USWahl: statt auf Einzelbefragungen zu schauen, Umfrageaggregatoren verwenden

Die Praxis im Umgang mit Umfragen in den USA und andern Ländern ist recht unterschiedlich. In der Schweiz und anderswo könnte man lernen, schon bei den gegenwärtigen Präsidentschaftswahlen.

In der Schweiz gibt es viel weniger Wahlbefragungen als in den USA. Zudem, man hat sich daran angewöhnt, statistische Fehlergrenzen zu zitieren. Die besagen, dass der effektive Wert in der Grundgesamtheit aufgrund der Messung in der Stichprobe zwischen einem Maximal- und einem Minimalwert liegt. In den USA wiederum haben wir, gerade vor Präsidentschaftswahlen, das 100-fache an Befragungen. Das erlaubt es, eine andere Art der Validierung von Einzelergebnissen vorzunehmen – zum Beispiel, indem man Werte aus Umfragen mittelt. Damit schliesst man aus, sich von Ausreissern fehlleiten zu lassen.

Gegenwärtig gibt es fünf solcher Aggregatoren von Umfragen. Erstellt werden sie nicht von Umfrageinstituten, sondern von wissenschaftlichen oder journalistischen Plattformen. Das Prinzip ist überall sehr ähnlich, die berücksichtigten Umfragen variieren leicht – deshalb gibt es auch gewisse Unterschiede zwischen den Aggregatoren. Aktuell zeigen sie, reduziert auf die Angaben für die beiden Favoriten (Prozentwerte für Obama):

48.7% Talking Points Memo
50.4% RealClearPolitics
50.5% Pollster
50.8% Princeton Election Consoritum
51.1% ElectionProjection

Noch besser als das ist die Superaggregation, sprich die Aggregierung der Aggregatoren, die PollyVote erstellt. Der Mittelwert der Mittelwerte liegt aktuell bei 50.3 Prozent für Obama, gegenüber 49.7 für Romney. Der Vorteil: Fehlerquoten sind hier nicht mehr nötig!


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Die unprätentiös geführte Website des Papageien “Polly” bietet noch mehr. Denn sie zeigt seit neuestem handlich auf, wie sie die die Mittelwerte in den Aggregatoren über die Zeit verändern. Das erlaubt es, Ereignisanalysen auf gesicherter Basis vorzunehmen.

Demnach kann man sagen: Seit dem 5. Oktober entwickeln sich alle Aggregatoren zuungunsten des Präsidenten. Der Verlust seither beträgt rund 2% Wählerstimmen; entsprechend zugelegt hat der republikanische Herausforderer. Seit dem 9. Oktober ist der Trend indes nicht mehr einheitlich, klare Aussagen, wie es weiter geht, lässt das (noch) nicht zu.

Die Erklärung für diese jüngsten Entwicklungen ist recht einfach: Mit einer Ausnahme legen die Aggregatoren nahe, dass der Rückgang erst nach der “DenverDebate” eingesetzt hat, dass er wohl bereits wieder gestoppt ist und insgesamt weniger als 2 Prozent Wählend verschob. Die Führung des Präsidenten in den Umfragen, seit der Publikation des Videos über Romney Aussagen zu “Staatsschmarotzern” kontinuierlich angewachsen, ist damit geschmolzen, aber nicht ganz aufgebraucht.

Direkt anwendbar wären diese Ueberlegungen in der Schweiz oder Oesterreich nur, wenn es viel mehr Umfragen gäbe. Das wird in absehbarer Zeit nicht der Fall sein. Indirekte Anwendungsmöglichkeiten gibt es dennoch. Statt auf einzelne Umfragen zu schauen und daraus Entwicklungen anzuleiten, ist der Gebrauch der Umfrage-Aggregatoren zu empfehlen. Gut gemeint ist das für alle, also nicht nur für die SpezialistInnen, sondern jede und jeder, die/der sich dafür interessiert – oder darüber berichtet. Denn die Mittelwertsentwicklung auf Aggregatoren- und Superaggregatorenebene werden von PollyVote tagesaktuell via Internet veröffentlicht – und sollten viel häufiger statt exemplarischer Umfragen zitiert werden. Zum Vorteil aller!

Claude Longchamp

Uebrigens: Seit kurzem gibt es auch einen Aggregator für Wahlbörsen zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen: predictwise.

In allen Prognosen zu Elektorenstimmen ist (und bleibt) Obama der Favorit

Zwischen Websiten der Prognosespezialisten in den USA und den Schlagzeilen führender Medien der Schweiz klafft eine Lücke.

Das führende Blog der US-Politikwissenschaft, The Monkey Cage, publizierte diese Woche eine bemerkenswert klar argumentierende Prognose zum Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen. Anders als die aktualitätsbezogenen Analysen über die kurzfristigen Auswirkungen des ersten TV-Duells zwischen Barack Obama und Mitt Romney, berücksichtigt die zukunftsgerichtete Studie sowohl die momentanen Umfragewerte als auch das Wahlmuster, das man aus der Geschichte der Bundesstaaten in den letzten Woche vor der Wahl kennt.

Der Amtsinhaber hat gemäss Kurzfassung des Berichts (unter Vernachlässigung der Stimmen für die Aussensseiter) die Chance, 53.1 Prozent der Stimmen zu bekommen, und er würde 332 Elektorenstimmen erhalten. Barack Obama würde damit die Wahl vom 6. November 2012 weniger deutlich als vier Jahre zuvor, denn mit eindeutigem Vorsprung gewinnen. Auf seinen Widersacher entfielen nämlich nur 47.1 Prozent der Stimmen und 206 Wahlleute.

Zu den Stärken dieser Prognose zählt, dass sie die Sicherheit der Elektoren-Verteilung nach Bundesstaat auflistet. Demnach sind 5 Rennen noch einigermassen offen: diejenigen in Virgina, Colorado und Florida, mit 64 bis 72 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass die Elektoren den Demokraten zufallen werden, und diejenigen in North Carolina und Missouri, wo der Republikaner mit 71-75% Wahrscheinlichkeit vorne liegen wird.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Obama die nötigen 270 Stimmen für seine Wiederwahl erreicht, beziffern die beiden Autoren mit 98,8 Prozent.

