Hat der Parteitag der Demokraten Präsident Obama geholfen?

Ob es schon Umfragen zum Parteitag der Demokraten gäbe, wollte Twitter-Follower Matthias Bücher gestern von mir wissen? Die Antwort auf die Schnelle lautet ja, die Antwort mit Umsicht fällt nicht umgekehrt, aber etwas differenzierter aus. Eine Auslegeordnung.

Drei US-Institute veröffentlichen gegenwärtig täglich Umfragen: Gallup, Ipsos und Rasmussen.

. Gallup kommt heute morgen auf 48:45 im Kampf zwischen Obama (+1%punkt) und Romney (-1%punkt). (Weitere Aktualisierung kann man sich unter https://twitter.com/gallupnews abonnieren.)

. Ipsos nennt ein Verhältnis von 46:44 (mit 2% plus bei Obama und 1% minus bei Romney). (Einen grafischen Trend gibt es hier noch nicht, aktuelle Daten gibt es unter https://twitter.com/ipsosnewspolls)
. Bei Rasmussen (GOP-nahestehend) sieht es gleich aus; Obama hat 46% (+1%punkt) und Romney kommt auf 44% (-2%punkte, weitere Aktualisierungen unter https://twitter.com/RasmussenPoll).

Gemeinsam ist allen drei demoskopischen Erhebungen, dass Obama kurzfristig etwas gewinnt, Romney etwas verliert. Etwas unterschiedlich sind allerdings die Niveaus. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass alle Aussagen auf Tracking-Studien beruhen, also auf mehrtätigen Befragungen, wobei jeden Tag eine Tranche Befragte hinzu kommt, und alle 24 Stunden auch eine verschwindet. Die effektiv gemessenen Ausschläge waren demnach allesamt grösser, indessen, auch die Fehlerquote ist erhöht, sodass gemittelte Werte sicherer sind. Der Nachteil der Methode besteht darin, dass es sich nicht um Veränderungen von gestern zu vorgestern handelt. Vielmehr geht es um Verschiebungen, die einige Tage älter sind. Denn Gallup errechnet die Mittelwerte auf jeweils 7 (Befragungs)Tage, Ipsos und Rasmussen auf jeweils 3.

Falsch wäre der Schluss, dass sei der Effekt der Rede von Präsident Obama; richtig ist, dass die Auswirkungen des mehrtätigen Konventes der Demokraten einfliesst, und die Effekte der Präsentationen von Michelle Obama, allenfalls auch Bill Clinton jetzt schon berücksichtigt sind. Was Obama mit seiner Schlussrede bewirkte, wird man wohl erst in 2-3 Tagen genauer abschätzen können. Indes, auch das wir man nie genau wissen, den gestern erschienen auch die letzten Arbeitsmarktdaten, wobei man annehmen kann, dass sie einen Teil der positiven Veränderungen bereits neutralisiert haben.

Diese üblichen Probleme mit dem harten nowcasting kann man nur entgegen, wenn man sich fragt, was das für das forecasting heisst. Zu deutsch, was wird, wenn man statt auf Bestandesaufnahmen auf Vorhersagen abstellt?

Dazu gibt es in den USA zwischenzeitlich 6 Projektionsmodelle; die 5 Einzelhochrechnungen aufgrund verschiedener Ueberlegungen dazu kommen auf 50,1 bis 51,0 % Stimmen für den Amtsinhaber, wobei dieses Verhältnis nur noch die Stimmen für Obama und Romney schätzt. Das Mittel, das in die 6. Projektion, die von PollyVote, eingeht, liegt wählerInnen-seitig bei 50,4 zu 49,6 für den bisherigen Präsidenten.

Projektionen der Wählerstimmen aufgrund von Umfragen: Prozente für Obama
50,1% Pollster
50,2% TalkingPointsMemo
50,2% ElectionProjection
50,4% RealClearPolitics
51,0% Princeton Election Consortium

Kontrolliert wird dies bei PollyVote durch andere Prognosemethoden, namentlich durch ökonomische Modelle, Modellierungen von Personen- und Themenkompetenzen, Wahlbörsen und Expertenmeinungen. Namentlich die ökonomischen Modelle legen ein noch knapperes Ergebnis nahe, derweil alle anderen Verfahren den Vorsprung von Obama etwas vergrössern. Total gibt das für die Prognosespezialisten des PollyVote-Projektes ein Rating von 51,6 für Obama zu 48,4 für Romney. Tatsächlich wäre damit auch der leicht positive Trend für den Republikaner seit seiner Nominierung gebremst und in die umgekehrte Richtung gelenkt worden. Die Effekte sind allerdings recht gering, denn Obama lag in den Prognosen der letzten 6 Monate immer vorne, und zwar mit einem Anteil von 51,2 bis 52,6 bei dem (vereinfachten) Verhältnis der Wählerstimmen.

Prognosemethoden WählerInnen-Anteile: Prozente für Obama
50,2% ökonometrische Modelle
50,4% Umfragen
50,7% Expertenschätzungen
53,1% Wahlbörse (Iowa)
53,7% Personenprofile/Themenkompetenzen

Damit sind wir bei der Umrechnung auf die Elektorenstimmen ankommen, die in den Gliedstaaten vergeben werden. Deshalb sind die nationalen Stimmenanteile gar nicht so wichtig, von Bedeutung ist mehr die (voraussichtliche) Verteilung in den umstrittenen Staaten. Nimmt man die 5 detaillierten Projektionen, die es hierzu gibt, resultiert stets ein Vorsprung für den demokratischen Kandidaten, wenn auch ein unterschiedlich grosser. Für seine Wiederwahl braucht Obama 270 Stimmen, und er hat in den Prognose zum Electoral College zwischen 285 und 322. Das ist sicher weniger als vor 4 Jahren, aber immer noch genug, um seine Ziele in der 2. Amtszeit zu erreichen.

Prognosemethoden ElectoralCollege: Stimmen für Obama
285 ElectionProjection
309 PrincetonElectionProjection
314 FiveThirtyEight
322 Votamatic
322 Electoral Vote
Weggelassen habe ich hier alle Zusammenstellungen, welche die Stimmen in den unsicheren Gliedstaaten in die neutrale Mitte-Position schieben, sodass beiden Kandidaten keine Mehrheit haben.

