German Longitudinal Election Study gestartet

In Deutschland wird mit den Bundestagswahlen 2009 eine neue Aera der Wahlforschung eingeleitet, die neue Standards setzen dürfte.

Dieser Tage startete das bisher ambitionierteste Wahlforschungsprojekt in Deutschland. Initiiert von der 2007 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung soll die German Longitudinal Election Study die drei Bundestagswahlen von 2009 bis 2017 aus einem Guss beobachten und analysieren.

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In diesem Projekt geht es darum, wie die Wählerschaft auf die komplexe Konstellation elektoraler Politik reagiert. Die bisherigen Fragestellungen der (deutschen) Wahlforschung werden deutlich erweitert: Kurz- und Langfristeffekte werden speziell untersucht. Parteien- und KandidatInnen-Survey kommen zu Einsatz. Und der Wahlkampf wird mit den Mitteln der Demoskopie, aber auch der Medieninhaltsanalyse analysiert. Gearbeitet wird dem obenstehenden Untersuchungsdesign.

Die Leitung des Grossforschungsprojektes haben Hans Rattinger (Uni Mannheim), Sigrid Rossteutscher (Uni Frankfurt), Rüdiger Schmitt-Beck (Uni Mannheim) und Bernhard Wessels (Wissenschaftszentrum Berlin) inne.

Claude Longchamp

Wahlforschung in Theorie, Empirie und Praxis.

Ankündigung der Vorlesung von Claude Longchamp im Herbstsemester (18.9.-18.12) 2009 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich

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Ziele und Vorgehen
Die Vorlesung will die Teilnehmenden in drei Bereiche der Wahlforschung einführen:

. in die Theorien der Wahlforschung,
. in die Empirie der Wahlforschung und
. in die Praxis der Wahlforschung,

Hauptsächliches Anschauungsmaterial sind schweizerische Wahlen auf nationaler Ebene. Gelegentlich werden auch Wahlen auf kantonaler Ebene miteinbezogen resp. kommen auch Wahlen im Ausland, insbesondere in den USA, zur Sprache.

AbsolventInnen der Veranstaltung sollen am Schluss einen Ueberblick über die relevanten Themen in den genannten Bereichen und die Leistungen der Wahlforschung hierzu haben. Das soll nicht nur abstrakt, sondern auch konkret aus der gelebten Wahlforschung heraus vermittelt werden.

Inhalt und Aufbau der Vorlesung
Wahlen gelten als wichtigstes, wenn auch nicht einziges Kriterium von Demokratien, denn sie regeln periodisch die politische Machtverteilung. Die sozialwissenschaftliche Wahlforschung beschäftigt sich dabei mit verschiedensten Fragestellungen. Von diesen greifen wir in der Vorlesung eine heraus: Wie bildet sich der WählerInnen-Wille heraus, der die Wahlergebnisse bestimmt und in Mandate in Parlamenten (beschränkt auch Regierungen) transformiert wird.

Wahlforschung wir bei weitem nicht nur von der Politikwissenschaft alleine betrieben. Die ganzen Sozialwissenschaften beschäftigen sich damit, namentlich die (Sozial)Psychologie, die Oekonomie, die Soziologie, die Kommunikations- und Medienwissenschaft, aber auch Geschichte, Geografie Jurisprudenz und Statistik. Wahlforschung ist deshalb in hohem Masse ein interdisziplinär betriebenes Wissenschaftsfeld, was sich in der Vorlesung spiegeln soll. Wahlforschung wird darüber hinaus nicht nur von der theoretischen Seite aus betrieben; sie entsteht immer wieder von neuem aus der (sozialwissenschaftlich inspirierten) Bedarfsforschung.

Zur Sprache kommen in der Vorlesung nebst der Fachliteratur auch Projekte, welche aus universitären resp. ausseruniversitären Forschung entstanden sind resp. diese befruchten. Namentlich erwähnt seien Selects, fög-Medienanalysen, das SRG-Wahlbarometer, smartvote und die sotomo-Studien. Speziell behandelt wird auch das weltweit führende Prognoseprojekt „PollyVote“.

