Diagnosen für die Welt nach dem amerikanischen Zeitalter

Wie entwickelt sich die Welt? Ueber die Wirtschaftskrise hinaus, stellt sich die Frage, welche Rolle die USA inskünftig einnehmen werden. Denn allgemein rechnet man mit dem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Asiens. Weniger eindeutig sind die Haltungen dagegen, wenn es um die Frage geht, wie sich die führende, aber angeschlagene Weltmacht hierzu stellen wird. Zwei typische Beispiele hierzu.

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“Der Aufstieg der Andern. Das postamerikanische Zeitalter” heisst der Bestseller von Fareed Zakarias, der im Sommer 2008 in den Staaten, anfang 2009 auch in der deutschen Uebersetzung von Thorsten Schmidt erschien, und seither so etwas die Basis der Analyse in einer multipolaren Welt gilt.

»Goodbye, America«, lautet der etwas bittere Refrain von Fareed Zakaria, dem in indischen Bombay geborenen Politikwissenschafter der Harvad University. Dennoch bleibt der Chefredaktor von Newsweek International und regelmässige Kommentator auf CNN zuversichtlich.

Für ihn ist zwar klar, dass eine epochalen Machtverschiebung stattfindet. Nach dem Siegeszug der westlichen Rationalität zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert und dem kometenhaften Aufstieg Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert durchläuft die Welt gerade eine dritte Phase. Sie erlebt das Ende der amerikanischen Vorherrschaft und den »rise of the rest«, den Aufstieg der übrigen Mächte.

“The Post-American World” heisst das Buch im Amerikanischen, das bewusst das Wort vom Niedergang vermeidet, denn es will dem offensichtlichen Machtverlust der USA eine Pointe abgewinnen: »Globalisierung der Welt – das war die amerikanische Vision«, und davon hhaben andere Länder profitiert und den Anschluss geschafft, vor allem China und Indien.

Fareed Zakaria hat offensichtlich Sympathien für die Demokraten von Barack Obama. Er ist überzeugt, Amerika werde seine Krise meistern, sobald es die Spaltung der Gesellschaft überwunden habe. Aussenpolitisch gibt er Obama den Rat, sich um die »Einbeziehung der aufsteigenden Länder« kümmern und die neuen Großmächte China und Indien so weit integrieren, bis diese aus eigenem Interesse die globale Ordnung tatkräftig unterstützten.

Härter mit den Amerikanern ins Gericht geht Parag Khanna, ebenfalls aus Indien stammend und Politikwissenschafter in den USA und Grossbritannien. In seinem Buch “Der Kampf um die Zweite Welt” tritt Amerika nämlich als gerupfter Riese auf, von einem entfesselten Kapitalismus verunsicherte, im Irakkrieg blamierte Supermacht, die ihren Machtverlust noch gar nicht begriffen hat. Selbst wenn das Land unverändert die konkurrenzfähigste Volkswirtschaft der Welt habe, schreibt Khanna, sei die politische Macht längst neu verteilt worden: Asien wird – mit oder ohne Amerika – das 21. Jahrhundert gestalten.

Folgt man Khanna, wird die Welt künftig von drei Imperien beherrscht werden, von den Vereinigten Staaten, von China und von der Europäischen Union, während Russland keine entscheidende Rolle spiele, weil dessen Volkswirtschaft nichts Nennenswertes zustande bringe. Auf Khannas Landkarte gehört Russland deshalb zur Zweiten Welt, genauso wie der Nahe Osten, Lateinamerika und Afrika. Hier, in der Zweiten Welt, tobt nach Khanna der Kampf um Einflusszonen, und hier entscheide sich, wie viel Macht die geopolitischen Machtsphären in die Waagschale werfen können.

Die beiden Thesen sind hilfreich, das aktuelle Verhalten der Grossmächte zu analysieren. Nützlich sind hierfür auch die beiden Bücher, welche die generelle Sichtweise ausführen. Ihre Lektüre sei empfohlen, nicht zuletzt auch, um den Wandel der politikwissenschaftlichen Perspektiven, die unter der Bush-Administration und dem Schlagwort des Kampfes der Kulturen galten, zu realisieren.

Claude Longchamp

Fareed Zakaria: Der Aufstieg der Anderen. Das postamerikanische Zeitalter, München 2009
Parag Khanna: Der Kampf um die zweite Welt. Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung, Berlin 2008

Aber, aber, Philipp Müller!

Sehr geerhter Herr Nationalrat Müller

gemäss “Sonntag” wollen sie “vorzeitige Neuwahlen. Am liebsten schon morgen”. Denn Parlament und Regierung der Schweiz sollten neu bestellt werden, da ihre Politik angesichts der Polarisierung festgefahren sei. Um es gerade heraus zu sagen: über den Befund könnte man diskutieren, über den Vorschlag nicht

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FDP-Leuchtturm Philipp Müller will mehr Politik aus dem Bauch heraus, zum Beispiel mit Parlamentswahlen, die jederzeit möglich sein sollten.

Ich nehme an, Sie kennen die Bundesverfassung. Art. 145 lautet: “Die Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates sowie die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler werden auf die Dauer von vier Jahren gewählt.” Das ist im aktuellen Fall, der auch für Sie als Nationalrat gilt, bis Oktober 2011.

Sie wollten sich der aufgeworfenen Sache mit einer parlamentarischen Initiative annehmen, schieben sie nach. Schön, sag ich da. Bis die behandelt und entschieden ist, braucht es aber seine Zeit. Und dann müsste eine Verfassungsänderung auch noch vors Volk und die Kantone, und bräuchte erst noch das doppelte Mehr. Das geht wohl noch länger.

