Nowcast and Forecast

Die Verwendung von Umfragen zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen nimmt zu – auch in der Schweiz. Das ist erfreulich, und es wäre noch erfreulicher, wenn dabei nicht Birnen und Aepfel vermischt würden.

Zuerst zum Begrifflichen
Umfragen sind Bestandesaufnahmen. Sie zeigen, die wie Wählenden heute (am kommenden Sonntag) wählen würden, fände die Wahl heute (am kommenden Sonntag) schon statt. Prognostischen Wert hat das für heute (für den kommenden Sonntag) – mehr nicht!
Denn in der Fachsprache ist das ein nowcast, kein forecast.
Um daraus eine Prognose machen zu können, muss man wissen, was bis zur effektiven Wahl geschieht. Das ist in der Regel bei niemandem der Fall. Oder man muss sagen können, was noch geschehen könnte. Mit Erfahrung ist das denkbar, wobei sich diese aus dem ableitet, was in den letzten Malen im vergleichbaren Zeitraum geschehen ist.
Wirkliche Prognosen setzen Modellrechnungen voraus, die vorliegen, wenn bestimmte Informationen, die man aus aktuellen Umfragen nimmt, mit weiteren, allgemein gültigen Determinanten einer Wahl verrechnet. Dabei stützt man sich beispielsweise auf die aktuelle Popularitätswerte für Kandidaten und Wahlabsichten für Parteien, und man kontrolliert das Ganze mit Faktoren wie der Wirtschaftslage, Kampagnenbudgets oder Basisaktivitäten in stark umkämpften Gebieten.
Das ist dann ein forecasting, das sich in der Regel von einem nowcasting unterscheidet.

Sodann zu typischen Beispielen
Bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen wird zwischen fore- und nowcasting klarer unterschieden, als das in der Schweiz selbst in der Berichterstattung hierzu der Fall ist.
Ein typisches nowcasting findet sich auf RealClearPolitics. Da werden allen brauchbaren Umfragen gelistet, und die Serie wird vorlaufend aufdatiert. Die Kurve, die so entsteht, zeigte Ausschläge von kürzester Dauer, verursacht durch Umfragen verschiedener Institute oder durch Messungen vor und nach einem wichtigen Kampagnenmoment. Die Kurve macht aber auch deutlich, dass es dahinter auch Trends gibt, die gelten, bis eine eigentlicher Wendemoment kommt, mit dem sich die allgemeine Richtung ändert.
Selbst wenn man das mitberücksichtigt, ein nowcasting bleibt ein nowcasting. Vorbildlich unterschieden werden Bestandesaufnahmen von Prognose auf dem Wahlblog “538” der New York Times. Da kann man die Unterschiede beider Vorgehensweisen laufend nachschlagen.
Die grösste Problematik beim forecasting besteht darin, dass es keinen auf alle Zeiten fixen Mix an Faktoren gibt, der zu sicheren Prognose führt. Auf dieses Problem haben die SpezialistInnen zwei Antworten entwickelt: Man schwört auf seine eigene Methode, weil in der Vergangenheit die Beste war, oder aber man summiert alle begründbaren Verfahren, um Ausschläge, die es immer wieder geben kann, in ihren Auswirkungen zu minimieren.
Der dritte, von mir aus gesehen, beste Typ findet sich auf der Website der Forschungsgruppe PollyVote. Das ist aus meiner Sicht das theoretisch (und auch praktisch) bestmögliche Forecasting, denn es berücksichtigt schon im Ansatz verschiedene Prognosemethoden, und es bildet daraus einen Mittelwert an Vorhersagen.

Schliesslich zu den Folgen für Aussagen
Was kommt bei den verschiedenen Ansätzen heraus? Bilanzieren wir konkret, was die Instrumente sagen, und zwar unmittelbar nach dem Parteitag der Republikaner, aber vor dem der Demokraten.
Erstens, RealClearPolitics, das die ganz aktuellsten Umfragen ausweist, hält für heute eine Unentschieden fest: 46,8 Prozent für Obama, genau gleich viel für Romney.
Zweitens, die NewYorkTimes, die im nowcast mehrere aktuelle Umfragen vergleicht (und die Stimmen für DrittkandidatInnen weglässt), kommt gerundet auf 50:49, im forecast vereinfacht auf 51:48. Blogger Nate Silver, der das mit weiteren Grössen kontrolliert, die nicht auf Umfragen basieren, kommt in seiner Prognose auf 51,4 zu 48.6.
Drittens, PollyVote schliesslich hält für das Umfragen nowcasting ein 50:50 fest, unter Berücksichtigung von vier weiteren Prognosemethoden ein 51.5 zu 48.5. Dabei sprechen Modelle, die vor allem auf die Wirtschaftslage abstellen für einen minimalen Vorteil für Romney, während solche, die namentlich auf Personenprofile und Themenkompetenzen der Kandidaten abstellen, einen Vorsprung Obama im Verhältnis von bis zu 54:46 aufweisen.
Was heisst das alles? Das nowcasting von RealClearPolitics kann morgen schon wieder anders sein, namentlich wenn der Parteitag der Demokraten zu Ende ist, während das forecasting von NewYorkTimes einerseits, der Politikspezialisten anderseits ohne massive Veränderungen der Rahmenbedingung nicht mehr substanziell schwanken sollten.
Das lehrt uns auch die jüngste Vergangenheit: Im PollyVote-Gesamtindex lag Obama zu jedem Zeitpunkt wenn auch knapp, so doch immer vorne.
Oder anders gesagt: Im Nowcast-Modus ist der Stand der Dinge “gegenwärtig offen”, im Forecasting hat Obama “seit langem leichte Vorteile”.

Claude Longchamp