Im Vergleich zu anderen, ähnlich gelagerten Instrumenten, zeigt das von Jay DeSart und Thomas Holbrook, den klarsten Vorsprung für den bisherigen Präsidenten. Alle anderen sehen ihn zwar auch vorne, doch mit etwas geringeren Abstand.

Recht nahe beisammen sind FiveThirtyEight, PricentonElectionProjektion und RealClearPolitics. Bei ihnen kommt Obama auf 319 bis 303 Stimmen, derweil Romney bei 206 bis 235 steht. Das gilt letztlich auch für Electoral-Vote, das auf 319 zu 206 kommt, weil man in einem Bundesstaat unsicher ist und 13 Stimmen nicht verteilte.

Uebersicht über die Projektionen der gesichterten und möglichen Elektorenstimmen für Obama und Romney gemäss den führenden tools:
319:206 (13) ElectoralVote
311:228 FiveThrityEight/NewYorkTimes
309:229 PrincetonElectionProjection
303:235 RealClearPolitics/NoTussUp

Davon zu unterscheiden sind Auflistungen der Stimmen nach Bundesstaaten, die ohne die unsichere Bundesstaaten zählen. Die Chancen beider Kandidaten, die relevanten 270 Stimmen zu erhalten, sinken dabei automatisch. Pikanterweise überschreitet Obama in einem Fall diese Limite dennoch, – ausgerechnet beim langjährigen Berater republikanischer Präsidenten Karl Rove!

Uebersicht über die Auflistungen der gesicherten Elektorenstimmen für Obama und Romney gemäss den führenden tools:
277:191 (70) Karl Rove
263:206 (69) Huffinton Post
251:181 (106) RealClearPolitics
237:191 (110) 270towin

Ganz anders tönt es in der heutigen Schweizer Presse. So titelt die NZZamSonntag: “Ein Präsident Mitt Romney ist ab sofort denkbar”. Journalistischer Spannungsaufbau mag zu dieser Headline verleitet haben – ein Blick auf die Einschätzungen der Spezialisten, die im Internet diskutiert werden, hätte zu Vorsicht geraten.

Claude Longchamp

Via Twitter fernsehen

Was fernsehen ist, weiss man gemeinhin. Was aus twittern wird, erahnt man langsam. Mein gestriges Experiment mit beiden Medien war für mich jedenfalls neu – und aufschlussreich. Eine Zusammenfassung mit Ausblick.

In der gestrigen “Arena” des Schweizer Fernsehens ging es unter der Leitung von Urs Wiedmer um den “Mythos Milizparlament“. Zuerst debattierte eine Runde PolitikerInnen, dann eine aus ExpertInnen. Ich war in der zweiten. Sendungen wie diese sind Live-Aufzeichnungen. Produziert werden sie in einem Stück, gesendet werden sie zeitverschoben. So kann man sich auch als TeilnehmerIn das Ganze ansehen.

Oder man kann sie auf Twitter verfolgen, genauso wie ich es gestern bei einem Bier in der Berner Markthalle machte. Ein TV-Gerät hatte ich nicht, nur mein iphone. Doch dieses rasselte fast ununterbrochen. 83 Reaktionen habe ich gestern erhalten, und an die 20 neue Follower kamen hinzu.

Angefangen hatte alles am Morgen. Mit einem Beitrag auf diesem Blog habe ich meinen “Arena”-Tag eröffnet. So teilte ich dem Moderator der Sendung mit, was meine Argumente sein würden. Indes, schon darauf gab es Reaktionen aus der Twitter-Szene.

Sascha Erni mobilisierte umgehend für mehr Assistenzstellen, die MilizpolitikerInnen entlasten sollten. Maja Hofmann erkundigte sich nach der Bodenhaftung von BerufspolitikerInnen, und Roger Altenburger fragte nach, wie man denkbare Entfernungen kompensieren könnte. Da habe ich mein BürgerInnen-Büro ins Spiel gebracht: MilizpolitikerInnen könne man nicht vorschreiben, was sie ausserhalb der Parlamentsarbeit machen müssen; von BerufspolitikerInnen dürfe man jedoch erwarten, dass sie einen Tag in der Woche kostenlos für Anliegen aus der Bürgerschaft eine lange “Sprechstunde” abhalten würden. So könnten sie ihre Bodenhaftung beweisen.

Alexander Limacher war gar nicht einverstanden mit der Stossrichtung meiner ganzen Argumentation, während Olivier Dolder sie erweitern wollte: Von überlasteten PolitikerInnen würden Dritte wie Verbände und Verwaltung profitieren, brachte er ein. Fritz Hostettler forderte ein Verbot von Verwaltungsratsmandaten für Gewählte, um Interessenskonflikte abzubauen.

An dieser Stelle meldeten sich Betroffene: Nationalrat Balthasar Glättli verlangte, das Volks-Nein von 1992 in Sachen Entschädigung und Unterstützung von der Schweizer Parlamentarier zu überdenken und die damaligen Vorschläge erneut einer Entscheidung zuzuführen. Claudio Kuster, Assistent von Ständerat Thomas Minder, hieb mehrfach in die gleiche Kerbe. Schliesslich mischten auch Journalisten mit: Joel Weibel ergänzte meine Ausführungen durch Ergebnisse einer Masterarbeit an der Uni Bern zum Stand der Professionalisierung von Kantonsparlamenten, und Alexander Sautter verbreitete seiner grossen Anhängerschaft, meine Ueberlegungen seien “interessant”.

Gegen Abend dann erinnerten verschiedene aus der Twitter-Gemeinde, was das Thema der Arena-Sendung sei, und kurz vor Handy-Löschen drückte mir die nähdrescherin (bewusst in minuskeln gschrieben) ganz fest ihre Daumen.

