue Wege gegangen ist und die vorherrschende politische Kultur der Mässigung verlassen und dabei verschiedene Nachahmerinnen gefunden hat.

Nicht gegeben erscheint mir der dritte Punkt. Die SVP hat nach dem Debakel bei der Volkswahl des Bundesrats von Systemänderungen Abschied genommen. Sie bekennt sich zur Parlamentswahl und sie steht zur Konkordanz, mindestens in der numerischen Form. Auch in den Kantonen gibt es nur eine Tendenz: So schnell wie möglich in die Regierung, und, wo man schon drin ist, wo immer möglich sich auszubreiten. Auch bei der anstehenden Bundesratswahl gilt die Losung: Lieber 2 als 1, keinesfalls 0 statt einem Bundesrat.

Unsere Übersicht über die Eckwerte im Vergleich zu 2011 legt nahe: Mitte/Links könnte ihre kleine Mehrheit in der Wählerstärke 2015 verlieren. Doch auch SVP und FDP.Die Liberalen werden nach der Parlamentswahl keine Mehrheit hinter sich wissen. Mehrheitsfähig bleibt aber der bürgerliche Schulterschluss von SVP bis CVP, allenfalls wird es auch eine Allianz aus SVP, FDP.Die Liberalen und GLP.

Das lässt verschiedene Schlüsse zu, denn Eveline Widmer Schlumpf wird eine erneute Kandidatur für den Bundesrat von einer Wahrscheinlichkeit einer Mehrheit abhängig machen. Besteht diese nicht mehr, dürfte sie sich selber aus dem Rennen nehmen. Hierfür gibt es drei Szenarien:

Szenario 1: Von linker Seite wird der CVP ein zweiter Bundesratssitz offeriert, als Übergang zu einem System mit einem rotierenden Sitz. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die CVP unter der Bundeskuppel sitzmässig hält oder verbessert. Eine Untervariante hiervon sieht die GLP in der Nachfolge von Bundesrätin Widmer-Schlumpf.

Szenario 2: Die SVP erhebt einen Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz, der von der FDP.Die Liberalen und CVP nicht bestritten, aber an personelle Bedingungen geknüpft wird, beispielsweise bei den Bilateralen, der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und im Umgang mit Volksinitiativen. Voraussetzung hierfür ist, dass die SVP zulegt und mindestens die FDP.Die Liberalen aus der Position der Stärke eines Wahlsiegers die Regeln bestimmen kann.

Szenario 3: Last but not least schliesse ich eine dritte Variante nicht aus. Demnach kommt es zu knappen Mehrheitsverhältnissen und den Fraktionspräsidien gelingt es, nicht ihre Stallorder durchzusetzen. Die Bundesratswahlen würden wohl unübersichtlich mit Ausgängen wie oben beschrieben, oder einer Überraschung mit einer weiteren Variante.

Szenario 1 würde auf eine Mässigung des Pluralismus im Parteiensystem hindeuten.
Szenario 2 wäre wohl das Gegenteil, allerdings mit einer angezogenen Handbremse, die ihresgleichen auch auf linker Seite kennt.
Sollte die Bundesratswahl ganz von der Stange fallen, hätte der polarisierte Pluralismus sein Werk vollbracht.

Claude Longchamp