Damit erweitert sich die übliche, akademische Betrachtungsweise von Wahlen hin zur praktischen. Das soll aufzeigen, zu was theoretisch-empirische Wahlforschung fähig ist, durch was diese aber auch beeinflusst wird, und wie weit sie Wahlen selber beeinflusst.

Inhaltlich hat die Vorlesung 6 etwas ungleiche Teile:

– Die Einführung (2 Stunden)
– Der Ueberblick über die Themen (2 Stunden)
– Die Präsentation ausgewählter Theorien der Wahlforschung (6 Stunden)
– Die Präsentation zentraler empirischer Vorgehensweisen in der Wahlforschung (6 Stunden)
– Die Besprechung von Forschungsprojekte der politikwissenschaftlichen der angewandten Wahlforschung (8 Stunden)
– Der Ausblick zum Stand der Wahlforschung und zu Forschungslücken (in der Schweiz) (2 Stunden)

Hinzu kommt die Prüfung während der letzten Sitzung.

Die Vorlesung versteht sich als Vorbereitung für PolitikwissenschafterInnen, die in die Wahlforschung einsteigen möchten, sei dies in der universitären Grundlagenforschung oder in der ausseruniversitären Anwendungsforschung. Die Vorlesung ist mehr als eine Einführung in die politikwissenschaftliche Betrachtungsweise von Wahlen. Sie ist gleichzeitig auch weniger als ein Forschungsseminar hierzu.

Auswahlbibliografie (empfohlene Lektüre)
Klöti, U. et al. (Hg.): Handbuch der Schweizer Politik, Zürich 2006. (insbesondere: “Die nationalen Wahlen in der Schweiz”, p. 427-457
Rosenberger, S., Seeber, G.: Wählen. Wien 2008.
Bürklin, W., Klein, M.: Wahlen und Wählerverhalten, Opladen 1998 (2. Auflage).
Roth, D.: Empirische Wahlforschung. Urpsrung, Theorie, Instrumente, Methoden, Wiesbaden 2008 (2. aktualisierte Auflage).
Falter, J., Schoen, H.: Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005.

Wahlprognosen: eben doch kein Kinderspiel!

Die Meldung schlug ein: Wahlprognosen erstellen, sei ein Kinderspiel. Denn Wahlentscheidungen würden in hohem Masse aufgrund von Personenimages gefällt. Und folgten so erschliessbaren Stereotypen, die sich bereits im Kindesalter ausbildeten. Jetzt hat die Prognose der Härtetest in der Schweiz nicht bestanden.

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Roland Debély, Bisheriger in der Neuenburger Regierung, vermittelt visuell Führungswillen, blieb aber wegen seiner Gesundheitsreform nicht unumstritten. Leadership-Prognosen sind eben keine Wahlprognosen, wie das Beispiel zeigt.

Auslöser der Nachricht war ein Forschungsprojekt von John Antonakis, Professor für Management am HEC der Universität Lausanne. Folgerungen zu einer neuen Beratungspraxis bis hin zur wissenschaftlich begründeten Kinderwahlrecht schossen bereits ins Kraut.

Antonakis, der Spezialist für Leadership, machte nun bei den Neuenburger Staatsratswahlen von diesem Wochenende die Probe aufs Exempel. Er liess Genfer Kinder im Alter von 10-12 Jahren die 30 KandidatInnen für einen Sitz in der Kantonsregierung bewerten. Gefragt wurde, wem man zutraue, Kapitän auf einem Schiff im Mittelmeer zu werden. Die bisherigen erhielten über der Wahlfoto symbolisch eine Mütze, die sie auszeichnete, die anderen traten unverändert an.