Herr Müller, ich schätze Ihre Art, die Sachen, die sie bewegen wollen, gerade heraus zu benennen. Ich bin nicht immer Ihrer Meinung, aber bei Ihnen weiss ich normalerweise, woran man ist. Doch diesmal scheinen Sie, nach ein paar guten Auftritten in der Sonntagspresse der Versuchung erliegen zu sein, erneut das Wort zu Sonntag haben zu können.

Was würde geschehen, wenn wir schon wieder wählen würden? Die kantonalen Wahlen zeigen ein leichtes Plus für die SVP und für die Grünen an. Sitze verlieren würden wohl SP und ihre FDP. Bei der CVP dürfte eine gemischte Bilanz resultieren. Gestärkt würden aber aller Voraussicht nach die BDP und die Grünliberalen.

Die von ihnen beklagte Polarisierung wäre damit nicht geringer. Hinzu käme mit den gestärkten Kleinparteien eine erhöhte Fragmentierung der politischen Landschaft. Ob damit in der Volksvertretung eine klarer Wille zum Ausdruck käme als jetzt, darf bezweifelt werden.

Die Schweiz hat sich, gerade unter freisinniger Führung, politische Institutionen gegeben, die auf Stabilität ausgerichtet sind. Deshalb haben Bundesräte, Nationalräte, Ständeräte und die Spitzen der Bundeskanzlei feste Amtszeiten. Der Grund hierfür ist einfach: Wir haben gleichzeitig eine Verfassung, die man recht flexibel ändern kann. Die totale Flexibilisierung des Staates, wie sie es wollen, müsste zwangsläufig zur opportunistischen Instabilität führen.

Besteht dennoch ein Handlungsbedarf in kürzeren Zeitintervallen, ist politische Führung angesagt. Diese besteht eben nicht, wie das heute so üblich geworden ist, in der eigenen Position, verstärkt durch einen Partner, sondern in der Regel aus drei der grösseren Regierungsparteien. SVP, FDP und CVP rechnet sich, SP, CVP und FDP meist auch. Ihre Partei hätte es also in der Hand, mit der CVP die Zentrumsbrücke der Schweizer Politik zu bilden, und mit jeweils einer der Polparteien eine sachlibezogene Allianz einzugehen.

Die Spekulation, dass man die Schweiz mit einer SVP/FDP-Mehrheit regieren könne, die 2003 aufkam, ist das Problem. Die aktuelle Krise verweist darauf, dass rechte und liberale Politiken zwar materiellen Wohlstand für bestimmte Gruppen bringen, gesellschaftspolitisch aber Gräben in der Europafragen, bei den Sozialwerken und im Verhältnis der Landesteile aufwerfen. Deshalb funktioniert diese Politik weder im Parlament richtig, noch hat sie sich in der grossstädtischen Politik als Alternative zur Konkordanz erwiesen. Herr Leuchtturm, Ihr eigener Parteiräsident, Fulvio Pelli, hat das diese Woche mit aller Deutlichkeit gesagt.

Das einzige Argument, das in dieser Logik für Neuwahlen sprechen würde, dürfte Ihnen nicht behagen: Es wäre die personelle und parteipolitischen Erneuerung des Bundesrates, und zwar im Sinne der Angleichung stabiler Mehrheiten in der Regierung an die, die im Parlament möglich sind. Das kann man auch ohne lange Staatsreformen einleiten.

Sie behaupten, ihre Forderung sei ein uraltes Anliegen der FDP. Ich widerspreche Ihnen. Uralt ist am Freisinn, dass er sich für vernünftige Sachen in der Schweiz eingesetzt hat. Politisch “uralt” sehen dagegen die aus, die solchen Unsinn, wie Sie heute, in die Welt setzen.

Weiterhin schönen “Sonntag”, wünscht Ihnen

Claude Longchamp

Historischer Moment für die Weltwirtschaft – und für die Schweiz?

Gastgeber, Grossbritanniens Ministerpräsident Gordon Brown, sprach am G-20-Gipfel vom Durchbruch zur neuen Weltordnung. Die meisten Kommentatoren waren sich einig, einen historischen Moment erlebt zu haben, selbst wenn in einzelnen Ländern wie der Schweiz die Ernüchterung überwiegt. Was wird unser Land für Schlüsse daraus ziehen?

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Botschaft aus London an die Schweiz: Aus der Isolation herausfinden, in die das Land mit dem Bankgeheimnis geraten ist. (Quelle: Chapatte/LeTemps)

Vier Massnahmen beschloss der mit Spannung erwartete Gipfel der mächtigsten Staaten und Organisationen in London, welche die neue Weltordnung begründen sollen: ein gigantisches finanzielles Stützungsprogramm in der Höhe von 1,1 Billionen Franken, das Ende des Bankgeheimnisses, Auflagen für Bonuszahlungen in Banken und Versicherungen und strengere Kontrolle für Hedge-Fonds und Rating-Agenturen.

Stabilität, Wachstum und Arbeit verspricht man sich durch die Massnahmen. Erwartet wird, dass man damit die globale Wirtschaftskrise mildern kann, vor allem aber, dass man eine Wiederholung der Ursachen für die aktuelle Weltwirtschaftskrise inskünftig verhindert kann.

Allgemein wurde der Gipfel als Erfolg gewertet. Die zentralen Industrienationen und Schwellenländer zeigten einen ausgleichenden Handlungswillen, der den Protest auf der Strasse beschränkte. Denn mit der neuen Weltordnung soll die Entwicklung der Weltwirtschaft in berechenbare Bahnen gelenkt werden. Nach den Erfahrungen der letzten Monate ist das letztlich zum Wohle aller, wenn auch im Einzelfall mit Nachteilen verbunden.

