Abstimmungskampagnen. Ein Buch, das man lesen und beherzigen sollte.

Zahlreiche Fachleute arbeiten, meist ausgehend von den Schweizer Erfahrungen, an der Weiterentwicklung der Demokratie, um sie von der Wahl von Personen zur Entscheidung in Sachfragen bringen. Jetzt haben 32 von ihnen gemeinsam das Buch “Abstimmungskampagnen” verfasst, um ihr professionelles Wissen zur Themenkommunikation zwischen Macht, Medien und Massen zu vermitteln.

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Zugegeben, zuerst überwiegen gewisse Zweifel: 490 Seiten dick ist das Buch aus dem Springer Verlag, was Ueberwindung beim Einlesen braucht. 32 AutorInnen hat es, die 31 Artikel beigetragen haben, eingerahmt von einer kurzen Einleitung und einem anregenden Schlussgespräch, der HerausgeberInnen Heike Scholten und Klaus Kamps mit Kurt Imhof führten. Genau damit entstehen die Hoffnungen, die einen interessiert machen, das Buch nicht nur zu kaufen, es auch lesen und zubeherzigen. Denn es begeistert zweifelsohne durch Kompetenz: Aus schweizerische Sicht sind Forscher wie Michael Hermann und Mark Eisenegger dabei, BeraterInnen wie Katja Gentinetta und Petra Huth haben sich eingebracht, ebenso wie die Journalisten Antonio Antoniazzi und Georges Wüthrich, und schliesslich verraten so verschiedenartige Praktiker wie Bruno Kaufmann, Pietro Cavadini, Guido Schommer, René Buholzer, Urs Rellstab, Hermann Strittmatter und Adrian Schmid etwas von ihrem Wissen und Können. Umgarnt werden sie durch ausländische Stimmen, wie die von Christoph Bieber, Susanne Pickel und Claes de Vreese, allesamt ProfessorInnen für politische Kommunikation(kulturen) aus vergleichender Perspektive.

Die Themenpalette des Buches ist fast allumfassend: Es geht um System und Kultur der direkten Demokratie, um die Rationalitäten und Konstellationen der Akteure im Abstimmungskämpfen, um Politikvermittlung und Kampagnenführung, schliesslich auch um Anschauungsbeispiele zu “Referenden”. Da zucken die Lesenden in der Schweiz möglicherweise ein wenig zusammen. Denn hierzulande wagte es kaum jemand, die ausgebaute direkten Demokratie unter dem Stichwort “Referendum” zu subsummieren. Bis eben die beiden HerausgeberInnen mit deutschen Hintergrund und Schweizer Erfahrungen kamen, die ihrem Wälzer den Untertitel “Politikvermittlung in der Referendumsdemokratie” gaben.

Grundlegend in diesem Sammelband ist mit Sicherheit ihr systemtheoretisch ausgerichtete Beitrag zur “Politischen Kommunikation in Wahl- und Abstimmungsdemokratien”. Unterschieden werden drei relevante soziale Strukturen in Form von Orientierungshorizonten der Kommunikation und drei Handlungsausprägungen, die das Handeln von Akteuren in Form von Beobachten, Beeinflussen, Verhandeln, leiten. Wem das zu abstrakt ist, dem wird gleich geholfen: Konstellationen ergeben sich aus dem längerfristig geltenden Möglichkeiten einer Gesellschaft resp. ihrer Teile, öffentlich kommunizieren zu können; Deutungen entstehen aus den Inhalten eben dieser Kommunikation, und Erwartungen verweisen auf die Ziele der Kommunikation in einem bestimmten Abstimmungskampagnen. Dieses Beobachtungsschema wird der Realität von Kampagnen jedoch es erst dann gerecht, wenn man es dynamisiert. Denn wie Kommunikation insgesamt, wird auch die politische Kommunikation vor allem durch Prozesse bestimmt – erst recht in der Form von Abstimmungskampagnen.