Nach der Sendung meldete ich mich bei der nähdrescherin zurück und meinte ohne konkret zu werden, die Sendung sei mir bisweilen wie Achterbahnfahren vorgekommen. Die Thurgauerin wiederum wollte wissen, ob ich Traubenzucker dabei gehabt habe und ob sie für sich Baldrian bereit halten solle. Ihre Kollegin Maja Hofmann fand das keine adäquate Prävention für schwierige Sendungen, für sich habe sie sich Wurfkissen bereit gelegt.

Der erste Kommentar zur laufenden Sendung kam von Sascha Erni, meinem informellen Outfit-Berater; grau-in-grau komme an, jedenfalls besser als die KLeiderwahl bei meinen letzten Auftritt. Ich war nachträglich erleichtert …

SRG-Journalist Konrad Weber nutzte die Aufmerksamkeit in der Twitter-Welt, um für die neue ArenaVorOrt Werbung zu machen; postwendend schloss sich mir Radio-Moderatorin Mona Vetsch als neue Followerin an. Alexander Limacher, am Morgen gar nicht auf meiner Seite, fand mein Werben für mehr festbezahlte MitarbeiterInnen der ParlamentarInnen nun “ein Weg, der sein könne”, damit die Gewählten sich “mehr für Schweizer einsetzen” würden, während er umherjetende ParlamentarierInnen für generell unnötig befand. Tania Woodhatch bemerkte als erste, es sei eine sehr emotionsgeladene Sendung, und gratulierte mir, gelassen geblieben zu sein. Journalist “nachdenkend” (Michael Soukup) verwies darauf, in Zug seien die PolitikerInnen nicht überlastet, denn dieses Jahr seien schon drei Sitzungen mangels Traktanden ausgefallen. Derweil karikierte Peter Stämpfli die Miliz im nationalen Parlament am Beispiel von Felix Gutzwiller, der Zeit habe, sich auf facebook mit seiner “Babe” zu vergnügen.

Ida warnte über meinen account Ruedi Lustenberger (kein Twitterer): “jtz wirsch emotional”. Zur Sache sprach dann Nationalrätin Jacqueline Badran, die Politik sei von Verbänden abhängig von Verbänden, denn sie bestünde aus diesen. Alexander Limacher widersprach mir erneut, diesmal wegen der geforderten Amtszeitbeschränkung, denn damit würde man “einen wirklich guten Parli” (Blocher?) rausschmeissen müssen.

Die Kommentare zum Schluss dienten der Bilanz. Andreas Lüthi schloss, von einer Ausnahme abgesehen bei mir den schlüssigsten Ansatz zur Problemlösung gehört zu haben. Fritz Hostettler meinte, mein “Ging” an die Sesselkleber sei gesessen, während Maja Hofmann zugab, ihre Wurfkissen schliesslich nicht eingesetzt zu haben. Sascha Erni fragte sich und mich, weshalb man eine Sendung lang meine Kritik, in der Schweiz weder ein Berufs- noch ein Milizparlament, sondern gemäss offizieller Selbstdarstellung ein “Halbberufsparlament” zu haben, schon im Ansatz negiert habe. sWalterli empfahl mich schliesslich als Nationalchoach für’s Parlament, was mich freute (*).

Ich gebe zu, die Kommentare zur Arena auf der Online-Plattform des Sendegefässes habe ich nicht oft gelesen. Das ist mir zu wirr und bisweilen auch zu weit unter der Gürtellinie. Die gestrige Twitter-Diskussion vor, während und kurz nach der Sendung hob sich davon vorteilhaft ab. Harmonisch war sie nicht, beleidigend aber auch nicht. Ich habe mehr erfahren, als aus dem meisten Reaktionen früherer Sendungen, die ich regelmässig auf der Strasse oder im Freundes- und Arbeitskreis erhalte. Man hat auch die Dynamik der Sendung gut mitbekommen, mit dem fulminanten Start, dem Hänger in der Mitte und der Sachdiskussion zum Schluss. Dafür danke ich hier allen, die sich gemeldet haben, egal ob ich sie hier explizit zitiert oder mitgemeint habe.

Vielleicht ist das auch die Zukunft des Fernsehens, wie sie unter Social-TV diskutiert wird: dass eine Sendung läuft und Oeffentlichkeit herstellt und dass die Teilnehmenden nicht mehr einfache ZuschauerInnen bleiben wollen, sondern mit ihrer Aktivität ihrerseits Oeffentlichkeit bilden, um den gesamten Kommunikationsprozess einer Live-Veröffentichung zu spiegeln. Heini Rogenmoser ging in diese Richtung, wenn er nach der Senung zwitscherte, Twitter ins Fernsehprogramm aufzunehmen. Nach den ersten Erfahrungen bei den “Treffpunkt Bundesplatz” Sendungen denke ich nicht, dass das im Sinne von Einblendern im unteren TV-Fenster der Fall sein wird. Wer jedoch via Internet fernsehen wird, dürfte bald schon links das Bild und rechts die Diskussionen hierzu auf Twitter verfolgen können.

Damit wäre dann mein gestriger Hinweis ein (für mich) neuartiges Experiment schon wieder obselt, denn ich schrieb: “Speziell: eine Sendung via Twitter zu verfolgen, keinen TV vor sich zu haben, und genau zu wissen, um was es geht, weil man dabei war #Arena.”

Claude Longchamp

“Mythos Milizparlament”: Meine Argumente zur heutigen “Arena”

Nach den Prinzipien der Miliz funktioniert das Bundesparlament längst nicht mehr. Dafür wäre auch der heutige Verdienst der PolitikerInnen hoch. Die Schweiz hat auf Bundesebene auch kein Berufsparlament. Denn dafür hätten die Volks- und KantonsvertreterInnen zu wenig frei verfügbare Zeit, um richtig Politisieren zu können. Mein Plädoyer für einen Ausweg aus dem Dilemma.