Mit anderen Worten, lautete die Antwort auf Matthias Bürches Frage: Es gibt Umfragen, doch wir man den Parteitageffekt erst in wenigen Tagen kennen. Momentan spricht alles dafür, dass er Obama kurzfristig nützt, und dass er dies seinen Vorsprung in den Projektionen etwas vergrössert hat. Tiefgreifene Umschwünge sind nicht zu erwarten, werde durch den einen, noch den anderen Grossanlass. Das spricht für eine polarisierte Kandidatenlandschaft, bei der sich ähnliche grosse Lager gegenüberstehen. Bei den Wählerstimmen haben sich die Verhältnisse mit leichtem Vorteil für Obama stabilisiert, bei den Elektorenstimmen hat der Präsident einen etwas grösser Vorsprung.

Claude Longchamp

Kein Wahlfieber

Die Börse auf Wahlfieber zum Passivraucherschutz in der Schweiz will nicht richtig in Schwung kommen. Wer bisher mitmachte, setzt auf ein Ja.


Wahlfieber-Prognose (im Zeitverlauf) zur Volksinitiative “Schutz vor Passivrauchen”

Seit einigen Jahren gibt es Wahlbörsen. Die einen schwören auf sie, andere schenken ihnen keine Beachtung. Selber sehe ich mich irgendwo dazwischen.

Bei Wahlen haben sich Wahlbörsen im In- und Ausland als valable Ergänzung um Umfragen etabliert. Bei Abstimmungen fällt das Urteil durchzogener aus. Die meisten Beispiele stammen aus der Schweiz, und die zeigen, dass vieles, vielleicht sogar zu vieles, von der Mitmachbereitschaft abhängig, die ihrerseits vom Interesse am Thema, dem Konflikt vor der Entscheidung und der Werbung auf Massenplattformen abhängt.

Bei den anstehenden, schweizerischen Volksabstimmungen scheint alles noch etwas krasser zu sein. Zu den drei Entscheidungen gibt es gerade in einem Fall eine Börse (auf Wahlfieber). Und selbst die wurde erst in den letzten Tagen freigegeben.

Ihr vorläufiges Fazit: die Volksinitiative “Schutz vor Passivrauchen” wird angenommen. Sie würde Volks- und Ständemehr schaffen. Bei ersterem zeichnet sich ein Prognosewert von 65-66 Prozent Ja ab, bei zweiterem ein Ständemehr von 20-21 (Halb)Kantonen.

Alles schon gelaufen? – Man kann diesmal auch skeptischer sein als sonst. Momentan wetten gerade mal 16 Börsianer. “Kein Wahlfieber” in Sachen Nicht-Raucherschutz ist denn auch meine Zusammenfassung. Denn die kleine Teilnahmezahl ist deutlich tiefer als sonst, womit der Einfluss einer oder einiger Person(en) auf das Schätzergebnis klar steigt.

Der vorhergesagte Ja-Wert orientiert sich wohl am stärksten an den Ergebnissen der diversen kantonalen Entscheidungen. Und er ist, last but not least, noch einiges höher als bei der SRG-Umfrage anfangs der laufenden Kampagne.

In gut zwei Wochen weiss man sicher, was Sache ist; am kommenden Mittwoch, wenn die letzte Vorbefragung erscheint, kann man die nächste Einschätzung machen. Es wird interessant sein, zu sehen, ob sich die wenigen Börsianer von den bekundeten Stimmabsichten der BürgerInnen anstecken lassen, oder ob genau deshalb noch mehr ihre Wette kund tun wollen!

Claude Longchamp

Nowcast and Forecast

Die Verwendung von Umfragen zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen nimmt zu – auch in der Schweiz. Das ist erfreulich, und es wäre noch erfreulicher, wenn dabei nicht Birnen und Aepfel vermischt würden.

Zuerst zum Begrifflichen
Umfragen sind Bestandesaufnahmen. Sie zeigen, die wie Wählenden heute (am kommenden Sonntag) wählen würden, fände die Wahl heute (am kommenden Sonntag) schon statt. Prognostischen Wert hat das für heute (für den kommenden Sonntag) – mehr nicht!
Denn in der Fachsprache ist das ein nowcast, kein forecast.
Um daraus eine Prognose machen zu können, muss man wissen, was bis zur effektiven Wahl geschieht. Das ist in der Regel bei niemandem der Fall. Oder man muss sagen können, was noch geschehen könnte. Mit Erfahrung ist das denkbar, wobei sich diese aus dem ableitet, was in den letzten Malen im vergleichbaren Zeitraum geschehen ist.
Wirkliche Prognosen setzen Modellrechnungen voraus, die vorliegen, wenn bestimmte Informationen, die man aus aktuellen Umfragen nimmt, mit weiteren, allgemein gültigen Determinanten einer Wahl verrechnet. Dabei stützt man sich beispielsweise auf die aktuelle Popularitätswerte für Kandidaten und Wahlabsichten für Parteien, und man kontrolliert das Ganze mit Faktoren wie der Wirtschaftslage, Kampagnenbudgets oder Basisaktivitäten in stark umkämpften Gebieten.
Das ist dann ein forecasting, das sich in der Regel von einem nowcasting unterscheidet.

Sodann zu typischen Beispielen
Bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen wird zwischen fore- und nowcasting klarer unterschieden, als das in der Schweiz selbst in der Berichterstattung hierzu der Fall ist.
Ein typisches nowcasting findet sich auf RealClearPolitics. Da werden allen brauchbaren Umfragen gelistet, und die Serie wird vorlaufend aufdatiert. Die Kurve, die so entsteht, zeigte Ausschläge von kürzester Dauer, verursacht durch Umfragen verschiedener Institute oder durch Messungen vor und nach einem wichtigen Kampagnenmoment. Die Kurve macht aber auch deutlich, dass es dahinter auch Trends gibt, die gelten, bis eine eigentlicher Wendemoment kommt, mit dem sich die allgemeine Richtung ändert.
Selbst wenn man das mitberücksichtigt, ein nowcasting bleibt ein nowcasting. Vorbildlich unterschieden werden Bestandesaufnahmen von Prognose auf dem Wahlblog “538” der New York Times. Da kann man die Unterschiede beider Vorgehensweisen laufend nachschlagen.
Die grösste Problematik beim forecasting besteht darin, dass es keinen auf alle Zeiten fixen Mix an Faktoren gibt, der zu sicheren Prognose führt. Auf dieses Problem haben die SpezialistInnen zwei Antworten entwickelt: Man schwört auf seine eigene Methode, weil in der Vergangenheit die Beste war, oder aber man summiert alle begründbaren Verfahren, um Ausschläge, die es immer wieder geben kann, in ihren Auswirkungen zu minimieren.
Der dritte, von mir aus gesehen, beste Typ findet sich auf der Website der Forschungsgruppe PollyVote. Das ist aus meiner Sicht das theoretisch (und auch praktisch) bestmögliche Forecasting, denn es berücksichtigt schon im Ansatz verschiedene Prognosemethoden, und es bildet daraus einen Mittelwert an Vorhersagen.

