Von der Lüge als gerechtfertigtes Mittel der Aussenpolitik

Ein Prominenter unter den amerikanischen Politikwissenschaftern rechtfertigt die Lüge als Mittel der Aussenpolitik – genau das, was George W. Bush tat, um den Irak-Krieg zu beginnen. Nun regt sich Widerspruch unter den Kollegen.

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„Mearsheimer gilt als Begründer des sogenannten offensiven Neorealismus. Meines Erachtens ist diese nationalegoistische Staatsräson-Ideologie einer moralfreien utilitaristischen Erfolgsethik für Frieden und Gerechtigkeit auf Erden verheerend.“

Der das schreibt, ist kein billiger Amerika-Feind. Auch kein Postmodernist wider das Wissenschaftliche. Vielmehr ist es Alois Riklin, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen, der sich hier pointiert äussert.

Abgesehen hat es Riklin auf das neueste Buch von John J. Mearsheimer, mit „Lüge“ betitelt, was sich immer gut macht, indessen, ein Werk, das sich mit dem nachgeschobenen Untertitel „Vom Wert der Unwahrheit“, von Beginn an auf Provokation aus ist.

Riklin ist in der Besprechung des Buches nicht unfair. Er zitiert, als innovative Leistung, die fünf herausgearbeiteten Hauptarten staatlicher Lügen:
. die zwischenstaatliche Lüge (wie Bismarcks Frisierung der Emser Depesche)
. die Angstmache (wie die Lüge der Bush-Administration zur Begründung des Irak-Krieges)
. die strategische Vertuschung (wie jenes Verschweigen von US-Atomwaffen-Lagerungen 1969 in japanischen Häfen)
. die nationalistische Lüge (wie die Vertreibung von Palästinensern aus Israel 1948, die als Flucht dargestellt wurde)
. die Völkerrechtslüge (wie das Verschweigen der zivilen Opfer als Folge der Wirtschaftssanktionen gegen den Irak nach 1990).

Immerhin, der Emeritus aus der Klosterstadt in der Ostschweiz, wirft dem Autor vor, bei nicht alle bekannten Lügen der Staaten (wie die Verstrickungen der Nixon-Administration in der Allende-Affäre 1970 oder den Meineide in der Iran-Contra-affäre 1984-6) beigezogen zu haben. Nicht einmal die, welche die Harvard Universität dokumentiert hat, fänden sich im Buch von Maersheimer wieder.

Doch das ist gar der Punkt seiner ernsthaften Kritik. Vielmehr geht es ihm um die gebotene Rechtfertigung von Lügen. Gar nicht einverstanden ist Riklin mit Mearsheimer, Regierungen aller Art würden aussenpolitische Lügen (im Gegensatz zur innenpolitischen) als nützliche Mittel der Staatskunst betrachten. Denn das nationale Interesse sei keine vernünftige Grundlage, Lügen zu rechtfertigen. Nicht einmal ihr Erfolg mache sie erträglich. Konsequent zu Ende gedacht, mache, dann nur der Misserfolg Lügen (wie die zum Vietnam- oder Irakkrieg) unentschuldbar.

Das Problem, so der Kritiker, liege tiefer. Die Reduktion der Staatskunst auf das Ueberleben in einer feindlichen Umgebung negiere, das es so etwas wie eine weiterentwickelte Moral der Staaten gäbe – beispielsweise die, dass eine Demokratie keinen Krieg gegen eine andere führe.

Ich habe dem nichts mehr beizufügen.

Claude Longchamp