Die beiden PolitikwissenschafterInnen Simon Hug und Sarah Bütikofer publizierten Mitte 2010 die bisher letzte Bestandesaufnahme zu den Belastungen der National- und StänderätInnen. Ein Nationalratsmandat entspricht demnach einem 57 Prozent-Job; ein Sitz im Ständerat bringt einen Arbeitsaufwand von 67 Prozent mit sich. Im Vergleich zu einer Erhebung vor gut 30 Jahre veränderte sich im Nationalrat recht wenig, während die höhere Zeitbeanspruchung als StänderätIn in den letzten drei Jahrzehnten entstanden ist. In der 46köpfigen Kleinen Kammer lassen sich die Veränderungen parteiübergreifend beobachten, deweil im Nationalrat die Grösse der Fraktion eine Rolle spielt: Mitglieder kleiner und mittlerer Fraktionen sind zeitlich stärker beansprucht; jene der grösseren haben sich besser arrangiert. Eine der am häufigsten genannten Gründe für die Inanspruchnahme besteht in der Kommissionsarbeit. Sie ist durch Kommissionen mit festen Tagungsrhythmen gründlicher aber aufwendiger geworden. Gearbeitet wird vermehrt mehr hinter verschlossenen Türen, während sich die Debattenzeit im Plenum nun unwesentlich verändert hat.

Vielleicht, kann man über die Faktenlage hinaus mindestens spekulieren, ist auch das Umfeld anders geworden: Die Massenmedien sind permanent präsent, an Sonntagen, ja, überhaupt bald zu jeder Tages- und Nachtzeit, und sie wollen etwas von den PolitikerInnen, wenn sie es als JournalistIn für richtig erachten. Mindestens aus Zwiegespräche mit ParlamentarierInnen weiss ich, dass gerade das den Druck auf ihre Arbeit, aber auch ihr Leben erhöht hat. Professionalisiert hat sich zudem die Verbandsarbeit, häufig eine der wichtigen (Wieder)Wahlbasen für MilizpolitikerInnen. Vorstandmitgliedschaften in Interessengruppen werden mehr und mehr mit Erwartungen verknüpft, als PolitikerInnen nicht nur Volk und Kanton zu vertreten, sondern auch Partikulärinteressen.

Kompensiert werden kann dies immer seltener durch Arbeitgeber, die sich auf hohe Loblied auf die Demokratie verpflichten liessen. Vielmehr kommen Phänomene wie Dichte-Stress gerade auch am Arbeitsplatz vor, verlangen eine gesteigerte Präsenz oder Aufmerksamkeit, was die Abkömmlichkeit für Nebenämter erschwert. Der Fall “Moergeli lässt grüssen! Einzelne Berufsgruppe spürten das schneller als andere und verschwanden als erste aus dem Parlament. So gibt es im Nationalrat kaum mehr ArbeiterInnen, dafür sind Berufsgruppen, für die sich Politik lohnt von Bauersleute über Juristen bis zu VerbandsfunktionärInnen im Bundeshaus übervertreten.

Die Reaktionen auf diese Entwicklung sind unterschiedlich: Einzelne ParlamentarierInnen kommen mit dem Zwiespalt gut zu recht, andere nicht. Dass BundesparlamentarierInnen beruflich arbeitslos werden, ist zwar noch ein Tabu, aber keine ganz grosse Ausnahme mehr. Andere leiden physisch oder psychisch; Herzinfarkte, Schwächeanfälle und Burnouts gehören zwischenzeitlich zu den häufiger vorkommenden Begleiterscheinungen des ParlamentarierInnen-Daseins. Gleiches gilt für Scheidungen, wenn öffentliches und privates Leben nicht mehr in Einklang gebracht werden können.

Wer es sich leisten kann, als Reicher ohne wirkliche Geldsorgen Bundespolitik betreiben zu können, der empfiehlt den Schritt zurück in heile Welten, zu denen das Milizparlament zählt. Andere sind fürs Durchstarten zum Berufsparlament, mit dem man einen Teil seines Arbeitslebens voll und ganz der Politik widmet. Was im Ausland in Parlamenten des Nationalstaates die Regel ist, bleibt in der Schweiz indes fast querbeet zum Parteienspektrum verpönt, wie die letzte diesbezügliche Abstimmung im Nationalrat zeigte. Doch das ist kein abschliessender Gradmesser, was sinnvoll ist und was nicht, denn die ParlamentarierInnen entschieden hier in eigener Sache.

Generell sehe ich zwei Auswege: Die Verstärkung der Infrastruktur für ParlamentarierInnen mit MitarbeiterInnen, sodass sie zwischen Wichtigem und Unwichtigem trennen können, oder ein weitere Schritt zur Professionalisierung, damit PolitikerInnen wieder PolitikerInnen sein können. Erstes haben die StimmbürgerInnen 1992 abgelehnt, sodass diese Entwicklungsmöglichkeit blockiert ist. Zweiteres ist kaum populärer, wohl aber unausweichlich.

Und so breche ich hier eine Lanze für ein professionalisiertes Bundesparlament! Faktisch haben wir es im Ständerat teilweise, während im Nationalrat die Halbberufsarbeit dominiert. Das meine ich nicht nur für die Institutionen, ich sehe es durchaus auf der Ebene ihrer Mitglieder so. Ständerat Alain Berset stand bei seiner Wahl in den Bundesrat dazu, ein Berufspolitiker zu sein, und andere haben sich seither geoutet.