Entsprechend fällt die Bewertung in der Schweiz aus. Ihr gelang es nicht, sich unter die Mitglieder der G-20 einzureihen und die Themen resp. Inhalte mitzuentscheiden. Vielmehr fand sie sich wegen ihrer Steuerpolitik in der Isolation. Die Schwarze Liste der Steueroasen konnte zwar abgewendet werden, weil die Schweiz die bisherigen Vorbehalte gegen die OECD-Richtlinien zum Bankgeheimnis aufgab. Dennoch bleibt der Druck, symbolisch mit der Präsenz auf der grauen Liste, bestehen, da man nicht rechtzeitig 12 Doppelbesteuerungsabkommen vorweisen konnte, die den Tatwillen zur Umsetzung belegen. Daran wird die nationale Politik rasch arbeiten müssen, um aus der Defensive heraus zu kommen, in der die Schweiz mit dem G-20-Gipfel geraten ist.

Claude Longchamp

Den strukturellen Populismus der Gegenwart untersuchen

Noch in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts war es in der politikwissenschaftlichen Analyse üblich, die Entstehung populistischer Bewegungen an bestimmte Momente zu knüpfen, die einschneidende Brüche darstellten und zu Entwicklungen von Protest ausserhalb des Parteiensystems führten. Das sei passé, meint der Rostocker Politikwissenschafter Nikolaus Werz, der von einem strukturellen Populismus der Informationsgesellschaft spricht, der neue Ursachen habe und neue Fragen aufwerfe.

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Der Populismus ist selber in den etablierten Demokratie Westeuropas Teil der politischen Kultur und des politischen Systems geworden. Dabei verändert er den Stil der Demokratie, ohne sie zu zerstören, ist eine zentrale Botschaft des hier besprochenen Buches von Nikolaus Werz

Natürlich ist Italien das meist diskutierte Anschauungsbeispiel für das, was die neue Fragestellung zum Populismus ist. Drei Parteien, die allesamt populistischen Charakter haben, bilden seit dem Zerfall der traditionellen bürgerlichen Parteien fast ununterbrochen die Regierung, ohne dass die linken demokratischen Kräfte dem “Projekt Berlusconi“, das auf immer mehr Machtkonzentration ausgerichtet ist, ernsthaft etwas entgegenhalten können.

Aehnliches kommt aber auch anderswo vor, in Oesterreich, in der Schweiz, in Belgien, in den Niederlanden, Dänemark, ja in Deutschland und Frankreich, was die Diskussion der Phänomen über eine Beurteilung Italiens hinaus interessant macht.

Das politikwissenschaftlich unvoreingenommen zu analysieren, ist die Absicht der Analysen, die der Rostocker Politikwissenschafter Nikolaus Werz in einem Sammelband vorgelegt hat. Sein Fazit: Während in West- und Osteuropa der Rechtspopulismus dominiert, lässt sich in Nord- und Südamerika ein Populismus feststellen, der linke wie rechte Erscheinungsformen verbindet. Die Demokratie ist dabei nicht einfach abgeschafft worden, wenn auch in ihrem liberalen Verständnis erschüttert.

Der Frankfurter Historiker und Politologe Hans-Jürgen Puhle versucht, das in einem gewichtigen Ueberblickskapitel zu synthetisieren: Gesprochen wird von einem Designer-Populismus, einem neuen Politikstil, der sich in der Demokratie etabliert hat und genau deshalb regelmässig für Kontroversen sorgt. Seine Symptome sind die Sehnsucht nach Leadership und führungszentrierter Parteipolitik, was zu einer Dominanz der SpitzenpolitikerInnen kombiniert mit einer ideologsichen Beliebigkeit führe, die eine pragamtische Behandlung des Augenblicks mit einem gehörigen Schuss an medialer Empörung zur Folge hat. Der Bonapartismus ist, bilanziert Puhle, zum Element der etablierten Parteienpolitik und damit auch zu einem Kennzeichen der Staatspolitik geworden.

Für diesen strukturellen Populismus werden im Sammelband fünf Ursachen genannt:

. erstens, die Mobilisierung gegen die Globalisierung, als Interessen- und Machtkartell, begründet durch neoliberale Politik, welche den Rückzug des Staates auf zentralen Feldern der Konfliktregelung fordert;

. zweitens, einen generellen Antimodernismus, der unter den VerliererInnen von Transformationsprozess jedweder Art SympathisantInnen findet;

. drittens, den Bedeutungsverlust von Grossorganisationen wie Parteien und Verbänden aber auch des Staates, angesichts stagfaltionärer Veränderungen, bei denen der Umbau des Staats weg vom keynsianistischen Wohlfahrtsstaat am Anfangs steht,

. viertens, parteiinhärente Probleme vor allem von catch-all parties, die den Zusammenhalt ihrer AnhängerInnen nur noch gewährleisten können, wenn der richtige Nerv der Zeit permanent getroffen wird,

. und fünftens, die Auswirkungen der new campaign politics mit elektronischen Medien, welche die Lösung von Sachfragen in den Hintergrund treten lassen, dafür aber auf die Vermehrung von Glaubwürdigkeit zentraler Führungspersonen ausgerichtet sind.

Soweit die Analyse. Brisant ist der Schluss, der in Uebereinstimmung mit konservativen Politikverständnissen daraus gezogen wird: Populismus sei zu einem mehr oder weniger dauerhaften Bestandteil demokratischer Systeme geworden, ohne dass sie sich früheren, marxistisch inspirierten Vermutungen, Populimus führe zwangsläufig zu Bonapartismus und der automatisch zu semi- und vollfaschistischen Regimes bewahrheitet hätten.