Das Ergebnis fiel ausgesprochen ernüchternd aus. Zwei der fünf bestplatzierten wurden von Kindern erkannt. Die drei anderen Favoriten der SchülerInnen fielen in der ersten Runde der Volkswahl teilweise hochkannt durch.

Das hängt auch mit der Uebungsanlage zusammen: PolitikerInnen müssten nicht nur Leadership vermitteln. Sie müssen auch im richtigen Moment für die richtige Partei mit den richtigen Forderungen in Erscheinung treten. Und Politikerinnen kommen zwischenzeitlich in Frage, selbst, wenn sie in unseren Kapitänsbildern fehlen.

Krass ist der Prognosefehler im Experiment bei Roland Debély. Der Gesundheitsdirektor schnitt bei den Kindern am besten ab. Er wurde gestern demonstrativ nicht wiedergewählt. Auf der Liste der FDP belegte er den letzten Platz unter fünf Kandidaten.

Die Begründungen, die man seit gestern für das schlechte Abschneiden hörte, stehen der Hypothese des Experimentes diametral gegenüber. Der 61jährige bürgerliche Politiker aus Cernier tritt zwar medial gekonnt auf. Seine Gesundheitspolitik in den letzten vier Jahren ist den NeuenburgerInnen aber nicht entgangen, und sie wurde am Wochenende quittiert!

John Antanakis verteidigte am Sonntag abend in einer ersten Stellungnahme seine Annahmen. Sie hätten sich in Frankreich bewährt. In der Schweiz werde es einige Relativierungen geben, fügte er bei. Die Kleinheit der Verhältnisse führe möglicherweise zum einem anderen Verhalten.

Das ist das Mindeste, was man sagen kann, füge ich bei. Denn aus meiner Sicht belegten die Neuenburger Staatsratswahlen, dass es nicht möglich ist, PolitikerInnen aus der Image-Retorte zu sein. PolitikerInnen sind in erster Linie VertreterInnen von Parteien, Regionen, Interessen und gesellschaftlichen Gruppen. Mit all ihren Stärken und Schwächen!

Mein erster Schluss: Die Kriterien der Identifikation, die so entstehen, entsprechen nicht einfach dem, was man im Management von wirtschaftlichen Organisation für wichtig hält.

Und mein zweiter: Zum Eignungsverfahren von Kapitänen äussere ich mich als Politikwissenschafter lieber nicht!

Claude Longchamp

Wählen. In der kürzest möglichen Form behandelt.

Die Wiener resp. Innsbrucker PolitikwissenschafterInnen Sieglinde Rosenberger und Gilg Seeber haben die kürzeste Einführung in die politikwissenschaftliche Betrachtungsweise des Wählens verfasst, die ich kenne. Das Taschenbuch zählt nur gut 100 Seiten, hat aber eine Einführung, einen materiellen Hauptteil und einen Serviceteil. Es ist besonders als Einstiegslektüre ins Thema für Studierende und Interessierte geeignet.

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Der Band, 2008 erschienen, stellt Wählen in den demokratiepolitischen Kontext der Gegenwart, präsentiert ausgewählte theoretische Diskussionen und verweist auf empirische Forschungsergebnisse aus verschiedenen Demokratie, einschliesslich der Europäischen Union.

Die Einführung bestimmt Wahlen als zentrale Methode der Demokratie, weil sie einerseits die quantitativ wichtigste Beteiligungspraxis darstellen, anderseits Wahlkämpfe meist die intensivste Form der politischen Kommunikation zwischen Parteien und BürgerInnen sind. So ergibt die Analyse von Wahlen die vollständigste Annäherung an den Stand des Erhalts und der Erneuerung der Demokratie.

Im Hauptteil geht es den AutorInnen um Wahldemorkatien, Wahlrechte, Wahlverhalten und Wahlsysteme als zentrale Themen der politikwissenschaftlichen Lehre. Damit hebt sich der Band deutlich von anderen ab, die Wahlen weniger politologisch und systematisch behandeln, den Gegenstand aber aus der Perspektive des Wählens und deer Forschungen hierzu erschliessen.