Die Ausbildung von Volksrechten forciert die Kommunikation über Politikinhalte, sie aktivieren Oeffentlichkeit zu Sachfragen, und sie schärfen Akteursprofile über Themenpositionen, liesst man in “Abstimmungskampagnen”. Das sind angesichts der wachsenden Personalisierung und Banalisierung von PolitikerInnen, Parteien und Parlamenten in der reinen Wahldemokratie Vorteile der Direktdemokratie. In der Prozesslogik zu Ende gedacht, ist das diesbezügliche Campaigning so etwas permanentes strategisches Kommunikationsmanagement. Drei Tätigkeiten haben sich im Rahmen der Professionalisierung politischer Kommunikation herausgebildet: die systematische Untersuchung des Abstimmungsgegenstandes, die Strategiebildung mit der Zieldefinition und die Realisierung mittels Campaigning. Gegliedert wird der Arbeitsprozess solcher Akteure in die frühzeitige Identifikation von Themen, der politische Positionsbildung von Akteuren, was innerhalb einer Organisation geschieht, dann durch das Lobbying und die Kommunikation nach aussen, die in externe Kampagnen münden. Entscheidend ist dabei, dass die inhaltliche Führungsarbeit mehr und mehr durch die kommunikative verdrängt wird, letzteres aber strikte auf ersterem aufbauen muss, um überzeugend zu bleiben.

Was aber passiert, wenn die Entscheidung der Stimmenden und die Ziel der Akteure immer wieder mal auseinander driften? Direktdemokratische Mitsprache geht in der Tat mit dem Kontrollverlust für die Eliten einher, der sich jedoch lohnt, weil Vertrauen der Eliten mit Vertrauen Bevölkerung gedankt werden. So zählt das Vertrauen der Schweizer Bevölkerung in Regierung und Parlament zu den höchsten in Europa. Mehr noch: Direktdemokratische Entscheidungen erhöhen die Weisheit des politischen Systems. Denn die Weisheit der Stimmenden befähige diese nicht für einen Platz in der Steuerkabine der Staatsleitung, sehr wohl aber als kritische Konfliktinstanz im Rahmen der direkten Demokratie.

Das Schwächste am Sammelband ist mit Sicherheit seine Entstehungsgeschichte. Einige Artikel sind 2009 verfasst worden, von der berücksichtigten Literatur, aber auch vom Erfahrungshintergrund sind sie nicht mehr ganz aktuell. Die einen oder anderen Kapitel hat man deshalb (?) in verwandter Form auch schon anderswo lesen können. Doch das tut dem Buch insgesamt keinen Abbruch, denn aus dem langen Reifungsprozess heraus ist so etwas wie ein grossartiges Kompendium für Abstimmungskampagnen entstanden. Das Buch hat denn auch das Potenzial, schnell zum Standardwerk über Abstimmungskampagnen zu werden. Wer es liesst, erfährt dreierlei über Volksrechte und politische Systeme der Gegenwart:

Erstens, dass direkte Demokratie ihre eigene Logik hat, auf einer eigenen Funktionsweise basiert und ihre eigenen Resultate produziert, an denen staatliche Stellen, politische Parteien, zahlreiche Interessengruppen und neuerdings Unternehmungen, aber auch BürgerInnen-Initiativen mitwirken, um den Volkswillen in Form von Volksentscheidungen entstehen zu lassen.
Zweitens, dass Abstimmungskampagnen keine spontanen Aktionen (mehr) sind, sondern professionalisierte Unternehmungen, die so geplant, vorbereitet, geführt und umgesetzt werden wollen.
Und drittens, dass die ursprünglich schweizerische Eigenart, politischen Entscheidungen zu treffen, weltweit rasch an Bedeutung gewinnt, sodass sich zwischenzeitlich zahlreiche WissenschafterInnen, Forschende und PraktikerInnen im In- und Ausland um die Vermittlung der schnell wachsenden Kompetenzen in Theorie und Praxis redlich bemühen.

Eben, kaum eine oder einer der pluralistisch zusammengesetzten AutorInnen, die hier politische Kommunikation im Rahmen von Volksentscheidungen analysiert und vermessen haben, arbeiten an der Abschaffung der Demokratie, wie KritikerInnen gerne monieren. Vielmehr tragen sie, von sachlich bis optimistisch eingestellt, an ihrer Fähigkeit, über Personenwahlen hinaus Sachentscheidungen zu fällen, erstmals gemeinsam bei.

Claude Longchamp

Die Buchvernissage ist heute abend um 1830 im Zürcher Cabaret Voltaire!