Wenn die Anforderungen ans Parlament aus aussen- und innenpolitischen Gründen immer mehr steigen, braucht es es einen Schritt, der mehr Raum für Politik schafft, gefüllt durch PolitikerInnen, wie wir sie in den Kantonsregierungen oder als Stadt- teilweise auch als GemeindepräsidentInnen schon kennen. Drei Vorteile sehe ich in diesem Schritt:

. Anständig bezahlt, gleichzeitig aber auch der res publica verpflichtet, sollen sie Gewählte ohne permanente Zeit- und Geldsorgen arbeite können.
. Kompetenter sollten sie zudem sein und sich nicht schämen müssen, wenn sie sich auch als ParlamentarInnen weiterbilden, sei es in internationalem Finanzmarktrechts oder um ihre Online-Fertigkeiten auf den Stand zu bringen.
. Fordern kann man von BerufspolitikerInnen auch eine verbesserte Vernetzung, um in Zeit des raschen internationalen Wandel nicht periodisch von verkannten Entwicklungen ausserhalb der Schweiz überrascht zu werden.

Meines Erachtens stärkt man so das freie Mandat, und unterhölt man es nicht. Denn von einem Berufsparlament kann erwarten, dass sie Zeit ausserhalb des Parlamentes für Kontakte mit der Bürgergesellschaft einsetzen, und nicht, um einträglichen Geschäften nachzugehen oder sich mit Tricks bereichern zu wollen. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass zwischen den Aufgaben ein der Politik und den Interessen des Lobbyings besser getrennt werden muss. Das Problem sind nicht die Interessen, die von der Politik etwas wollen. Das heutige Problem ist, dass im Milizparlament die Lobbyisten selber in Plenum und in den Kommissionen sitzen und über das Abstimmen können, was sie betrifft.

Das Milizparlament hat sich auf Stadt- und Kantonsebene weitgehend bewährt, daran würde ich nichts ändern wollen. Auf Bundesebene gehört das festhalten am Milizprinzip zu den Mythen, welche die Schweiz beherrschen – und dies alles andere als zu ihrem Vorteil.

Claude Longchamp

Die Coleman’sche Badewanne schliessen

Mein Master-Seminar an der Uni Bern ist diese Woche richtig in Fahrt gekommen. Hier der Stand unserer Ueberlegungen zur Neuausrichtung der Abstimmungsforschung (in der Schweiz).

Zu meiner Studienzeit dominierten Makrotheorien die Sozialwissenschaften. Niklas Luhmann forderte mit seiner allgemein gehaltenen Systemtheorie mehr oder weniger alle heraus. Systembetrachtungen beherrschten auch die Politikwissenschaft: polity-, politics- und policy-Dimensionen des Politischen waren die Stichworte hierzu. In den Diskussionen mit meinen heutigen Studierenden wird immer wieder bewusst, wie stark sich das alles geändert hat. Denn ihre Herangehensweise neue Fragen wird durch Mikro-Theorien bestimmt ist, die aus der Oekonomie oder Psychologie stammen und individuelles Handeln analysieren.

James Coleman hat in seiner Grundlegung der Sozialtheorie, zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts auf Deutsch erschienen, das Verhältnis beider Perspektiven erörtert und hierfür das einprägsame Bild der Badewanne bestimmt. Er postulierte, es werde einen Erkenntnisgewinn in den Sozialwissenschaften geben, wenn man Phänomene auf der Makro-Ebene auf der Mikro-Ebene untersuche. In vielem sollte der Protagonist des methodologischen Individualismus Recht bekommen.


Quelle: James Coleman, Einführung in die Sozialtheorie (Grafik anclicken, um sie zu vergrössern)

Aber nicht in allem!

Denn mit der Vielzahl von Studien zu Entscheidungen oder Handlungen von Akteuren beispielsweise in der Politik, sind fast ebenso viele neue Datensätze entstanden: Umfragen bei BürgerInnen, Datenbanken zum Stimmverhalten von PolitikerInnen gehören ebenso dazu, wie die Positionierung von Parteien, Verbänden und Medien zu anstehenden Beschlüssen. Sie bieten ein unershlossenes Forschungspotential. wenn man sie neu verwendet. Anstatt Akteure als “Fälle” zu betrachten, kann man auch Entscheidungen als Untersuchungseinheit bestimmen. Dann geht es nicht um Erklärungsmodell des Aktuershandeln, sondern um solche der Entscheidung selber.

Wem das zu abstrakt ist, folge nachstehendem Beispiel: Befragt man BürgerInnen zu Abstimmungsentscheidungen, findet man fast immer einen positiven Zusammenhang zwischen Informiertheit zu einer Vorlage und der Zustimmung(sbereitschaft) zu dieser, wenn sie von der Regierung stammt. Negativ formuliert heisst das: Wer sich in einer Sache nicht informiert oder überfordert fühlt, der stimmt mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit gegen die Sache! Indes, was auf Bürger-Ebene recht gut belegt ist, ist auf Gesellschafts-Ebene noch schlecht erforscht. Denn es stellt sich die Frage, ob die ausgebaute Information durch Behörden und Medien vor einer Entscheidung diese positive beeinlfusst oder nicht.

Nun gibt es Hinweise dafür, dass das nicht sein muss. Die Medieninformation hängt vom erwarteten Konfliktgrad ab, wobei die intensivere Beschäftigung der Massenmedien mit solchen Themen das Mass an Konflikt eher erhöht als senkt. Mehr Information auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene muss deshalb nicht zu mehr Zustimmung insgesamt führen. Es kann sehr wohl sein, dass informierte BürgerInnen stets mehr die Regierung stützen als nichtinformierte, und das für mehr oder minder jedes Zustimmungsniveau gilt. Der letzte Abstimmungssonntag in der Schweiz verstärkte diese Vermutung in mir: So wurde über den Schutz des Passivrauchens am meisten geschrieben und gesprochen, und die Initiative ging, je länger die Debatte dauerte, immer mehr unter, während die Jugendmusikförderung kaum zu einer öffentliche Auseinandersetzung führte – und glatt angenommen wurde. Deshalb lohnt es sich, Fragen auf individuellem wie auf kollektivem Niveau separat zu untersuchen.