Die Politikwissenschafter ziehen daraus auch den Schluss, die Populismus-Analyse solle untersuchen, wie dominant gewordene Politikstil heute in der Regierungs- und Parteienpolitik generell verwendet werden, um Wahlen zu gewinnen und Regierungen zu stabilisieren.

Claude Longchamp

Nikolaus Werz (Hg.): Populismus. Populisten in Uebersee und Europa. Opladen 2003

“Weltwoche” verliert am meisten LeserInnen

Die “Coop-Zeitung” hat am meisten LeserInnen überhaupt. “20 Minuten” führt bei den Gratisblättern und der “Blick” liegt bei den Bezahlzeitungen an der Spitze. Diese kennen fast durchwegs rückläufige Zahlen, die Wochenzeitungen stagnieren und die Gratiszeitung wachsen unverändert.

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Meine Hypothese: Voreingenommener Journalismus ist in Hintergrundsmedien nicht gefragt.

Den grössten Einbruch im Jahresvergleich hatte gemäss neuesten Wemf-Zahlen die “Weltwoche”. Sie verlor innert 12 Monate 12 Prozent ihrer Leserschaft. 345’000 sind es aktuell noch. Die Zeitschrift ist denn auch im Umbruch: Kündigungen und Entlassungen häufen sich seit Anfang Jahr, sodass man sich schon fragt, ob die WeWo eine Autorenzeitung bleibt.

Ursachenforschung betreibt die Wemf, welche die Zahlen regelmässig erhebt und veröffentlicht, nicht. Wahrscheinlich ist, dass die simple Polarisierung “Mainstream-Antimainstream” nicht mehr trägt; von einer Hintergrundszeitung wie der Wewo erwarteten man kritischen, aber unvoreingenommen Journalismus, der nicht ideologisch befangen ist. Dafür spricht auch, dass die WOZ am zweitmeisten verliert.

Eines wird aus der Uebersicht der Wemf auch deutlich: Das Ueberleben einer Zeitung ist heute nicht nur von der Zahl der Leserschaft abhängig. Vielmehr kommt es auch auf die Inserate und Verlagsstrategien an.

So wurde “Cash-Daily”, die Zeitung mit dem grössten Wachstum an LeserInnen, eingestellt, bevor die erhobenen Wemf-Zahlen erschienen.

Claude Longchamp

Umweltverbände: Breitseite gegen die eigenen Organisationen

Das ist starker Tabak: Pro Natura bestellte zum 100. Geburtstag der eigenen Organisation einen Zukunftsschau beim Gottlieb-Duttweiler-Institut. Die Antwort, die sie erhalten, stellt ihr und den andern Umweltorgnisationen in Aussicht, den 120. Geburtstag mangels Anwesender nicht mehr gemeinsam feiern zu können.

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“Erfolgsgeschichte als Briefmarke”, von dieser Bilanz der Tätigkeit der Pro Natura will der Zukunftsberich des GDI-Insituts nichts wissen.

Die These der Zukunftsforscher lautet: Natur gewinnt an Bedeutung, was die Oekonomie auf dem Plan rufen wird. Das Geschäft mit der Natur wird florieren, – und Freiwilligen-Organisationen wie die Umweltverände obsolet machen.

Der Bericht schlägt vier Möglichkeiten vor, wie die Umweltverbände diese Unausweichlichkeit begegnen können:

    Szenario “Restpostennaturschützer”: Einsatz für die Nischen, welche die Wirtschaft nicht interessieren.
    Szenario “Naturinszenierungsüberwachungsverein”: Zertifikzierung der Angebote der Wirtschaft
    Szenario “Naturpark Schweiz”: Umwandlung der Schweiz in eine grosses Reservat
    Szenario “Interdisziplinärer Think Tank”: Verbände als Forschungsförderer zum Verhältnis von Mensch und Natur.

Die 100’000 Mitglieder von Pro Natura, welche die Studie finanziert hat, sind aufgerufen, sich der Herausforderung zu stellen. Mit Sicherheit eine nötig Diskussion unter allen Umweltverbänden, aber auch eine, die nicht bei der provokativ formulierten ökonomischen Finalität politischer Entwicklungen stehen bleiben sollte.

Der Startschuss ist heute abend in Bern, wo der Bericht um 18 Uhr im Hotel Bern an einem Podium öffentlich diskuktiert wird.

Claude Longchamp

Ein Stimmungsbericht zur Podiumsdiskussion hierzu findet sich hier.

Deutschland – Schweiz: zurück auf Feld eins.

Die aktuelle Debatte zwischen Deutschland und der Schweiz ist rüde. Sie bewegt sich auf einem Nebenschauplatz, der medial konstruiert wird. Gründe, sie in dieser Form beidseitig sofort zu beenden.

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Internationale Beziehungen zwischen Realismus und Konstruktivismus
Der Realismus war in der Nachkriegszeit lange die vorherschende politikwissenschaftliche Theorie zur Erklärung internationaler Beziehungen. Innenpolitische Betrachtungen der Aussenpolitik waren dabei unerheblich. Denn Staaten wurden gemäss dieser Auffassung untereinander durch Regierungen vertreten, die ihre Aussenpolitik auf Machtsicherung und Interessenvertretung ausrichten. Interessenbündelung galt denn auch als wichtigste Form der Wahrung von Sicherheit zwischen Staaten resp. der Mobilisierung von Vorteilen aus der Kooperationen.