Schliesslich zu den Folgen für Aussagen
Was kommt bei den verschiedenen Ansätzen heraus? Bilanzieren wir konkret, was die Instrumente sagen, und zwar unmittelbar nach dem Parteitag der Republikaner, aber vor dem der Demokraten.
Erstens, RealClearPolitics, das die ganz aktuellsten Umfragen ausweist, hält für heute eine Unentschieden fest: 46,8 Prozent für Obama, genau gleich viel für Romney.
Zweitens, die NewYorkTimes, die im nowcast mehrere aktuelle Umfragen vergleicht (und die Stimmen für DrittkandidatInnen weglässt), kommt gerundet auf 50:49, im forecast vereinfacht auf 51:48. Blogger Nate Silver, der das mit weiteren Grössen kontrolliert, die nicht auf Umfragen basieren, kommt in seiner Prognose auf 51,4 zu 48.6.
Drittens, PollyVote schliesslich hält für das Umfragen nowcasting ein 50:50 fest, unter Berücksichtigung von vier weiteren Prognosemethoden ein 51.5 zu 48.5. Dabei sprechen Modelle, die vor allem auf die Wirtschaftslage abstellen für einen minimalen Vorteil für Romney, während solche, die namentlich auf Personenprofile und Themenkompetenzen der Kandidaten abstellen, einen Vorsprung Obama im Verhältnis von bis zu 54:46 aufweisen.
Was heisst das alles? Das nowcasting von RealClearPolitics kann morgen schon wieder anders sein, namentlich wenn der Parteitag der Demokraten zu Ende ist, während das forecasting von NewYorkTimes einerseits, der Politikspezialisten anderseits ohne massive Veränderungen der Rahmenbedingung nicht mehr substanziell schwanken sollten.
Das lehrt uns auch die jüngste Vergangenheit: Im PollyVote-Gesamtindex lag Obama zu jedem Zeitpunkt wenn auch knapp, so doch immer vorne.
Oder anders gesagt: Im Nowcast-Modus ist der Stand der Dinge “gegenwärtig offen”, im Forecasting hat Obama “seit langem leichte Vorteile”.

Claude Longchamp

Meine online-Leseliste zu den US-Wahlen 2012

Die Online-Berichterstattung zu den US-Präsidentschaftswahlen ist beträchtlich. Selbst einem professionell Interessierten wie mir fällt der Ueberblick nicht immer leicht. Genau deshalb habe ich eine neue Rubrik im Blogroll eröffnet (unten rechts).

Selbstredend kann man über die Internetportale der grossen Medienhäuser gehen. Spezifische(re) Informationen, gegliedert nach Stichworten, findet man hier:

Wahlrecht USA
Wer sich schnell über das Wahlrecht in den USA informieren will, wird hier fündig:
. Elections&ElectoralSystems
. ElectoralCollege (wikipedia)

Aktuelle Präsidentschaftswahl
Die aktuelle Wahl und ihre Hauptakteure werden die dokumentiert und gezeigt:
. US presidential election, 2012
. Barack Obama
. Mitt Romney

NewsTicker
Nützliche NewsTicker sind:
. RealClearPolitics (moderat Republikaner)
. TalkingPointsMemo (Pro Demokraten)
. TheDailyCaller (Pro Republikaner)

Wahlkampf auf Twitter
Uebersichten zum schnellsten Wahlkampf geben:
. 140elect (moderat Republikaner)
. 2012onTwitter
. The Twitter Political Index

Blogs
(Mehr oder weniger) Auf der Höhe der Zeit sind folgende Blogs
. Nate Silver (FiveThirtyEight der NewYorkTimes)
. Ezra Klein (WonkBlog der WashingtonPost)
. Nate Cohn (electionate des TheNewRepublic)
. TheMonkeyCage (Politikwissenschaft)
. US-Wahlblog (Die Zeit, auf Deutschland ausgerichtet)
. US-Wahlblog (Süddeutsche, auf Deutschland ausgerichtet)
. USA2012-365TageWahlkampf (auf Oesterreich ausgerichtet)
. CampaignAnalysis (Louis Perron, Schweizer Kampagnenberater)

Angewandte Forschung
Angewandte Forschung zur Politk der Kandidaten, zu ihrem Geld im Wahlkampf und zu vertieften WählerInnen-Analysen bieten:
. PewResearchCenter 
. OnTheIssues
. OpenSecrets
. Factcheck

Umfrage Tracking (Tagesbefragungen)
. Gallup
. Ipsos
. Rasmussen
. American Life Panel / RAND
Umfragen (ohne Prognose)

Die beste Uebersichten über das Aktuellste aus den Umfragen zu allen Wahlen national und in swing-states resp. zu relevanten Einstellungen vermitteln:
. RealClearPolitics
. votamatic
. polltrackerTPM
. Pollster/HuffintonPost
. PollingReport

Prognosen
Eigentliche Prognosen über Bestandesaufnahmen hinaus aufgrund von Wahlumfragen, Wählermärkten, Modellrechnungen usw. liefern:
. Pollyvote (Wählende, national)
. Votamatic (Wählende, nach Bundesstaaten, projiziert, Electoral College)
. FiveThirtyEight (rechte Spalte: nowcast and forecast für Wählende und Electoral College)
. 270towin (national, state, and Electoral College)
. KarlRove (Electoral College)
Princeton Election Consortium
electoral-vote
Battle for the White House (RCP, Electoral College)
. ElectionProjection (Electoral College, aber auch Repräsentantenhaus und Senat)

Ich hoffe, das bringt Ihnen eine Uebersicht. Selbstverständlich nehme ich weitere nützliche Links gerne entgegen!

Claude Longchamp

Vom Puls der Nation

Twitter avanciert zur Datenquelle der Sozialforschung. Und lehrt uns etwas über unsern Bio-Rhythmus beim Twittern.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Die einen twittern Links zu Themen, die sie interessant finden. Andere schreiben auf, was in ihrem Leben passiert.

Manche erzählen Geschichten in 140 Zeichen. Wiederum andere benutzen Twitter als Kleinanzeigenbörse.

So jedenfalls sieht es die österreichische Schriftstellerin Kathrin Passig im heutigen Standard.at.