Dafür hat sich die Forschungslandschaft zu Volksabstimmungen in der Schweiz in den letzten Jahren erheblich verändert. Zahlreiche Datenbanken oder Informationsquellen sind entstanden, die im Verbund noch kaum analysiert worden sind. Genau diese grosse Lücke der Forschung will ich mit meinem Master-Seminar an der Uni Bern zu “Meinungsbildung bei Volksabstimmungen” schliessen helfen. Ausgangspunkt bildet dabei die elektronische Uebersicht, welche SwissVotes über die Ergebnisse der mehr als 500 Volksabstimmungen in der Schweiz bietet. Erklärungsmodelle können damit bis jetzt aber nur wenige getestet werden, konkret eigentlich nur der Zusammenhang zwischen Parteien/Verbände-Konflikt und Annahme/Ablehnungschancen einer Vorlage. Das liesse sich aber locker erweitern, wenn man die SwissVotes-Datenbank mit anderen Informationsquellen kombiniert – zum Beispiel mit der VOX-Datenbank, den Nachanalysen von Volksasbtimmungen auf Befragungsbasis, mit den Ergebnisse nder SRG-Vorbefragungen zum Stand der Meinungsbildung 3 resp. 7 Wochen vor einer Abstimmung oder mit den Auswertungen, die Politnetz beispielsweise zu den Entscheidungen im Parlament zulässt.

Spannend wird das vor allem dann, wenn man die genannten Zusatzinformationen nicht auf der individuellen Ebene verwendet, sondern auf der kollektiven einfügt. So kann man untersuchen, ob Initiativen oder Referenden eher durchkommen, wenn der Parteienkonflikt gering oder stark ist, wenn die Fraktionen der Regierungsparteien geschlossen resp. gespalten sind, wenn es zwischen Partei-Eliten und -Basen grosse oder kleine Unterschiede gibt, wenn sprachregional einheitliche oder spezifischen Kampagnen gefahren werden, wenn … Die neuen Möglichkeiten sind schier unbegrenzt!

Das entspricht genau dem Vorgehen, das die Colemansche Badewanne schliesst. Ich halte das sogar für die erfolgversprechendste neue Ausrichtung der Abstimmungsforschung gerade in der Schweiz, weil nur hierzulande genügend Fälle und Studien zu Volksentscheidungen vorliegen, welche solch übergreifende Tests überhaupt erst ermöglichen. Oder anders gesagt, die neuartige Analyse mikroanalytischer Untersuchungen wird es uns erlauben, neuartige makroanalytische Einsichten zu gewinnen.

Claude Longchamp

Lobbyismus in der Analyse

Mit meinem neuen Forschungsseminar an der Universität St. Gallen will ich einen Beitrag leisten zur Analyse leisten, wie Lobbying in der Schweiz funktioniert.

Aktueller hätte ich das Thema meiner Lehrveranstaltung an der HSG nicht lancieren können. Anfangs Woche diskutierte der Ständerat den Zugang von Lobbyisten zu eidg. ParlamentarierInnen. Die vorgeschlagene restriktive Regelung lehnte er knapp ab. Gestern nun präsentierte ich meinen Plan zu „Lobbysismus in der Analyse“ den Studierenden im Master „International Affairs“.

Lobbying definiere ich als meist professionelle Form der Interessenvertretung gegenüber dem politischen System, namentlich im Zusammenhang mit allgemein verbindlichen Entscheidungen, der Planungs- und Vorbereitungsarbeiten hierzu, aber auch der Umsetzung. Hauptsächliche Adressaten des Lobbyings sind Exekutiven und Legislativen. Die Interessenvertretung kann durch direkte Einflussnahme erfolgen, aber auch durch indirekte, speziell durch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung erfolgen.

Das Lobbying in der Schweiz hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Geleistet wird es immer häufiger von professionell agierenden Firmen, seien es internationale Organisationen oder lokalen SpezialistInnen. In Anspruch genommen werden die neuen Dienstleistungen namentlich durch Verbände, den traditionellen Institutionen der Interessenvertretung, aber auch durch Firmen, die von staatlichen Regulierungen betroffen sind, bis hin zu sozialen Bewegungen. Selbst staatliche Organe beanspruchen Lobbying, um sich auf einer anderen staatlichen Ebene Gehör zu verschaffen.

Diese neuen Akteure zu erforschen, ist das Ziel des Seminars. Zunächst geht es um die Dienste, die sie anbieten. Von Interesse ist auch, über welches Wissen sie verfügen, und von wo sie dieses beziehen. Es geht aber auch um ihr Handeln und den Erfolgen, die sich darauf ergeben. Schliesslich beschäftigen wir uns auch mit der Frage, was Lobbying in der institutionellen Willensbildung verändert.

Teilnehmende am Forschungsseminar müssen einen Bachelorabschluss vorzugsweise in Politikwissenschaft oder Marketing haben. Der Kurs wird nach der Einführungen als Blockveranstaltung Ende Oktober 2012 durchgeführt. Bis dann müssen Interessierte die Literatur im Selbststudium aufarbeiten. Sie präsentieren in der Blockwoche ein Proposal für eine kleinere studentische Forschungsarbeit, und sie müssen diese bis Semesterende realisieren.

Wichtig ist mir, dass die bestehende Praxis im In- und Ausland berücksichtigt wird, da die theoretische Durchdringung des Themas durch die Wissenschaft eher gering ausfällt. Die Ergebnisse der Arbeiten müssen am Ende des Semester einem kleinen Team von WissenschafterInnen und PraktikerInnen präsentiert werden.

Höhepunkt der Blockveranstaltung wird der Besuch eines Top-Lobbyisten sein, der aus seinen Erfahrungen auf schweizerischer und europäischer Ebene berichten wird.