Jedes Kapitel wird kurz eingeleitet, damit man erfährt, was in aller Kürze kommt und was notgedrungenermassen auch fehlt. Zur Vertiefung der stichwortartigen Darstellung gibt es jeweils Literatur- resp. Linklisten, die vorbildlich knapp gehalten sind. Bebildert ist die Einführung nicht, ausgewählte Tabellen vermitteln aber numerische Uebersichten, und zentrale Modell geben einen Eindruck der diskutierten Zusammenhängen.

Am Ende gibt es eine Exkurs zu den Zusammenhängen und Unterschieden zwischen resp, von Wählen und Abstimmen. Dabei geht es im Wesentlichen um die Erweiterung von Wahlen durch Referenden im Zusammenhang mit der EU.

Was überzeugte mich bei der Lektüre am meisten? Zunächst die sachliche Darstellung, die in gut verständlicher Sprache geschrieben ist. Das macht das Buch für nicht-Fachleute interessant. Dann die Aktualität des Bandes, der Themen wie e-Voting als neue Partizipationsform, aber auch die Kritik der Postdemokratie in die Uebersichten aufnimmt. Schliesslich kann das Buch empfohlen werden, weil es zwar in einigem österreichisch geprägt ist, sich aber auf erhellende Vergleiche mit Deutschland und der Schweiz stützt.

Claude Longchamp

Sieglinde Rosenberger, Gilg Seeber: Wählen. Wien 2008.

Kantonale Wahlergebnisse: Vorsicht aus verschiedenen Gründen angebracht

Wahlergebnisse in den Kantonen sind gar nicht so einfach zu erhalten. Denn die Resultateermittlung beschränkt sich weitgehend auf die Sitze, kaum auf die Prozentwerte. Hinzu kommen unterschiedliche Praxen und Rechnenfehler, was die Aufgabe zusätzlich erschwert.

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Beispielhafte Uebersicht über die jüngsten kantonalen Wahlergebnisse, wie sie das BfS veröffentlicht.

Exemplarische Probleme
Das Staunen im Aargau war letzte Woche grosse. “Die bisherigen Wahlergebnisse im sind Aargau falsch berechnet worden», diktierte Wahlanalytiker Stephan Müller der “Mittellandzeitung” ins Notizbuch. Berechnet hatte man die Stimmenstärke der Parteien, ausgewiesen wurden aber die WählerInnen-Stärken.

Da die Zahl der Stimmen, die man im Proprozwahlrecht mit Panaschiermöglichkeiten abgibt, von der Zahl der Sitze in einem Wahlkreis abhängen, haben Wählende in grossen Wahlkreise mehr Stimmen als Wählende in kleinen. Prozentuiert man auf der Basis der Stimmen, verzerrt dies das Ergebnis gunsten der Parteien der Wahlkreise mit vielen Sitzen.

Das Problem ist im Aargau erkannt und wir berichtigt. Wegen der Aenderung des Wahlrechts und der Verteilung nach dem “doppelten Pukelsheimer” sind die Prozentwert sowieso nur bedingt vergleichbar. Da die kleinen Parteien im neuen Schlüssel grössere Chancen haben, zu Sitzen zu kommen, kann auch angenommen werden, dass sie auch mehr WählerInnen-Stimmen erhalten. Denn die Chancen, dass eine Stimme für kleine Parteien zu gar keinem Sitz führen, war diesmal deutlich geringer als noch vor vier Jahren.