Ganz anders nutzten ForscherInnen der Northeastern resp. Harvard University die neuartige Quelle zur Analyse der Menschheit.

Aufgrund positiv und negativ besetzter Wörter in mehr als 300 Millionen Tweets massen sie erstmals den Puls der Nation (USA).

Entstanden ist ein spannendes Stimmungsbild im Tages- und Wochenverlauf, das über den Einzelfall hinaus gilt.

Bekannt war ja, dass Twittern von verfügbarer Zeit und einem Zugang zu einem geeigneten Sendegerat abhängt.

Neu ist jedoch, dass man dabei nicht immer in der gleichen Stimmung ist und die eigenen Gesetzen folgt.

Highlights gibt es morgens um sechs, und auch nach dem Feierabend wendet sich die Gefühlslage ins Positive.

Die glücklichsten Mitteilungen überhaupt werden am Sonntag Morgen verfasst, der grosse Hänger ist am Donnerstag Abend.

Und so kann sich jede und jeder selber fragen, wie weit bewusste resp. unbewusste Schwankungen das eigene Leben beeinflussen.

Na dann, gefreutes Wiedersehen morgen Morgen!

Claude Longchamp

Politische Kommunikation in direktdemokratischen Kampagnen exemplarisch untersucht

Hanspeter Kriesi, eben von der Uni Zürich an die von Florenz gegangen, hat sein letztes in der Schweiz entstandenes Buch vorgelegt. Konzeptionell markiert es einen Meilenstein in der Abstimmungsforschung, datenmässig bleibt es bescheiden, sodass man auch einige Folgerungen anders sehen kann.

Kampagnen zu Volksabstimmungen sind umstrittener geworden, denn es steht immer häufiger im Raum, Abstimmungsentscheidungen könnten durch Eliten bestimmt werden. Genau diese Polarität zwischen Aufklärung und Manipulation greift Hanspeter Kriesi, weiland Professor für Politikwissenschaft an der Uni Zürich, in seinem jüngst erschienen Sammelband zur politischen Kommunikation in direktdemokratischen Kampagnen auf, um sie, unterstützt von einem Forschungsteam an der Uni Zürich, einer vorläufigen Antwort der Wissenschaft zuzuführen.

Die generelle These lautet, dass man Kampagneneffekte in direktdemokratischen Entscheidungen nicht an sich bestimmen kann. Denn sie hängen von Verschiedenem ab: dem Kontext, dem Thema und den Kampagnen selber. Um das einzugrenzen, schlägt Kriesi neuerdings vor, zwischen dem Wettbewerbscharakter von Entscheidungssituationen, die Medienausstattung in der Demokratie und die BürgerInnen-Kompetenzen für differenzieren.

Basis des breit angelegten Lesebuches sind drei vertieft untersuchte Fallbeispiele von Kampagnen vor Volksentscheidungen in der Schweiz: die Aslygesetzgebung, die Einbürgerungsfrage und die Unternehmenssteuerreform. Die Beispiele wurden typologisch ausgewählt: Das erste gilt als einfache und alltagsnahe Entscheidung, das zweite als einfaches, aber nicht alltägliches Exempel, und das dritte erfüllt keines dieser beiden Kriterien. Damit entsteht eine simple Rangierung für Vorlagen, die den Test von Hypothesen zur Wirksamkeit von Kampagnen hinsichtlich der Komplexität Abstimmungsthemen und der Familiarität der BürgerInnen zu erlauben soll. Generell gilt, je anschaulicher und einfacher das Thema, desto klarer dominieren BürgerInnen-Präferenzen.

Zusammengefasst wird die Vielzahl an Untersuchungsergebnissen im 260 seitigen Buch in einem vorbildlich gegliederten Schlusskapitel. Hier meine Learnings:

Erstens, die Strategien der PolitikerInnen werden zunächst durch die Logik der direkten Demokratie selber bestimmt, die ist auf Mehrheitsbildung aus. Sie trifft, mindestens in der Schweiz, auf eine Parteiensystem, das durch ganz andere Determinanten wie Konkordanz und Föderalismus geformt wurde und eher schwachen Minderheitsparteien führte. Deshalb kommt hierzulande der Koalitionsbildung vor einer Volksentscheidung die erste grosse Bedeutung zu. Kriesis Schluss ist, dass die gemässige Rechte – gemeint sind wohl FDP und CVP – die Schlüsselposition einnehmen, denn sie können sowohl mit der populistischen Rechten (der SVP) wie auch der Linke (der SP, GPS) Allianzen eingehen. In der Regel gelinge es so die binäre Logik von Volksabstimmungen zu durchbrechen. Was die Orientierung von Kampagnen betrifft, spricht Kriesi von einer erheblichen Ausrichtung an der Substanz. In der Regel seien die Kampagnen beider Seiten inhaltlich, denn es gelinge ihnen mindestens eine relevante Botschaft zu platzieren. Indes, die Bewertung dieser fällt gespalten aus, weil es nicht mehr eindeutig sei, ob es sich um eine Begründung oder um eine Rahmung der Entscheidung handle. Genau letzteres mache es schwer, den Effekt von Kampagnen zu bestimmen. Denn in der traditionellen Analyselogik stelle man auf die Fähigkeit von Botschaften ab, Reaktionen der anderen Seite zu erzeugen. Wenn es jedoch gar keine Reaktionen mehr gäbe, versage diese Definition. Wirkungen von Kampagnen könnten dann nur noch anhand des Impacts auf Stimmabsichten gemessen werden. Das wiederum lasse sich nur formal messen, beispielsweise aufgrund der Dauer von Kampagnen oder dem Mitteleinsatz der Akteure. Ersteres sei in der Schweiz auch ohne gesetzliche Regelungen stark routinisiert: Entscheidend sei die Hauptphase, in der Regel die letzten drei Wochen vor dem Abstimmungstag, erweitert durch eine Vorphase, die 4 bis 5 Wochen vorgelagert sei. Sich dabei ein Plus zu verschaffen, hänge in erster Linie von den finanziellen Mitteln ab, denn diese determierten den relevanten Inserate- und Plakateeinsatz. Ob es dabei einen engen Zusammenhang zwischen Ressourcen und Ergebnissen gäbe, lasse sich bezweifeln, resümiert Kriesi. Richtig sei, dass die Rechte in der Regel über mehr Geld verfüge, aber keine Garantie für Abstimmungssiege habe. Eine höhere Wirkung vermutet er einzig bei knappen Ergebnissen, wo die Mobilisierung durch Geld jene durch Botschaften übertreffen könne.

