Allianzbildung im neuen Nationalrat: Das Zentrum gibt den Takt vor, braucht aber einen Verbündeten

Die Fraktionen im Nationalrat haben ihre Positionen bezogen und stimmten bisher genau so wahlverwandt wie ihre Wählerschaften. Das zeigt eine Analyse von Christian Bolliger und Samuel Kullmann von Berner Büro Vatter AG, die der heutige Sonntagsblick präsentiert.

Nach einigem Schwanken war kurz vor- und nach den Wahlen alles klar: Das letzte Wahlbarometer, aber auch die Wahltagsbefragung legten auf der Rechts/Links-Achse die Reihung SVP, FDP, BDP, CVP, EVP, GLP nahe, während SP und GPS praktisch identisch positioniert waren. Dabei bildete die linke Wählerschaft, jene von SP und GPS, einen recht homogenen Block, während die Mitte-WählerInnen, jene GLP, EVP, CVP und BDP, das neue Zentrum umfassten. Klar rechts davon stand die SVP-Wählerschaft, am ehesten Mitte/Rechts das Elektorat der FDP.


Verwandtschaften zwischen den Fraktionen: Anteil identischer Stellungnahmen im Paarvergleich

Das Büro Vatter in Bern wertete nun die ersten 507 Namensabstimmung im neu gewählten Nationalrat aus. Zuerst ging es darum, ob die Fraktionen mehrheitlich dafür oder dagegen gestimmt hatte; dann ermittelte man die Verwandtschaften der Fraktionen. Und siehe da: Die Ergebnisse sind praktisch deckungsgleich.

Hier die Lager:

Wiederum haben SP und GPS die höchste Uebereinstimmung untereinander. In 95 Prozent der Abstimmungen standen sie bei den Namensabstimmungen auf der gleichen Seite.
Zu 84 Prozent identisch waren die Mehrheiten von CVP/EVP und BDP. Sie bildeten, weitgehend gemeinsam, den Kern der neuen Mitte. Dazu zählt auch die GLP, die mit der CVP/EVP zu 81, mit der BDP zu 80 Prozent übereinstimmt.
Die SVP steht auch im Nationalrat weitgehend für sich; am ehesten noch gibt es eine Konkgruenz mit der FDP, doch bleibt diese bei 65 Prozent stehen.
Auch hier fällt die Einordnung der FDP am schwierigsten aus. Am ehesten zählt sie im Nationalrat aber zum Zentrum, mit dem sie sich in mehr als drei Viertel der Fälle gleich entscheidet. Das ist einiges mehr als vis-à-vis der SVP.


Allianzbildung im neuen Nationalrat: Häufigkeiten der Formationen

Die häufigste Allianz im Nationalrat ist denn auch die Polarisierung “Alle gegen die SVP” (24%), gefolgt von Mitte/Rechts gegen die SP und GPS (19%). Dann kommen die einstimmigen Entscheidungen (13%), die noch etwas häufiger vorkommen als Allianzen von Mitte/Links gegen die vereinigten SVP und FDP (8%). In 5 Prozent gesellt sich die BDP zum rechten Pol resp. in weiteren 6 Prozent tun diese BDP und GLP. Das macht es danm schwer vorherzusehen, wie der Ausgang der Abstimmungen ausfällt.

Alles in allem ist die CVP/EVP mit 90 Prozent am häufigsten bei der Mehrheit, gefolgt von der BDP mit 87 Prozent und der FDP mit 84 Prozent, die noch vor die GLP (80%) zu liegen kommt. SP und GPS stimmen je zu 63 Prozent wie der Nationalrat, während dieser Wert bei der SVP bei 56 Prozent liegt.


Positionierung mit der Mehrheit/entscheidend für die Mehrheit

Hier ist die Studie von Christian Bolliger und Samuel Kullmann innovativ. Denn sie bestimmt zu den bekannten Mehrheitszugehörigkeiten auch die Abstimmungen, bei denen der ein umgekehrter Fraktionsentscheid eine andere Mehrheit bewirkt hätte. Da schwingt dann die SP oben aus, die in 40 Prozent der Entscheidungen die Mehrheiten beschafft, gefolgt von der SVP mit 38 Prozent und der CVP/EVP mit 30 Prozent. Das sind, genau genommen, auch die grössten Abordnungen im Nationalrat.

Das Dossier im Sobli ist vielleicht etwas zahlenlastig. Immerhin, es synthetisiert die ersten Positionsbezüge der Fraktionen nach einem halben Jahr Arbeit. Die Ergebnisse zeichnen aber ein gesichert-differenziertes Bild der Lage im Nationalrat: Ein durchgängiges bürgerliches Lager gibt es nicht mehr, nicht zuletzt weil sich die SVP isoliert hat, mehr auf Eigenprofilierung setzt als auf Zusammenarbeit. Mitte/Links bestimmt die Entscheidungen der grossen Kammer aber ebenso wenig regelmässig; dafür sind SP und GPS zu weit weg vom Zentrum. Am ehesten setzt sich im Nationalrat das Zentrum rund um CVP/BDP, gefolgt von GLP, durch, mit dem die FDP noch etwas Mühe bekundet, faktisch aber dazu gehört.

Numerisch reicht das in der Regel nicht für eine sichere Mehrheit, sodass das Powerplay der Polparteien beginnen kann, wenn nicht einer der beiden Parlamentsflügel frühzeitig eingebunden wird. Da haben sich SP und GPS bisher etwas geschickter verhalten als die SVP und ihre Stimmkraft im entscheidenden Moment in die politische Waagschale geworfen.

Claude Longchamp