Claude Longchamp

Ausgewählte Literatur
R. Kleinfeld et al. (Hg.): Lobbying, Strukturen, Akteure, Strategien, Wiesbaden 2007.
R. Purtschert: Marketing für Verbände und weitere Nonprofit-Organisationen, Bern 2005, 2. Auflage.
Lobbying in der Schweiz. Partikulärinteressen unter der Bundeskuppel, hgg. von O. Bäaeriswyl, Villars-sur-Glane 2005.
B. Günthard-Maier: Politische Kommunikation. Mit Modellen, Methoden, Leitfäden und Fallbeispielen, Frauenfeld 2001.
Lobbying-Survey 2011, hgg. von BursonMarsteller&gfs.bern, Bern 2011
S. Dagger, M. Kambeck (Hg.): Politikberatung und Lobbying in Brüssel, Wiesbanden 2007
I. Michalowitz: Lobbying in der EU. 2007.
R. Buholzer: Legislatives Lobbying in der Europäischen Union. Ein Konzept für Interessengruppen, St. Galler Studien zur Politikwissenschaft, Bern, Stuttgart, Wien 1998.
H. Müller, B. Zaugg: Lobbying im Schweizer Tourismus, in: Jahrbuch der Schweiz. Tourismuswirtschaft 2004/2005, hgg. von T. Bieger et.al., St.Gallen 2005.
A. Fisher: Bookreview Lobbying, in: Swiss Political Science Review, Volume 17, Issue 1, pages 92–95, April 2011.

Welche Partei positioniert sich am nächsten bei der Mehrheit der Stimmenden?

Zieht man nur heute zu Rate, um die Arbeit der Parteien seit den letzten eidg. Wahlen bei Volksabstimmungen zu beantworten, ist die Mitte der Sieger: Genauso wie die CVP, GLP und BDP empfohlen haben, hat die Mehrheit der Stimmenden heute entschieden: Ja zur “Jugendmusikförderung”, Nein zum “Sicheren Wohnen im Alter” und ebenso Nein zum “Schutz vor Passivrauchen”. Teilweise verloren haben linke Parteien wie SP und GPS, bei der Raucherfrage nämlich, aber auch rechte wie FDP und SVP, die bei der Musik-Thematik nicht mitziehen wollten. Die SVP hat mit ihrem Ja zur Aenderung des Eigenmietwertes heute gar noch ein zweites Mal verloren.

Uebersicht über Parteiparolen und Abstimmungsmehrheiten 2012

Mehr = Parteiparole wie Abstimmungsmehrheit; Mind = Parteiparole entgegen Abstimmungsmehrheit; — keine Parteiparole (Tabelle anclicken, um sie zu vergrössern)

Das Bild der Parteien, die sich nahe beim Bevölkerungsdurchschnitt ansiedeln, lässt sich konkretisieren, wenn man alle Abstimmungsparolen und -ergebnisse seit den National- und Ständeratswahlen 2011 berücksichtigt.
Die Rangliste sieht die GLP an der Spitze: 9 Mal empfahl sie das, was die Stimmenden guthiessen; 2 Mal war sie in der Minderheit: Beim “Stopp dem zweitwohnungsbau”, den sie ablehnte, und bei der Krankenversicherungsreform “Managed Care”, die sie zur Annahme empfahl.
Ganz anders sieht es bei der SVP aus: 6 Mal vertrat sie den Minderheitsstandpunkt, 5 Mal den der Mehrheit. Niederlagen gab es beim Bausparen, allen drei Vorlagen zum Hauseigentum, bei den Staatverträgen und bei der Jugendmusik.
Die Reihenfolge dazwischen lautet SP, BDP/GPS, CVP und FDP.

Was heisst das alles? Erfolgreich ist heute eine moderat linksliberale Position, nicht zu deutlich nach links ausgerichtet, aber auch nicht zu stark an den traditionellen bürgerlichen Zentrumsparteien orientiert.
Daran ist Mehreres bemerkenswert: Die Wahlsieger von 2011, die GLP und die BDP, mögen kleinere Parteien geblieben sein. Ihre Positionen sind aber durchaus nahe dem Abstimmungsmainstream angesiedelt.
Die FDP, lange die Siegerin solcher Bilanzen, ist etwas aus dem Tritt geraten; beschränkt gilt dies auch für die CVP, ebenso bisher in der Spitzengruppe vertreten.
Besser ergeht es, wenigstens momentan, SP und GPS – lange gescholten, zu einseitige Positionen einzunehmen.
Genauso wie bei den Wahlen 2011 ist die SVP die Partei, die am meisten Terrain einbüsst, sei es an Wählern für ihr Personal oder an Stimmen für ihre Positionen.
Die Zeit der Polarisierung nach rechts – rund um die Wahlen 2007 herum das dominante Erfolgsmuster in der Schweizer Politik – hat als Leitlinie der Bewertung des Geschehens an Bedeutung eindeutig eingebüsst.

Claude Longchamp

Wettbörse zum Passivrauchen: doppeltes Nein prognostiert

Ein Nein von Volk- und Ständen, das erwartet die Wahlwette zum “Schutz vor Passivrauchen” auf Internet.

44 Prozent der Stimmen und 8 Kantonsstimmen – das erwarten die BörsianerInnen auf www.wahlfieber.ch am morgigen Abstimmungssonntag, wenn die Wahlzettel zur Volksinitiative “Schutz vor Passivrauchen” ausgezählt sein werden. Für sie steht die Ablehnung des Begehrens, das die Lungenliga lanciert hat, jetzt schon so gut wie fest.

Das war allerdings nicht immer so. Zu Beginn der Abstimmungswette ging man von einem doppelten Ja aus. Kippunkt war der 12. September 2012, dem Tag, an dem die 2. SRG-Umfrage publiziert wurde. Die erwartete Zustimmung auf der Online-Plattform sank dann um 20 Prozent bei den Stimmen und 8 Kantone bei den Ständen.

Gewisse Einflüsse durch Ereignisse sind bei Onlinewetten üblich – ein solche Wechsel ist allerdings unüblich. Hauptgrund dafür ist die (zu) geringe Zahl TeilnehmerInnen. Bis heute beteiligten sich gerade 31 Personen an der Wette, was die Beeinfluss der Prognose durch einzelne Personen stark befördert.