Damit leitet die Buchbilanz zu den Medienstrategien über. Der zweite Schluss Kriesis ist, auch Medienkampagnen seien routinisiert, bisweilen sogar auch ritualisiert. Insgesamt attestiert er den Schweizer Medien jedoch, einen hohen Aufwand zugunsten der direkten Demokratie zu betreiben, welcher primär der journalistischen Logik folge. Zudem glaubt er genügend Belege für die spitze Folgerung gefunden zu haben, in Abstimmungskämpfen agiere die Politik, während die Medien nur reagierten. Auch hinsichtlich der vielfach diskutierten Personalisierung von Abstimmungskämpfen fällt die denkbare Kritik zurückhaltend aus: Ausnahme machten letztlich nur die BundesrätInnen, die stark medialisiert, von ihrer Funktion her aber zur sachorientierten Vermittlung verpflichtet seien. Zugenommen habe dabei die Zuschreibung von individueller Verantwortung bei Niederlagen, was mit dem Kollegialsystem kollidiere, ohne aber zu erheblichen Problemen geführt zu haben. Negative Veränderungen im Mediensystem sieht Kriesi vor allem in der Boulevard-Presse, aber auch den Gratismedien. Deren aufklärungskritische Medienkultur werde aber dadurch relativiert, dass es keine substanziellen Hinweise dafür gäbe, dass man sich ausschliesslich über diese Medium infomriere, um sich bei einer Abstimmung zu entscheiden.

Womit wir, drittens, bei den Bedingungen der BürgerInnen-Entscheidungen angelangt sind. Um diese zu analysieren, verwenden die ForscherInnen den Begriff der Prädisposition, genau genommen der generellen politischen Erfahrung einerseits, der themenspezifsichen Involvierung anderseits. Wenn das gegeben sei, komme es zu frühen Entscheidungen, die Bestand hätten; ohne das seien situative Entscheidungen aber verbreitet – mit eigenen Bestimmungsfaktoren. Kriesi spricht dabei von drei Kampagnen-Prozessen: der Verstärkung anfänglicher Stimmabsichten, der Mobilisierung von allgemeinen Prädispositionen und der Bildung von neuen Meinungen durch Kampagnen. Generell sieht er zahlreiche Belege, dass Kampagnen individuelle Lernprozesse auslösen würden. Wie sie sich auf Entscheidungen auswirkten, hänge von der anfänglich postulierten Typologie ab: Verstärkung finde sich vor allem bei eingeführten Abstimmungsthemen, Aktivierung bei wenig bekannten, und Meinungswechsel komme namentlich bei Themen mit hoher Alltagsferne und beträchtlicher Komplexität vor.

Was heisst das alles für die Kardinalsfrage? Der Chef des Forschungsteams entscheidet sich ganz am Schluss des Buches eindeutig für “Aufklärung”. Das sei nicht nur die zentrale Aufgabe der politische Kommunikation in direktdemokratieschen Kampagnen, sondern auch die effektive Wirkung. Die überwiegende Zahl der bisher untersuchten Fälle spräche für diese Vision der Abstimmungsdemokratie. Die exitierenden Abweichungen kämen vor, wenn die Komplexität hoch und die Vertrautheit der BürgerInnen gering sei, schreibt Kriesi. Dann überwiege der Einfluss der Eliteentscheidungen, derweil diese sonst auf die Präferenzen der Stimmberechtigten aufbauen müssten, um Erfolg zu haben.

An diesem Buch überzeugt zunächst die Gesamtsicht der untersuchten Einflussgrössen. Dabei hat die konzeptionelle Erörtung von Abstimmungsentscheidungen in den letzten 20 Jahren beträchtliche Fortschritte erzielt, und sie hat sich von den Konzepten der Wahlforschung vorteilhafterweise gelöst. Es bleibt aber das Problem von Verallgemeinerungen. Letztlich basiert alles hier Beschriebene auf drei Fallbeispielen aus einem politischen System und in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum. Es kommt hinzu, dass eine, vielleicht massgebliche Unterscheidung für die Analyse von Schweizer Volksabstimmungen gar nicht diskutiert wird: der Unterschied in der Logik von Oppositionsvorlagen und der von Behördenvorlagen. Bestimmend ist dabei die umgekehrte Beweislast von Kampagnen: Bei Referenden entstehen Vorlagen im Parlament, und sie wissen eine repräsentative Mehrheit hinter sich, während dies bei Volksinitiativen in aller Regel nicht der Fall ist. Genau das bestimmt die sehr unterschiedlichen Annahmechancen, die mit den herausgearbeiteten Faktoren wie Koalitionsbildung, Medienwirkungen und BürgerInnen-Heuristiken für Initiativen und Referenden separat erklärt werden sollten.

Meine Erfahrungen mit der dynamischen Betrachtung von Volksentscheidungen – bei zwischenzeitlich rund 100 Fallbeispielen aus 25 Jahren – lehrt mich, dass das der fundamentale Unterschied ist, auf dem man das Ganze nochmals durchspielen sollte. So könnte es denn auch sein, dass die eine oder andere der sehr positiven Wertungen der politischen Kommunikation in direktdemokratischen Entscheidungen etwas kritischer ausfallen würde.

Claude Longchamp

Mein Vortragsherbst – (fast) ganz im Zeichen von Volksabstimmungen

Ich bin in diesem Jahr stark belastet mit meinen eigentlichen beruflichen Beanspruchungen, weshalb ich bei Vorträgen etwas reduziert habe. Immerhin, bis Ende 2012 noch einiges zusammen. Hier die Uebersicht.

25.10.2012
Tischgespräche im Müllerhaus Lenzburg: Meinungsbildung in der direkten Demokratie. Stand der Dinge und Ausblick aufgrund der Schweizer Erfahrungen.

Weitherum sind Volksabstimmungen im Kommen, und vielerorts fragt man sich, wie sich Meinungen in der direkten Demokratie bilden. Ich habe hierzu eine Uebersicht verfasst, teste das Referat dieses Jahr bei verschidenen Exponenten der Schweiz, und will es ab 2013 gesamteuropäisch einsetzen.

26.10.2012
Tagung Angestellte Schweiz, Olten: Hoffnungen und Aengste der Mittelschichten in der Schweiz

Die Mittelschichten sind in Bewegung – sie vermehren sind, und gleichzeit zeigen sich verschiedenste Trend mit Auf- und Abstiegsorientierungen. Angestellte Schweiz will sich als neue Interessenvertretung der Mittelschichten platzieren und widmet sich einen Tag dem Thema mit einer ganzheitlichen Perspektive.