Mit dem Ende des Kalten Kriegs verlor diese Analyse der internationalen Beziehungen an Bedeutungen. Unter den neuen Interpretationsansätzen ragt zwischenzeitlich der Konstruktivismus hervor. Er bestreitet übergeordneten Kategorien des aussenpolitischen Handelns, bindet dieses vielmehr an subjektive Prioritäten an, die sich aus den innenpolitischen Bedingungen ergeben. Die Verteidigung von Interessen wird dabei durch die Konstruktion von Verhältnissen ersetzt, die sich aus den jeweiligen sozialen Gegebenheiten ergeben.

Die aktuelle Auseinandersetzung zwischen Deutschland und der Schweiz

Die aktuelle Debatte zwischen Deutschland und der Schweiz illustriert den Nutzen beider Konzepte. Was interessiert dabei? – Peer Steinbrück versteht das Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz als Kampf unterschiedlicher Auffassungen gerechter Steuerregelungen. Dabei geht es zwar auch um Geld, vor allem aber um Bilder. Das Herr/Knech-Verhältnis schimmerte durch, als er die Schweiz “mit Zuckerbrot und Peitsche” anhielt, ihre Politik des Bankgeheimnisses zu ändern.

Als die Schweiz das tat, irritierte ein Interview mit Steinbrück, da er die Absicht der OECD, Steueroasen auszutrocknen mit dem Ausritt der “Kavallerie” verglich, die, ohne jemanden anzugreifen, Wirkung zeige.

Diese Machtdemonstration kam gerade in Kleinstaaten mit schwachem politischem Selbstbewusstsein wie der Schweiz, aber auch bei vergleichbaren Problemen wie in Oesterreich oder Luxemburg schlecht an. Im schweizerischen Parlament erwachten bisher wenig profilierte Politiker wie der Rorschacher Stadtpräsident Thomas Müller von der St. Galler CVP. Er meinte, Peer Steinbrück erinnere ihn an “Deutsche mit Ledermantel, Stiefel und Armbinde”. Der Nazi-Vergleich wiederum bewog die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, sich hinter ihren Finanzminister zu stellen, weil es richtig sei, “Ross und Reiter” zu benennen. Und um in der sich selber rechtfertigenden Logik zu bleiben: Es dauert wohl nicht mehr lange, bis in der Schweiz der Ruf ertönt, die Reiter hoch zu Ross mit dem ungebändigtem Kampfwillen der alten Eidgenossen mit Hellebarden zu bekämpfen.

Was ist zu tun?
Was kann man daraus lernen? – In Zeiten erhöhter wirtschaftlicher Konflikte, aber auch unter dem Druck von Wahlkämpfen und parteipolitischen Mobilisierungen kann Aussenpolitik schon mal verbal eskalieren. Alles beginnt mit der Deklassierung des Gegners, etwa der Gleichsetzung von Staaten mit Steueroasen. Darauf aufbauend kommt es zu Diskreditierungen. Dabei werden am liebsten Bilder verwendet, die auf geschichtliche Stereotype verweisen und deshalb gut kommunizierbar sind. Verlassen wir damit jedoch das Feld der diplomatischen Gepflogenheiten mit personaler Kommunikation. Statt diplomatische Konferenzen werden so boulevardisierte Massenmedien zu den relevanten Plattformen des zwischenstaatlichen Schlagabtausches, der seinerseits BürgerInnen-Reaktionen generiert, was das Ganze zum Magneten für weitere Kommentare selbst von Experten macht.

Die Eskalation ist perfekt, ohne dass auch nur eine Frage, die am Anfang stand, geklärt worden wäre. Vielmehr werden so Fronten emotional verhärtet.

Zu den generellen Annahmen des Konstruktivismus zählt, dass Strukturen und Akteure der Internationalen Beziehungen sozial konstruiert werden, und zwar so, dass soziale Identitäten geschaffen werden, die eigene Handlungschancen erhöhen, jene des Gegners verringern. Dabei treten Realitäten notgedrungener in den Hintergrund, weil sie durch nicht nachkontrollierbare, medialen Konstruktionen überlagert werden. Der rückwärtsgewandten Identitäfsfindung mag das behilflich sein. Probleme der Zukunft werden so jedoch nicht gelöst.

An diesem Verständnis der Betrachtung von internationalen Beziehungen ist häufig kritisiert worden, rein deskriptive Analysen zu erzeugen. Denen kommt jedoch kein prognostischer Wert zu, womit sie auch nicht aufzeigen, was zu tun sei, um aus der Spirale medialer Erniedrigungen herauszukommen. Entsprechend wird empfohlen, vornehmlich konstruktivistische Blasen der postmodernen Verirrung im zwischenstaatlichen Umgang sofort zu bremsen, um wieder in der Regelung von Interessen als Kerngeschäft der internationalen Beziehungen anzukommen.

Claude Longchamp

PS:
In der Form schon mal richtig ist der heute angekündigte Schritt von Bundespräsident Hans-Rudolf Merz, ohne Polemik das direkte Gespräch seinem deutschen Gegenüber zu suchen!

Die neue Unübersichtlichkeit beim Bankgeheimnis

Wo steht die Schweiz im internationalen Prozess zur Vermeidung von Steuerhinterziehung? Was hat sich verändert, und wie wird das alles aufgenommen? Die Unübersichtlichkeit ist seit Freitag gewachsen. Ein Versuch, in kürzester Form den Ueberblick zurückzugewinne.

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Der ominöse Entwurf einer Schwarzen Liste der OECD, wie er soeben vom newsnetz.ch verbreitet worden ist.