Die WählerInnen-Verschiebungen im Aargau
Ueberblickt man die Veränderungen in den aktuellen Parteistärken, haben SP (-3.9%), FDP (-2.6%) und CVP (-2.5%) am meisten verloren. Real sind auch die Verluste der EVP (-1.2%).
Der Sitzverlust der SVP geht dagegen auf den Wechsel im Wahlrecht zurück, denn die Partei, die ein Mandat weniger hat, gewann 1,6 Prozent der Wählenden hinzu.
Grosse Gewinnerin im Aargau ist die Grünliberale Partei (+3.5%), gefolgt von der BDP (3.1%). Beide bewarben sich erstmals für Sitze im Grossen Rat. Gewonnen haben aber auch die Grünen (+2.2%), die EDU (+1.1%), während die SD wählerInnen-mässig praktisch stabil blieb (+0.1%).

Unter dem Strich kann man das vorerst wie folgt interpretieren: Die Rechte (SVP, EDU) und die Linke (Grüne) legen zu, das rechte und linke Zentrum kennen neue Angebote (GLP, BDP), was die Situation der Regierungsparteien im Zentrum und links davon erschwert. Die Einflüsse aus der Wirtschaftlage sind gering, stärker noch gleicht die Entwicklung jener bei den letzten Nationalratswahlen.

Die raschen und zuverlässigen Informationsquellen

Die mehrfachen Schwierigkeiten mit Wahlergebnissen in Kantonen, die man gegenwärtig kennt, kann man letztlich nur dank Datenbanken ausgleichen, die aktuell sind und die Ergebnisse von Proporzwahlen nach vergleichbarem Muster berechnet werden. Dazu gehören die Uebersicht des BfS und das Parteienbarometer des Forschungsinstituts gfs.bern.

Claude Longchamp

Der doppelte Pukelsheim

Der “doppelte Pukelheimer” als neuer Verteilschlüssel bei Proporzwahlen beeinflusst die Sitzverteilung in Parlamenten. Er vermeidet Ungerechtigkeiten zwischen grösseren und kleineren Parteien, ist aber ohne Computer kaum anwendbar und kann Widersprüche im Detail der Sitzverteilungen nicht ganz vermeiden.

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Friedrich Pukelsheim, Professor für Stochastik an der Universität Augsburg

Friedrich Pukelsheim, Professor für Stochastik an der Universität Augsburg, beschäftigt sich seit Jahren mit der mathematischen Analyse von Wahlverfahren. Im Auftrag des Kantons Zürich entwickelte er anfangs des 21. Jahrhunderts ein neues Zuteilungsverfahren von Sitzen bei Proporzwahlen, eigentlich “doppeltproportionale Divisormethode mit Standardrundung” genannt, das im Schweizer Volksmund als “doppelter Pukelsheim” bekannt geworden ist.

2002 reichten die Grünen nach den Zürcher Gemeinderatswahlen eine Abstimmungsbeschwerde ein, weil aufgrund der sehr unterschiedlichen Grössen von Wahlkreisen nicht jede Stimme gleich viel Gewicht hat. Ihr Argument: Das damals gültige Verfahren nach Hagenbach-Bischoff verzerre bei Wahlkreisen mit wenigen Sitzen den WählerInnen-Willen zugunsten der grossen Parteien. Das Bundesgericht hiess die Wahlbeschwerde teilweise gut, was zur Ausarbeitung des neuen Verfahrens führte. Dieses wird seit 2006 im Kanton Zürich sowie in der Stadt Zürich angewandt. 2008 kam der Kanton Schaffhausen hinzu, und seit heute werden auch die Parlamentssitze im Kanton Aargau nach dem neuen Schlüssel auf die Parteien verteilt.

Die Effekte gehen überall in die erwartete Richtung: Grössere Parteien verlieren in der Regel Sitze an kleinere. Damit diversifiziert sich auch das Parteiensystem. Bei den Aargauer Grossratswahlen an diesem Wochenende war dies exemplarisch der Fall. Auch wenn es nicht alle Parteien gleich stark traf, verloren doch die vier Grossen SVP, SP, die CVP und FDP allesamt Sitze, insgesamt 18. Neu verfügen sie über 108 der 140 Mandate, während sich die kleinen Parteien von 14 auf 32 Sitze steigern konnten. Neu im aargauischen Parlament sind zudem die BDP, die GLP, die EDU und die SD.