6.11.2012
Politische Soziologie, Universität Bern (Gastvortrag im Rahmen der Vorlesung von Prof. Dr. Markus Freitag): VOX-Analyse eidg. Volksabstimmung – das bestetablierte Instrument der Abstimmungsanalyse in der Schweiz

Seit 1977 wurden in der Schweiz alle eidgenössischen Volksabstimmungen mittels Nachbefragungen eines repräsentativen Querschnitts der Stimmberechtigten befragt – weltweit eine einmalige Datenquelle. Den Stand der VOX-Analysen, aber auch denkbare Weiterentwicklungen beschreibe ich mit diesem Referat vor Studierenden der Politikwissenschaft und angehenden ForscherInnen.

15.11.2012
Kundenanlass Postauto Schweiz: Volksabstimmung zu Verkehrsfragen: Gefahr oder Chancen für den öffentlichen Verkehr

Täglich fahre ich Postauto – und die Anfrage, vor den Kunden von Postauto Schweiz sprechen zu können, konnte ich nicht ablehnen! Meine Analyse geht vom der Tatsache aus, dass die direkte Demokratie in der Schweiz substanziell um Fragen des Oeffentlichen Verkehrs herum entstanden ist, dieser zwischenzeitlich gelernt hat, mit Volksentscheidungen erfolgsversprechend umzugehen.

16.11.2012
Historischer Verein Zofingen: 20 Jahre Volksabstimmungen zu Europa-Fragen in der Schweiz – eine Bilanz

Am 6. Dezember 2012 sagte die Schweiz Nein zum EWR-Beitritt, 2001 wurde zudem der sofortige EU-Beitritt in einer Volksabstimmung verworfen. Angenommen wurden vom Souverän dagegen alle Vorlagen zum Bilateralismus zwischen der EU und der Schweiz. Was man daraus für die europapolitischen Mentalitäten in der Sprachregionen, entlang des Stadt/Land-Gegensatz, in den Parteilagern, sozialen Schichten und Generationen lernen kann, behandle ich in diesem Referat.

Hinzu kommen diverse Kurse an (Fach)Hochschulen:

14./15.9.2012
Fachhochschule Winterthur: BürgerInnen-Meinungen und Demoskopie

Mein bewährtes Kursmodul im Rahmen der Ausbildung zur politischen Kommunikation

ab 20.9.2012
Universität St. Gallen, MIA Master: Analyse des Lobbyings in der Schweiz und der EU

Neuartiger Praxiskurs an der HSG, der renomierten Wirtschaftshochschule

ab 21.9.2012
Universität Bern, SVP Master: Weiterentwicklungen zur Abstimmungsforschung

Forschungsseminar, das angehende ForscherInnen mit dem Stand der Abstimmungsanalyse in der Schweiz vertraut macht

5.11.2012
MAZ – Die Schweizer Journalistenschule, Luzern: Lobbyismus – Interessenvertretung in der Demokratie

Praxisorientierte Einfühung in die Welt des Lobbyings, speziell für VertreterInnen der Organisationskommunikation

Claude Longchamp

Weiter an der Referendumsfähigkeit arbeiten

Meine Kurzanalyse der grössten Einzelgewerkschaft in der Schweiz für die Zeitung “work”.

Mit der Fusion zur Unia entstand die mit Abstand grösste branchenübergreifende Gewerkschaft, deren erklärtes Ziel es ist, die Kräfteverhältnisse innerhalb der Arbeitswelt zugunsten der Arbeitnehmenden zu verändern. Dazu gehört auch, sich für eine soziale und gerechte Gesellschaft politisch zu engagieren.

Wenn die Politikwissenschaft die Macht politischer Akteure zu beurteilen hat, greift sie in der Schweiz gerne auf die Referendumsfähigkeit zurück. Gemeint ist damit, in der Lage zu sein, in Kürze 50 000 Unterschriften zu sammeln, öffentliche Kampagnen zu führen und Volksabstimmungen zu gewinnen.
Das Herzstück der Referendumsfähigkeit ist das Veto gegen Parlamentsbeschlüsse. Wer das mit Erfolg demonstrieren kann, hat seine Verweigerungsmacht bewiesen und kann damit an anderen Orten drohen. Denn kein Parlament will nach Jahren der Gesetzesarbeit eine Volksabstimmung verlieren. Also besteht die Tendenz, sich mit referendumsfähigen Organisationen frühzeitig zu arrangieren.
Seit der Gründung der Unia haben die Gewerkschaften ihre Referendumsfähigkeit zwei Mal eindrücklich bewiesen: 2004 bei der 11. AHVRevision, 2010 bei der BVG-Revision. Die AHV-Revision scheiterte mit 68 Prozent Nein, die BVG-Reform mit rekordverdächtigen 73 Prozent. Ähnlich beurteilt werden kann die Mietrechtsrevision 2004, wo sich die Gewerkschaften Seite an Seite mit den MieterInnenverbänden durchsetzten.
Die Bilanz wäre jedoch unvollständig, würde man es dabei bewenden lassen. Denn in weiteren sechs Referendumsabstimmung versagten die Gewerkschaften mit ihrem Aufruf zum Widerspruch. 2006 bei der Arbeitsgesetzrevision, dem Ausländer- und dem Asylgesetz, 2008 bei der 5. IV-Revision und der Unternehmenssteuerreform und 2010 bei der Arbeitslosenrevision. Das alles relativiert die Referendumsfähigkeit der Schweizer Gewerkschaften erheblich. Auf den Punkt gebracht: Das Veto in sozialpolitischen Kernfragen gelingt in der Hälfte der Fälle. In wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen ist die Bilanz indes negativer.
Mein Schluss: Die Gewerkschaften – und damit die Unia – müssen an ihrer Fähigkeit, Referendumsabstimmungen zu gewinnen, weiterarbeiten. Was in zentralen Fragen gelingt, lässt sich jedoch nicht einfach verallgemeinern. Weniger häufiger Widerstand, dann jedoch mit vehementem Einsatz, scheint mir die richtige Folgerung aus dieser Übersicht zu sein. So könnte die Unia ihre politische Macht stärken, und zum Vorteil bei den Anliegen der Arbeitnehmenden einsetzen.

Claude Longchamp

Forschungsseminar: “Volksabstimmungen in der Schweiz” (Meine Lehrveranstaltung im Herbstssemester 2012 an der Uni Bern)

In einem Monat ist es soweit. Es beginnt das Herbstsemester 2012. Meine Lehrveranstaltung im Master “Schweizerische und vergleichende Politik” ist der Abstimmungsforschung gewidmet. Hier die Uebersicht.