Genau das macht auch die erhöhte Unsicherheit bei dieser (Art der) Prognose aus!

Claude Longchamp

Leicht unterdurchschnittliche Beteiligung wahrscheinlich

Weiterhin zeichnet sich eine leicht unterdurchschnittliche Beteiligung bei den eidg. Volksabstimmung vom 23. September 2012 ab.

Freitag Mittag hatten 38,8 Prozent der Stimmberechtigten im Kanton Genf ihre Stimme zu den eidgenössischen Volksabstimmungen abgegeben. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit solchen Zwischenständen schätzt die Staatskanzlei, dass der kantonale Teilnahmewert am Sonntag zwischen 44 und 45 Prozent liegen werde.


blaue Linie: Beteiligung Schweiz, rote Linie: Beteiligung Kanton Genf

Meine Erfahrung wiederum lehrt mich, dass von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Mobilisierung des Elektorates im Kanton Genf etwas höher ist als gesamtschweizerisch. 9 Prozent betrug die Differenz im Juni 2012, allerdings bei kantonal wichtigen Entscheidungen. Im mehrjährigen Mittel liegt der Unterschied bei 4-5 Prozentpunkten.
Das spricht vorläufig für eine nationale Stimmbeteiligung bei den eidgenössischen Vorlagen vom 23. September 2012 von rund 40 Prozent. Leicht unterdurchschnittlich wäre sie damit – genauso, wie aufgrund der letzten Vorbefragung, erhoben 19 Tage vor dem Abstimmungssonntag, geschätzt.
Mit einer Ueberraschung bei Stimmbeteiligung ist damit nicht zu rechnen. Den genauen Wert kennt man nicht, die approximative Höhe schon.

Claude Longchamp

Elektorenstimmen verteilen

Sechs Prognosen für die Elektorenstimmen bei amerikanischen Wahlen folgt der ElectoralCollegeCalculator bei den US-Präsidentschaftswahlen 2012. In ihren Einschätzungen differieren die Vorhersagen graduell; alle haben sie aber Präsident Barack Obama vorne. Eine Uebersicht.

ElectoralCollege nennt man die Versammlung der Elektoren, denen die Wahl des amerikanischen Präsidenten obliegt. Bestimmt werden sie in den einzelnen Bundesstaaten. Deshalb sagen nationale Umfragen oder gleichwertige Analysen nicht alles Nötige aus.

Spezialisiert auf die Berechnung der Elektorenstimmen hat sich die Website “ElectoralCollegeCalculator“. Man kann sie auf mehrere Arten nutzen; um seine eigene Prognose zu machen, und um die relevante Forecastings zu konsultieren.


Vier Karten: ElectoralVote (aktuell identisch mit FrontloadingHQ und RealClearPolitics, FiveThirtyEight, PrincetonElection und ElectionProjection, sortiert nach Vorteil Obama (Grafiken anclicken um sie zu vergrössern)

Sechs Basis-Prognosen listet der ElectoralCollegeCalculator permanent auf. 60 Tage vor der Wahl sehen alle sechs Amtsinhaber Barack Obama vorne. Es variiert jedoch der Vorsprung, denn ausgewiesen werden zwischen 285 und 332 Stimmen für ihn.

Uebersicht über die Projektionen der Elektorenstimmen für Obama und Romney gemäss den sechs führenden tools:
332:206 ElectoralVote
332:206 FrontloadingHQ
332:206 RealClearPolitics/NoTussUp
317:221 FiveThrityEight/NewYorkTimes
309:229 PrincetonElectionProjection
285:253 ElectionProjection

Die Unterschiede in den Stimmenzahlen haben einen Grund: Die Methoden der Zuordnung sind nicht einheitlich. Das hat zur Folge, das namentlich die Elektorenstimmen in Florida (29) und Ohio (18) konträr verteilt werden.

Solche Unsicherheiten der Bestimmung haben dazu geführt, dass andere Monitor ganz auf Zuordnungen unsicherer Stimmen verzichten. Am radikalsten geschieht dies bei 270towin, einer ebenfalls auf diese Frage spezialisierter online-Plattform. Hier hat Obama 201 sichere Stimmen, und Romney bringt es auf 191. Uneindeutig sind 146. Namentlich sind das jene von Nevada, Colorado, Iowa, Wisconsin, Michigan, Ohio, Pennsylvania, New Hampshire, Virgina, North Carolina und Florida.

Uebersicht über die Verteilung der Elektorenstimmen mit explizit unsicheren Zuordnungen nach tool:
247:191 (100) Huffinton Post (Co, Io, Wi, In, WV, NC, Fl)
225:191 (122) Karl Rove (Nv, Co, Io, Wi, Mi, Oh, Va, NC, Fl)
221:191 (126) RealClearPolitics (Nv, Co, Io, Wi, Mi, Oh, NH, Va, NC, Fl)
201:191 (146) 270towin (Nv, Co, Io, Wi, Mi, Oh, Pa, NH, Va, NC, Fl)

Karl Rove, früher Präsidentenberater von George W. Bush und eigentlicher Promotor solcher Detailanalysen, wartet dabei mit einer weiteren Spezialität auf. Er unterscheidet selbst die Sicherheit der Stimmenverteilung je Kandidat, und er glaubt im zu Ende gegangenen Vorwahlkampf erkannt zu haben, dass gerade die weiche Unterstützung für Präsident Obama zurück gegangen sei resp. eine offene Situation häufiger vorkomme als dies noch vor kurzem der Fall war. Damit steht er allerdings recht alleine da, denn die meisten anderen Analysen sehen in den relevanten battleground states Obama unverändert in Front.


(Grafik anclicken, um sie zu vergrössern)

Freude haben übrigens die meisten Schweizer Zeitungen an der offenen Situation, stützen sie sich doch in der Regel auf solche Uebersichten. Das verheisst Spannung – fast mehr als nötig, könnte man bemerken!

Claude Longchamp