Die Sitzverteilung geschieht dabei in eine iterativen Verfahren, das zwei separierte Schritte kennt. Im ersten Schritt, der Oberverteilung, werden alle verfügbaren Sitzen aufgrund der Wählerzahl der Parteien im ganzen Wahlkörper so verteilt, dass der Quotient aus WählerInnenzahl und erhaltenen Mandaten bei allen Parteien möglichst gleich hoch. Bei der Unterzuteilung muss wird festgelegt, in welchen Wahlkreisen diese Sitze realisiert werden. Dabei kommt ein Verfahren zur Anwendung, der garantiert, dass am Schluss jeder Wahlkreis die vorgesehene Zahl an Sitzen erhält, und die Summe der Sitze einer jeden Partei der Oberverteilung entspricht. Der Einfachheit halber wird dieser Vorgang durch einen Computer ermittelt.

Insgesamt werden damit die beanstandeten Probleme aufgrund der Wahlkreisgrösse gelöst, ohne diese aufzuheben. In Einzelnen Wahlkreisen kann es aber in der Endverteilung zu nicht ganz widerspruchsfreien Ergebnissen kommen, weshalb es sich empfiehlt, bei regionalen Sitzgewinnen oder -verlusten auch die regionalen WählerInnen-Anteile zu kontrollieren.

Claude Longchamp

Die einheimische Arbeiterschaft schrumpft und verhält sich parteipolitisch mobil

Nun sind die Grünen dank der Auszählung der Briefwählenden in Kärnten doch noch über der 5-Prozent-Hürde. Das relativiert die gestrigen Eindrücke zum Rechtsrutsch etwas, stellt aber unverändert die gleiche Frage: Was geschieht parteipolitsch mit der österreichischen Arbeiterschaft?

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Der Einzug der Grünen mit zwei Mandaten in den Kärntner Landtag relativiert die Sitzverschiebungen etwas. Das BZOe verliert einen Sitz und hat damit keine Mehrheit mehr im Landesparlament. Ebenso reduzieren sichdie Gewinne der OeVP um ein Mandat, was den Rechtsrutsch nochmals etwas relativiert.

Theoretisch sind damit wieder verschiedene Allianzen denkbar. Am wahrscheinlichsten ist orange-schwarz, wobei das BZOe aufgrund ihrer Mehrheit in der Landesregierung den Ton angeben kann. Letzteres verhindert auch, dass es zu einer Kombination aus Rot-Schwarz-Grün kommen dürfte.

Fritz Plasser, Politikwissenschafter an der Universität Innsbruck stellt den Wechsel der Arbeiterschaft nach rechts nicht in einen direkten Zusammenhang mit der Leistung, den die Partei in Wien bietet. Vielmehr sieht er darin eine Wiederholung dessen, was man in Oesterreich seit Ende der 90er Jahre kennt: Die Hälfte der Arbeiterschaft, angeführt von den jungen Männern, votiert in der Wirtschaftskrise für nationalistisch ausgerichtete Parteien. SORA-Leiter erkennt gar überhaupt keine Arbeitspartei mehr, denn die österreichische Arbeiterschaft schrumpfe, sei nicht mehr direkt umworben und verhalte sich parteipolitisch mobil.

Andreas Mölzer, EU-Parlamentarier der FPÖ, interpretiert die Erfolge seiner Partei in Salzburg resp. des BZOe in Kärtner als Formierung einer “Arbeiterpartei neuen Typs”. Man punkte seit Ende der 90er Jahre mit sozialpolitischen Aussagen.,denn in der Krise merke der “viel zitierte kleine Mann”, dass das politische Establishment versage. Es entstünde aber keine neue sozialistische Partei, sndern eine “Arbeiterpartei mit nationaler Solidarität.” Anders als die SPOe verstehe man sich nicht international, sondern national und sichere die eigenen Arbeitsplätze, indem man auf den Vorrang der Eimheimischen vor den Zuwanderern poche.