Die Lehrveranstaltung ist als Forschungsseminar auf der Masterstufe konzipiert. Erwartet werden ein abgeschlossenes Bachelor-Studium, vorzugsweise in Politikwissenschaft, Interesse für das politische System der Schweiz, namentlich das Funktionieren der direkten Demokratie und gute Basiskenntnisse der empirischen Politikforschung.

Stand der Dinge

Generell ist der Stand der Abstimmungsforschung durch ein geringeres Niveau als etwas die Wahlforschung, aber auch die Partizipationsforschung gekennzeichnet. Namentlich die Entwicklung spezifischer Theorie blieb bisher zurück. Genau das ist für die Politikwissenschaft der Schweiz eine Chance: Denn ausser in Kalifornien hat sich praktisch nur hierzulande eine kontinuierliche Abstimmungsforschung entwickelt, die sich auf die zahlreichen Volksentscheidungen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene bezieht

Dabei sind in jüngster Zeit auf verschiedenen Gebieten Fortschritte erzielt worden, so beispielsweise bei der visuellen Darstellung von Abstimmungsergebnissen im Vergleich, bei der Prüfung von Auswirkungen der Konkordanz auf Konflikte in der direkten Demokratie, bei der Bestimmung von Elite/Basis-Konflikten bei der Untersuchung des Einflusses von Akteure auf Abstimmungsentscheidungen, bei der Messung von Kampagneneffekten und bei der Skizze der Autonomie und Determination von Entscheidungen der Bürger und Bürgerinnen.

Weitere Fortschritte kann man insbesondere dann erwarten, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Es gibt ausreichend Daten; es werden gegenstandsspezifische Theorien entwickelt, die auf die historischen Voraussetzung des Gegenstanden Bezug nehmen, und es gibt eine vergleichende Einordnung in die allgemeinen Entwicklungen des Fachs.

Material zur und Vorgehen während der Lehrveranstaltung

Ausgangspunkt des Forschungsseminars sind die amtlichen Statistiken zu Abstimmungsergebnissen, die namentlich in der Datenbank SwissVotes übersichtlich aufgearbeitet sind. Im Weiteren gibt es eine Datenbank zu den VOX-Analysen eidg. Volksabstimmungen, die Volksentscheidungen auf Befragungsbasis analysieren. Seit Neuestem kommt PolitnetzCH hinzu, mit dem das Abstimmungsverhalten der Parlamentsmitglieder (vorerst nur Nationalrat) vertieft untersucht werden kann. Verweisen sei schliesslich sei auf Bestrebungen, systematische Kampagnenanalysen in die Untersuchungen einzubeziehen.

Das Forschungsseminar hat mehrere Teile: eine Einleitung, während der die Fragestellung entwickelt wird, einen theoretischen Teil, der nach dem Stand der Erkenntnisse fragt, und einen praktischen Teil, bei dem es um Probleme bei der Durchführung sozialwissenschaftlicher Projekte geht. Diese Teile werden mit Kurzreferaten der Studierenden vorbereitet und im Plenum besprochen. Selbstredend hat das Seminar auch einen empirischen Teil, mit dem neue und gesicherte Befunde zur Abstimmungsforschung in der Schweiz erarbeitet werden sollen. Hierzu werden im Verlaufe des Forschungsseminars maximal 4 studentische Arbeitsgruppen gebildet, die über die Planung resp. ausgewählte Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit zuhanden der anderen Teilnehmenden berichten.

Programm des Forschungsseminars

Das Forschungsseminar umfasst 14 doppelstündige Sitzungen, die jeweils am Freitag zwischen 10 und 12 Uhr im Institut für Politikwissenschaft stattfinden. Das vorläufige Programm findet sich nachstehend:

1. Einleitung (2 Sitzungen)
. Entwicklung der übergeordneten Fragestellung / Einordnung von Projektideen in Makro-, Meso-, und Mikro-Ebene der Forschung.
. Logik der Forschung: Hypothesenentwicklung, -prüfung, Gütekriterien
. Präsentation der Datenbanken (BfS, SwissVotes, VOX-Analysen, PolitnetzCH)

2. Stand der Abstimmungsforschung (in der Schweiz) (2 Sitzungen, Kurzreferate)
. Synthetische Ergebnisdarstellungen, Abstimmungsanalysen im Konkordanzsystem. Einflüsse der Akteure auf Abstimmungsentscheidungen, Kampagnen-Effekte auf Abstimmungsergebnisse resp. Information und Beteiligung

3. Skizzierung studentischer Forschungsprojekte (3 Sitzungen, Plenumsdiskussion. Gruppenreferate)
. Diskussion von Forschungsvorhaben, Entscheidung für maximal 4 Arbeitsgruppen
. Präsentationen der Arbeitspläne durch die Arbeitsgruppen (verteilt auf 2 Sitzungen)

4. Ausgewählte Probleme der Forschung (3 Sitzungen, Kurzreferate)
. Probleme im Entdeckungszusammenhang (bei der Entstehung von Forschungsprojekten)
. Probleme im Begründungszusammenhang (während der eigentlichen Forschungsarbeit)
. Probleme im Verwertungszusammenhang (bei der Vermittlung und Umsetzung von Forschungsergebnissen)

5. Diskussion erster Hauptergebnisse (2 Sitzungen, Gruppenreferate)
. Präsentation/Kritik aufschlussreicher Ergebnisse aus der Arbeitsgruppen (verteilt auf 2 Sitzungen)

6. Schlussdiskussionen (2 Sitzungen)
. Erträge des Forschungsseminars
. Weiteres Vorgehen bei Abschlussarbeit

Leistungsbewertung

Der erfolgreiche Abschluss setzt zudem die regelmässige Präsenz in den Plenumsveranstaltungen, die aktive Mitarbeit im Seminar durch die Uebernahme von Kurzreferaten und die Beteiligung an einem studentischen Forschungsprojekt voraus. Eine Literaturliste, verbunden mit Kurzreferatsthemen, wird zu Beginn des Semesters abgegeben.

Jede Forschungsgruppe muss bis zum 31. Januar 2013 eine gemeinsam abgefasste Seminararbeit abliefern, die zusammen mit dem persönlichen Engagement als Leistungsbewertung dient; eine eigentliche Schlussprüfung gibt es nicht.