Die Schweiz hat sich am letzten Freitag entschieden, die Differenzierung zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung gegenüber dem Ausland aufzugeben. Sie ist bereit, die Standards der OECD zu akzeptieren und neue Doppelbesteuerungsabkommen auszuhandeln. Sie reiht sich damit ins wachsende Glied jener Staaten ein, die hierzu bis jetzt abweichende Standpunkte vertreten haben, dieser Tage jedoch Verhandlungsbereitschaft signalisiert haben.


G-20

Verwirrung stiftete die Versammlung der Finanzminister übers Wochenende. Denn nach Angela Merkel ist ist eine Schwarze Liste für Steueroasen angekündigt und provisorisch verfasst worden; gemäss ihrem Finanzminister Peer Steinbrück soll es ein solches Dokument indessen gar nicht gegeben haben.

In der Schweiz ist das nicht unerheblich, denn die Enscheidung des Bundesrates basiert auf der Möglichkeit einer Ausgrenzung, über die die Bundesregierung seit dem 5. März 2009 dokumentiert war. Dieses ist seit heute mittag online einsehbar.

Klar geworden ist, wie schlecht die Schweiz in die Meinungsbildung innerhalb der OECD inteegriert worden ist, obwohl seit langem Mitglied und selbst im Vizepräsidium des Ministerrates vertreten. Der Handlungsbedarf ist hier am grössten, um das Funktionieren geregelter Wirtschaftsbeziehungen zu gewährleisten.


EU/USA

Mit seiner Entscheidung vom Freitag hat sich der Bundesrat aus der Defensive befreit, in die er nach dem Entscheid der Finma, UBS-Kundeninformationen an die USA auszuliefern, geraten ist. Dem Druck, der namentlich aus dem Kreis starker EU-Staaten erwartet worden ist, konnte einen Monat widerstehen.

Mit Blick auf die Problematik in Oesterreich und Luxemburg wird man den Schluss ziehen können, dass die Nicht-Mitgliedschaft in der EU hier unerheblich war. Demgegenüber bleibt die Beantwortung der Frage offen, ob eine EU-Mitgliedschaft in der Positionierung gegenüber der USA von Vorteil gewesen wäre. Ziel des Bundesrates muss es auch hier sein, seine internationale Vernetzung gerade in dieser Frage zu verbessern, sprich, die Mitgliedschaft in der G-20 so schnell wie möglich zu verhandeln.

Schweiz
Innenpolitisch scheint die Entscheidung des Bundesrates mehrheitlich unterstützt zu werden, wenn auch mit Bedenken. Grüne und SP steht hinter dem Schritt; sie fordern eine Ausweitung auch für Steuerhinterziehung durch Schweizer Kunden.

CVP und FDP decken das Vorgehen der Bundesregierung, wollen aber als Parteien weder nach aussen noch nach innen weiter Konzessionen machen. Die CVP wirkt dabei etwas kohärenter, die FDP etwas verwirrter.

Die SVP wiederum befindet sich seit Tagen im Wirtschaftskrieg. Sie widerspricht dem Bundesrat diamentral, denn wer einmal nachgegeben habe, müsse auch weitere Male zurückweichen. Vielmehr befürwortet man an der Spitze der grössten Schweizer Partei, beim Flugzeugkauf für die Schweizer Armee die Unstimmigkeiten mit Deutschland und Frankreich mitzuberücksichtigen und das Gold der Nationalbank aus den USA zurückzuziehen. Zudem kündigt man vorsorglich eine Referendumsbereitschaft gegen neue Doppelbesteuerungsabkommen an.

Wirtschaft
Für die etwas unübersichtlich gewordene Situation der Schweiz in Sachen Bankgeheimnispolitik spricht, dass die Schweizer Nationalbank einerseits, die Schweizerische Bankiervereinigung anderseits mit unterschiedlichen Zahlen zu den ausländischen Vermögen in der Schweiz operieren. Während die SNB von 1 Billion Franken ausgeht, rechnet die SBVg mit 1,85 bis 2,15 Billionen Franken Vermögen von Privatpersonen in der Schweiz. Die Differenz rührt daher, dass die BVG auch Stiftungsgelder miteinbezieht, weil diese in der Regel aus Privatvermögen stammen. In beiden Fällen ist aber unbekannt, wieviel davon aufgrund der Steuerhinterziehungsmöglichkeit in der Schweiz ist.

In dieses Bild passt, dass kaum jemand eine allgemein verbindliche Schätzung der Auswirkungen der gemachten Entscheidung machen kann. Die diesbezüglichen Schätzungen zum BIP und zu Arbeitsplätzen gehen erheblich auseinander. Ein Teil erklärt sich wohl auch damit, dass der Prozess unabhängig von den politischen Entscheidungen jetzt schon läuft.

Und die Stimmung im Lande?
Wenn ich mich ein wenig umhöre, wie die nicht offiziellen Kommentare lauten, stelle ich folgendes fest:

Erstens, die Mehrheit findet die Entscheidung des Bundesrates, eine Diskriminierung der Schweiz auf einer Schwarzen Liste zu verhindern, absolut richtig.
Zweitens, bezüglich der Kohärenz des Vorgehens bestehen vielerorts Bedenken. Es besteht noch erheblicher Erklärungsbedarf.
Drittens, je nach Interessenlage beim Bankgeheimnis fallen die Bewertung etwas different aus. Letztlich ist die öffentlichen Aufregung in der Schweiz aber beschränkt.
Viertens, die Emöprung über den deutschen Finanzminister wächst von Stunde zu Stunde. Seine Sprache ist der Diplomatie zwischen Staaten unwürdig.
Fünftens, ein Teil selbst politisch interessierter Beobachter hat für sich entschieden, angesichts der Komplexität und Schnelligkeit des Vorgehens eine indivudelle Auszeit zu nehmen und hat sich abgekoppelt.