Claude Longchamp

Neues Zentrum für Wahlforschung in Oesterreich

Grosser Tag für die Wahlforschung in Oesterreich. Denn der Oesterreichische Wissenschaftsfonds hat erstmals ein politikwissenschaftliches Forschungsnetzwerk bewilligt. Erster Koordinator des Zentrums für Wahlforschung, das an der Universität Innsbruck angesiedelt wird, ist der ausgewiesene Politikwissenschafter, Wahl- und Kommunikationsforscher Fritz Plasser.


Universität Innsbruck, dem Sitz des neuen Wahlforschungsnetzwerk in Oesterreich

Das nationale Forschungsnetzwerk soll den Aufbau eines Wahlforschungsprogramms vornehmen und dieses bei den nächsten Nationalratswahlen “exemplarisch umsetzen” sowie seine “Institutionalisierung” ermöglichen. So heisst es in der offiziellen Erklärung. Gemeint ist damit, dass die bisher partei- und institutsbezogene Wahlforschung in Oesterreich zentralisiert und auf eine wissenschaftliche Basis gestellt werden soll. Die rückwärtigen Analysen sollen aufgearbeitet und der Forschung zugänglich gemacht werden. Und als Ganzes will das Netzwerk den Anschluss an die amerikanischen resp. internationalen akademische Wahlforschung zu gewährleisten.

Neben der Analyse der WählerInnen und der politischen Parteien soll unter anderem auch eine Untersuchung der Medienberichterstattung und der Dynamik des Wahlkampfes durchgeführt werden.

Das Projekt wird von dem Innsbrucker Politikwissenschaftler und Dekan der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie Universitätsprofessor Fritz Plasser koordiniert und soll in Zusammenarbeit mit der Universität Innsbruck und der Universität Mannheim durchgeführt werden.

Im November 2008 war ich ja selber in Innsbruck, und habe ich Fritz Plasser, dem ich mich seit 15 Jahren verpflichtet fühle und für den ich zahlreiche Beiträge in Sammelbänden geschrieben habe, getroffen. Er hat mir voller Stolz vom Vorhaben berichtet und vom nationalen und internatinalen Qualifizierungsprozess erzählt. Leicht lakonisch fügt er bei, wenn die jetzige Regierung hält und das Parlament nicht vorzeitig aufgelöst wird, werde er die kommenden Wahlen bereits als pensionierter Hochschullehrer erleben. Dennoch freut er sich sehr, seinen persönlichen Beitrag zur Institutionalisierung der Wahlforschung in Oesterreich, die er massgeblich weiter entwickelt hat, noch koordinieren zu können.

Ich gratuliere Fritz Plassser und den Innsbrucker Politikwissenschafter zum tollen Erfolg!

Claude Longchamp

Zur vergleichbaren Institution in der Schweiz: Selects

25 Jahre Wahlforscher

Die Universität Zürich hat den Lehrauftrag der Lehrstuhls für Schweizer Politik zur Wahlforschung neu vergeben. Ab 2009 werde ich dieses Fach in Zürich unterrichten. Im besten Moment, denn ich bin werde dieses Wochenende 25 Jahre Wahl- und Abstimmungsforscher sein.

Zu einem besseren Zeitpunkt hätte die Entscheidung nicht angekündigt werden können. Am Montag bis ich genau 25 Jahre Wahlforscher. Ich bin am 1. Dezember 1983 mitunter hierfür von Professor Erich Gruner an der Universität Bern angestellt worden. Die nationalen Wahlen von 1983 waren meine ersten, die ich als Politikwissenschafter untersucht habe. Zwischenzeitlich habe ich sechs weitere nationale Parlamentswahlen beobachtet, begleitet und in verschiedenster Hinsicht berechnet. Zahlreiche kantonale und städtische Entscheidungen zur Regierungs- und Parlamentszusammensetzung sind seit 1986 hinzu gekommen.