Claude Longchamp

Ziggy Zaugg’s Dekonstruktion

Mit schrägem Witz und schwarzem Humor ist Dr. Marcel Zaugg zum ersten Helden des angelaufenen Abstimmungskampfes zum Nichtraucherschutz avanciert. Das könnte sich ändern, denn seine Kampagne hat auch Schwächen!


Dr. Marcel Zaugg, der vermeintliche Kampagnenleiter gegen Volksinitiative der Lungenliga, heute auf der Redaktion des “Sonntagsblick”

Am 23. September 2012 stimmt die Schweiz über den „Schutz vor Passivrauchen“ ab. Das Volksbegehren hierzu verlangt eine schweizweit einheitliche Regelung des Rauchverbots, welche die bestehende Gesetzgebung manchenorts verschärfen würde. Erwartbar war, dass es zu einer Frontstellung zwischen Gesundheitsorganisationen und Tabakindustrie je mit ihren Supportern kommt.

Nicht erwartet wurde dagegen Dr. Marcel Zaugg. „Be free!“ ist seine offen vorgetragene Aufforderung, Rauchen sei der Lebensstil der Genussmenschen, seine frohe Botschaft. Alles andere hätten Gesundheitstalibans rund um die Lügenliga erfunden, rüppelt er gegen die Lungenliga und ihre Verbündeten. Damit spricht Zaugg jedem Raucher aus dem Herzen, aber auch ihren Propagandisten, die sich über die schleichende, aber anhaltende Vermehrung von public health Kampagnen ärgern, mit denen der Staat die Freiheit des Einzelnen systematisch einschränke.

Indes, der Vorzeigeraucher ist gar kein Paffer, gar kein Lobbyist und auch gar kein Kampfhund, wie es manchem erscheinen mag. Denn Marcel Zaugg ist, wie ein erster Blick hinter die Kulisse zeigt, Schauspieler! Ein erfundener Lobbyistendarsteller! Eine Persiflage auf den politischen Gegner.

Zauggs Bühne sind die neuen sozialen Medien: das Internet, die Blogs, Facebook und Twitter sind die Bretter, auf denen er tanzt. Sein Mittel ist die Direktheit in eigener Sache, die Uebertreibung, die Karikatur, das Stereotyp, wenn es um die der andern geht. Souffleur in diesem Spätsommertheater ist die Agentur Feinheit von Daniel Graf.

Gelungen ist der Eintritt in die politisch-mediale Arena: Im Nu ist Ziggy Zaugg zur Kultfigur des laufenden Abstimmungskampfes geworden. Verschiedene Fernsehstationen haben ihn interviewt, selbst die Tagesschau hat ihn kurz gezeigt, und morgen porträtiert ihn der Sonntagsblick. Kein Neu-Politiker hätte das in 10 Tagen geschafft!

Erste Zielgruppe der Spezialkampagne, mit der die Lungenliga Kampagne führt, sind die JournalistInnen. Schräg, witzig und unerwartet wirkt gerade im Boulevardjournalismus immer gut. Paradoxe Intervention könnte man das auch nennen, denn es folgt dem postmodernen Aufklärungsmotto: Politik ist von A bis Z inszeniert, sodass die Dekonstruktion der falschen Welten die wahre Informationsarbeit ist! Basis hierfür ist, dass viele JournalistInnen nicht mehr an die politischen Akteure glauben, über die sie berichten, sodass sie Freude haben, wenn sich jemand einen unterhaltsamen Spass draus macht. Es kommt hinzu, dass zwischenzeitlich ein relevanter Teil der heutigen Abstimmungskampagnen virtuell stattfindet, mit denen die Grenzen zwischen Gesehenem, Gehörtem und Geprüftem immer mehr verschwindet.

Zweite Zielgruppe der Kampagne ist die Gegnerschaft. Sie soll personalisiert angesprochen und eingeschüchtert werden, denn es droht ein jeder ihrer Schachzüge bis am 23. September 2012 transparent gemacht und damit durchschaubar zu werden. Wenn PR Berater das untereinander wissen, mag das noch knapp angehen; wenn aber die breite Oeffentlichkeit via Medien mitschaut, ist das problematisch. Genau damit spielt Zaugg: den Widersacher durch tägliche Irritation zu lähmen.

Ob die Stimmenden eine sinnvolle Zielgruppe solcher Kampagnen sind, kann man bezweifeln. „Don’t think of an Elephant“ predigt der amerikanische Kommunikationsguru George Lakoff seit langem, um zu sagen: Bediene dich nie der Bilder des Gegners, wenn Du sie bekämpfen willst. Denn selbst wenn Du Dich von ihnen distanzierst, mobilisierst Du ihre emotionale Wirkung. Das ignorieren zwar Komiker mit Erfolg, weshalb viele über sie lachen können. Doch ist politische Kommunikation etwas anderes, womit manchem, der sie falsch betreibt, das Lachen vergeht. Denn was hier als Fantasie erdacht wurde, wird mit solchen Kampagnen zur Realität, der Ulk mutiert Stück für Stück zur Wahrheit, bis das Spiel zur ernsten Sache wird!

Momentan bringt Ziggy Zaugg den Abstimmungskampf in Fahrt. Mit dem überraschenden Auftritt hat die Lungenliga in der fast schon verloren geglaubten Sache das Gesetz des (medialen) Handelns an sich reissen können. Der Knalleffekt dürfte sich aber rasch abnützen. Denn die Kampagne hat Schwöchen: Zum Beispiel sind die Inhalte der Lungenliga noch kaum platziert worden. Man kann sogar skeptisch sein, dass die arg stilisierte Figur dazu noch fähig sein wird. Doch jeder zynische Medienaufritt wird am Schluss der Ja-Kampagne aufgerechnet, was ihr Plätze kostet, die sie während der Ueberzeugungsphase noch brauchen wird. Das wird man spätestens dann merken, wenn es nicht mehr darum geht, Aufmerksamkeit zu erzeugen, sondern die Meinungsbildung zu steuern.

Vielleicht läuft die neue Art von Politikkampagnen auch an einer anderen Schwäche auf, bricht sie doch mit dem tiefsitzenden Tabu, die PR in Kampagnen nicht mit PR in Kampagnen anzugreifen. Denn Ziggy Zauggs Dekonstruktion ruft seinerseits nach Dekonstruktion, was die Spirale der Transparenz zwar weiter befördern, gleichzeitig aber auch die Delegitimation der PR weiter steigern dürfte. Das kann nicht im Sinn der professionelle Oeffentlichkeitsarbeit auf Dauer sein.

Claude Longchamp