Claude Longchamp

Quo vadis SP?

Die SP-Spitze reagiert fast wie die Konjunkturforscher Die eigene Krise sei noch nicht zu Ende, doch hoffe man auf den Aufschwung in der nahen Zukunft. Politische und politologische Kommentare helfen dieses Bild zu differenzieren, doch ist das alles nicht gesichert. Erhellend wäre letztlich nur eine Diskussion darüber, wo sich für die SP mittelfristige Perspektiven der Neueinbindung von WählerInnen in der gegenwärtigen, gesellschaftlich-medialen Situation ergeben.

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Christian Levrat, SP-Präsident seit 2008 glaubt an eine Wende nach den kantonalen Wahlen in Neuenburg und Genf in diesem Jahr

Die Binnensicht
Christian Levrat, SP-Parteipräsident, und Thomas Christen, sein Generalsekretär, äussern sich seit den Wahlen im Aargau und in Solothurn zur Entwicklung der eigenen Partei.

Für sie ist es ausgemacht, dass die SP ein Mobilisierungsproblem hat. Sie verliert Parlamentswahlen, wenn sie in Wahlkämpfen zu wenig auf die Beteiligung setzt. Als Schwäche wird die eigene Kommunikation gesehen. Die erarbeiteten Inhalte würde zu wenig klar transportiert. Im Hintergrund sehen sie ein Imageproblem, das trotz Verjüngung an der Spitze nicht korrigiert werden konnte.

Eine direkten Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage einerseits, Wahlerfolgen von Parteien sehen die beiden Genossen nicht. Vielmehr legen sie Wert darauf, dass die Antworten, die man gebe, stimmen und vermittelt werden müssten. Bei politische Interessierten klappe das gut, was steigende Mitgliederzahlen würden. Bei politisch Distanziert sei das sichtbar nicht der Fall. Dafür müsse die gemachte Arbeit in der Vermittlung konzentrierter und zugespitzter vermittelt werden.

Die Aussensicht
Parallel dazu haben sich verschiedene Politologen zu den Wahlergebnissen geäussert. Bezogen auf die SP, halten Andreas Ladner, Hans Hirter oder Georg Lutz mehr oder minder am theoretischen Einfluss der Wirtschaftslage auf das Ergebnis linker Parteien fest, schliessen nicht aus, dass sich diese Effekte erst noch zeigen werden, namentlich, wenn die SP auf soziale Themen setze.

Sie betonen nebst der Mobilisierungsfrage die Verluste der SP durch Wechselwählen. Ihre Ergebnisse seien rückläufig, seit die Grünen, insbesondere die Grünliberalen, im Aufschwung seien. Diese wirkten frischer, offener und unabhängiger.

Parteipräsident Christian Levrat wird attestiert, sehr präsent zu sein; der Romand komme aber in der deutschsprachigen Schweiz noch zu wenig als Vermittler neuer Ideen an. So bleibe die Kritik, die SP sei zu stark links und zu ideologisch ausgerichtet, was neuen Parteien wie den Grünliberalen Chancen biete.

Die eigentliche Analyse steht unverändert aus

Das Problem all dieser Einschätzung aus der Binnen- wie der Aussenperspektive besteht darin, nicht evidenzgestützt zu sein. Sie entstehen unter Zeitdruck nach überraschenden Wahlergebnissen, und sie müssen auf unvollständige und uneinheitliche Datenbasen zu offiziellen Wahlergebnisse zurückgreifen. Daran ist die SP allerdings nicht ganz unschuldig, verhinderte sie doch nach der Wahlniederlage bei den eidgenössischen Parlamentswahlen eine systematische Nachwahlanalyse in eigener Sache.

Für die unmittelbare Gegenwart sind zwar die wichtigsten Stichworte gesetzt. Die mittelbare Zukunft wird damit jedoch nicht geklärt. Aus politologischer Sicht wäre zu folgern, dass die alten gesellschaftlichen Spannungslinien wie der Gegensatz von Arbeit und Kapital für die Bestimmung von Parteibindung und Wahlentscheidungen nicht mehr so bestimmend sind. Damit einher geht der Zerfall von Parteiorganisationen, welche die Bindungsarbeit im wieder von neuem leisten müssten.

Von grössere Relevanz wäre es aber, nach mittelfristigen Einbindungen neuer Gruppen fragen, wie das die SP in den 90er Jahren erfolgreich mit der Frauenbewegung leistete. Das gilt sowohl für die Interessenvertretung wie auch für die organisatorische und kommunikative Vermittlung. Ein eigentlicher Nachfolgezyklus hierzu hat die SP bisher nicht gesucht und deshalb auch nicht gefunden.

Claude Longchamp

Die Lehren aus den Aargauer Wahlen

Das Ergebnis der Wahlen im Kanton Aargau überraschte eigentlich alle. Grund genug, um über lieb geworden Fehleinschätzung nachzudenken und realistischere Arbeitshypothesen für die künftige Wahlanalyse zu entwickeln. Ein erster Versuch.

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Uebersicht über Analysen, Prognosen und Ergebnisse der Grossratswahlen im Kanton Aargau nach Max Knecht

Wahlprognostiker im Abseits

Er ist im Kanton Aargau der Wahlprognostiker par exellence: Zwischen 1965 und 1985 war Max Knecht Grossrat, und 1973/4 präsidierte das CVP-Mitglied das aargauische Parlament. Schon als Politiker machte er gerne Prognose, sodass er für die Aargauer Medien als willkommener Wahlaugur aufstieg.