Für die SRG SSR Idee suisse habe ich seit 1987 alle Schweizer Wahlen mitkommentiert. 1999, 2003 und 2007 habe mit dem Forschungsinstitut gfs.bern auch dreimal das Wahlbarometer mit Vor- und Nachwahlbefragung realisiert. In diversen Partei- und Kampagnenstudien sind die Ergebnisse vertieft worden. Sie haben zu zahrleichen Publikationen und Kursen für Parteien, Medienschaffende und Hochschulen geführt.

Und nun dies: Adrian Vatter, einst mein Hilfsassistent in Bern, heute Professor für Schweizersche Politik in Zürich, hat mich mit der Durchführung der Lehre zur Wahlforschung an der Universität Zürich betraut. Herzlichen Dank, sag’ ich da! Ich nehme die Herausforderung gerne an, und werde mein Bestes geben, um die StudentInnen in Theorie, Empirie und Praxis der Wahlforschung in der Schweiz auszubilden!

Claude Longchamp

Realignment or not? – Die Debatte zur Analyse der US-Wahlen 2008 ist eröffnet.

Jay Cost, Autor des HorseRaceBlogs, nimmt sich kritisch der These an, die jüngste Präsidentschaftswahlen liessen sich als Realignent oder Neueinbindung ins amerikanische Parteiensystem interpretieren. Damit stellt er sich gegen die mediale Dramatisierung der Wahl, – mit Argumenten, die für einen Historiker der Wahlen gar nicht so schlecht sind.

In einem zeitbezogenen Ueberblick bestimmt er, was realignment für die USA heisse: “The parties had to manage issues of existential importance that could not be ignored. This is why we remember Lincoln’s “House Divided,” Bryan’s “Cross of Gold,” and Roosevelt’s “New Deal.” Each man took clear stands on issues whose resolution would determine the course of the nation. In these elections, little else mattered.”


Effekt des Realignment von 1932: breiter nationaler Konsens für eine Wechsel von den Republikanern zu den Demokraten.

Diese Problemstellung habe das normale Funktionieren der Parteien ausser Kraft gesetzt. Die Parteien hätten in der Bestimmung der Wahlkampfthemen und der Antworten darauf gar keine Wahl gehabt. Historisch gesehen ging es bei den Wahlen ohne Alternative um Sklaverei, Industrialisierung und Bewältigung der Depression. Und: Wer hierzu eine Partei gewählt habe, der sie auch bei ihr geblieben.

Dann setzt Cost zur entscheidenden Frage an: “Did the parties behave similarly this year as they did then? Were the issues similar?” Und gibt folgende Antwort: “I think the answers to both questions are negative, which cuts against the hypothesis that this election was a “realignment”.”

Im ersten Moment mag man staunen, denn die Subprime-Krise hat sich erheblich auf den Wahlkampf ausgewirkt. Doch Cost ist anderer Meinung: Beide Kandidaten hätten mit verschiedenen Themen zu punkten versucht. Das habe eine klaren Kontrast verhindert. In der entscheidenden Frage, dem Hilfsprogramm für die amerikanische Wirtschaft, hätten beide Senatoren gleich gestimmt. Deshalb habe es auch keine dauerhafte Richtungsentscheidung wie etwa 1932 beim New Deal gegeben.

Cost schliesst: “It might be that 2008 was a kind of realignment – perhaps a “partial” or “soft” or “semi” or “emerging” realignment.” Und das sei nicht viel mehr als schon bei den Wahlen von 1948, 1958, 1968, 1974, 1980, 1992, 1994, 2002 und 2006 geschehen sei.

Schluss: “I’m left wondering if the country has ever been aligned so that it can then realign!”

Claude Longchamp