2009 versagte seine bisher recht erfolgreiche Methode. Das Problem lag nicht einmal am doppelten Pukelsheim, den Knecht als einziger sauber analysierte. Demnach hätten allein deswegen die SVP 4, die SP 3 und die CVP 1 Sitz verlieren müssen. 3 wären an die Grünen, 2 an die SD und je 1 an die EVP, die EDU und übrige gegangen.

Doch die politischen Veränderungen schätzte Knecht ziemlich falsch ein. Er erwartete reale Verluste für die SVP und die FDP, Gewinne für die GLP und BDP, während die SP, CVP und Grüne über die Veränderungen wegen der Aenderung beim Sitzverteilungsschlüssel hinaus bis auf maximal eine Mandatsverschiebung stabil bleiben würden.

Die Resultate im Ueberblick
Das Ergebnis der Wahlen kann stichwortartig wie folgt zusammengefasst werden:

. Die SVP legte an Stimmen zu und kompensierte fast alle Verluste wegen dem Pukelsheimer.
. Auch die Grünen wurden unterschätzt, denn sie legten bei den WählerInnen zu und machten auch real Sitzgewinne.
. Marginal besser als von Knecht erwartet schnitt schliesslich die neue BDP ab.
. Klar überschätzt wurde dagegen die SP, die Wählende verlor und weit über den veränderten Sitzverteilmechanismus Mandate einbüsste.
. Das gilt, abergeschwächt auch für die CVP und EVP.
. Letztlich lag der Prognostiker nur bei der FDP und den Grünliberalen richtig.

Die wichtigste Schlussfolgerung lautet: Makroökonomische Analysen der Politik versagen als kurzfristige Prognosen. Vielmehr braucht es eine Analyse der Mechanismen innerhalb der Parteienlandschaft. Selbst erfahrene Wahlanalytiker können sich dabei heute täuschen, wenn sie zu stark auf Referenzwahlen, Umfragen und zu wenig auf eigene Ueberlegungen abstellen.

Die Botschaften des Wahlergebnisses
Ich halte die für mich wichtigsten Botschaften aus den jüngsten Aargauer Wahlen fest.

Erstens, die SVP gewinnt trotz vermehrtem Wettbewerb in ihrem politischen Umfeld. Es haben sich aber die Gewinnesprünge verkleiner.
Zweitens, die SP kann trotz Profilierung vor dem Hintergrund der Finanzkrise nicht zulegen, denn sie kann mit der Konkurrenz der Grünen und Grünliberalen nicht umgehen.
Drittens, Das Zentrum schwächelt fast unverändert, was neuen Parteien Platz bietet.

Eine kritische Analyse der Fehlüberlegung führt zu allererst zur Wahlbeteiligung. Sie lag bei den jüngsten Grossratswahlen mit 31,7 Prozent sehr tief, noch tiefer als bei der Parlamentserneuerung 2005, als sich 33,2 Prozent beteiligten. Sie war damit auch tiefer als am 30. November 2009 resp. am 8. Februar 2009, als die Aargauer Regierung gleichzeitig mit eidg. Volksabstimmungen bestimmt wurde.

Die vierte Botschaft lautet damit: Die Mobilisierung ist für den Wahlausgang massgeblich.

Neue Arbeitshypothesen für die Wahlanalyse
Man kann daraus die folgenden neuen Arbeitshypothesen für Wahlanalysen und -prognosen ziehen:

Erstens, die SVP hat die beste innere Mobilisierung. Sie richtet ihren Wahlkampf konsequent darauf aus. Damit polarisiert sie bei den Wählenden anderer Parteien, doch kann sie damit Wechselwählen zu Konkurrenten verhindern, und vor allem hält sie die Beteiligung ihrer Wählerschaft unabhängig vom allgemeinen Trend vergleichsweise hoch. Das sichert ihr Stabilität auch unter erschwerten Bedingungen.

Zweitens, Rotgrün kann sich bei äusserer Mobilisierung insgesamt halten. Ohne das zuerst hat die SP jedoch ein Problem. An den Wettbewerb mit anderen Parteien um die gleichen Wählenden hat sie sich noch nicht gewöhnt. Sie wirkt auch im Erscheinungsbild wie aus der Epoche davor. Das ist bei den Grünliberalen, die im Aargau ganz neu auftreten, überhaupt nicht der Fall, was ihnen Stimmen sowohl im rotgrünen Lager, wie auch im Zentrum einbringt. Es ist aber auch bei den Grünen nicht so, die für oppositionelle Linkswählende konsequenter als die SP wirken.

Drittens, ohne überragende Persönlichkeiten als Zugpferde kann man im Zentrum nicht punkten. Die CVP konnte sich 2005 im Aargau gegen diesen Trend stellen, als die damalige Parteipräsidentin der CVP Schweiz, die Aargauer Nationalrätin Doris Leuthard, den Wahlkampf anführte, ohne für den Grossen Rat gewählt werden zu können. Fiktive Kandidatur in diesem Stil lassen sich jedoch nicht einfach wiederholen; Wahlgewinne, die daraus resultierten auch nicht. Die personellen Schwächen dahinter werden wieder deutlich sichtbar, und sie eröffnen Spielräume für neue Parteien, sich erfolgreich zu bewerben.

Oder anders gesagt: Die besten Prognosen sind die, die nicht eintreten, weil man vorher handelt. Die zweitbesten Prognosen sind die, die nicht eintreffen und zum Nachdenken darüber führen, was die Fehlannahme im common sense waren.

Claude Longchamp