Von den Schwierigkeiten bei kantonalen Wahlen Erstanalysen zu machen

(zoon politicon) Die kantonalen Wahlen von gestern in St. Gallen und Schwyz wurde mit Spannung erwartet. Erstmals seit den eidgenössischen Wahlen traten wieder Parteiformationen und ihre KandidatInnen an.

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Die SVP und ihr Kandidat in St. Gallen: offensichtliche Wahlsieger des gestrigen Tages, dessen Analyse noch nicht gemacht ist (Quelle: Keystone).

Das Ergebnis ist vordergründig klar: In beiden Kantonsparlamenten von diesem Wochenende ist die SVP die stärkste Kraft. Sie hat in beiden Fällen die CVP überrundet. In beiden Kantonen gilt ab sofort: SVP vor CVP vor FDP vor SP.

Die Praktiker-Methode
Doch nun beginnen die Schwierigkeiten mit Erstanalysen: Was vergleicht man womit, um zu Trendaussagen zu kommen und auch Gewinner und Verlierer zu kennen?

Die Praktiker-Methode greift, wie bei der Bestimmung der Fraktionsstärken, auf Sitze zurück, benennt so, wer zugelegt und wer verloren hat. Wer mit dieser Faustregel arbeitet, geht häufig noch weiter: Die Sitzgewinne einer Partei werden mit den Sitzverlusten einer anderen Partei direkt verrechnet, und schon hat man auch eine WählerInnen-Analyse.


Zweifel an Schnellstschüssen

Es gibt vier gute Gründe, die Gültigkeit dieses Vorgehens zu bezweifeln:

1. Zuerst wäre dieses Verfahren nur dann sinnvoll, wenn die Sitzzahlen und das Wahlsystem identisch bleiben würden. Nur schon das ist durch die Verkleinerungen verschiedener Parlamente schwierig geworden. Zudem sind in jüngster Zeit verschiedentlich Wahlverfahren verändert worden.

2. Sitzzahlen und Parteistärken müssen nicht identisch sein. Sitzzahlen bilden nur jene Stimmen ab, die zu einer Partei geführt haben. Parteistärken lassen sich effektiv nur anhand der abgegebenen Stimmen bestimmen. Publizierte Anteile für Parteien basieren mitunter nur auf den Sitzverteilungen.

3. Gewinne- und Verluste von Parteien sind letztlich die Folge der Mobilisierung des Elektorates. Ohne Angaben zur Wahlbeteiligung kann diese aber nicht bestimmt werden. Denn ohne diese Erweiterung werden Gewinne und Verluste einer Partei, die allein durch Beteiligungsänderungen entstehen, nicht erfasst.

4. Annahmen zur WählerInnen-Wanderung sind mit grösster Vorsitz zu geniessen. Reine Schätzungen aufgrund des common senses können sich irren. Häufig sind kompelexe Wählerwanderungsmodelle adäquater als einfache. Ohne spezifische statistische Analysen geht da gar nichts.

Meine Schlussfolgerung
Ich ziehe daraus eine wichtige Schlussfolgerung: In der Regel bewegt man sich bei Erstanalysen ohne spezifische Daten und Analysen unter dem Anspruchsniveau, das hier formuliert worden ist. Das hat mir dem Zeitdruck der Medien, mit der Information der Statistischen Aemter und mit den Auswertungen der AnalystIn zu tun.

Wünschenswert ist, dass solche Uebungen inskünftig mit AnalystInnen und mit statistischen Aemtern vorbesprochen werden; es sind mit beschränktem Aufwand klare Verbesserungen der Aussagemöglichkeiten machbar.

Ich schreibe das nicht, um Gewinner oder Verlierer der aktuellen Wahl in einanderes Licht zur rücken. Schreibe es aber, damit man über die vorherrschende Praxis der Resultatevermittlung und ihrer Analyse überdenkt!

Claude Longchamp

PS:
Beispiel einer nachträglichen Beschreibung des Wahlergebnisses aufgrund von gesicherten Daten im Kanton Schwyz
Beispiel einer nachträglichen Analyse des Wahlergebnisses aufgrund der Wählerstromanalyse für den Kanton Schwyz

Kurzer Rückblick auf heute (II)

(zoon politicon) Wahlentscheidungen, die wir heute im Kurs “Empirische Politikforschung in der Praxis” behandelt haben, sind sozialwissenschaftlich gut untersucht. Sie haben, mit dem Wahlergebnis, das man erklären will, eine objektive und quantifizierte Grösse als Ausgangspunkt. Sie kommen in allen allen Demokratie vor, und sie folgen sich zeitlich in regelmässigen Abständen. Das sind fast schon ideale Voraussetzungen für empirische Forschung. Hinzu kommt, dass es sich um ein Forschungsfeld handelt, indem sich Grundlagen- und Anwendungsforschung seit langem bewegen und sich auch gegenseitig befruchtet haben. Wahlforschung ist heute nicht nur eine der entickeltesten Teilgebiete der Politikwissenschaft. Sie hilft auch, relevante Tatsachen zu identifizieren, sie bietet Erklärungen hierfür an, sie erlaubt Prognosen, und sie gibt auch Handlungshinweise für ein rationaleres Verhalten politischer Akteure.


Mein Arbeitsplatz nach den letzten Parlamentswahlen im TV-Studio Leutschenbach, wo ich als Wahlanalytiker für die SRG SSR idée suisse tätig war

1. Theorien des Wählens
Die relevante Theoriediskussion ist auf Deutsch im Handbuch Wahlforschung weitgehend dargestellt worden. Auf der theoretischen Ebene werden vier Ansätze unterschieden:
. Wahlgeografische Erklärungen aufgrund der räumlichen Bedingungen, die Religion, Sozialstruktur und politische Tradition formen und so vor allem in Agrargesellschaften politische Entscheidungen bei Wahlen determinieren;
. wahlsoziologische Erklärungen, wobei politische Parteien das konfliktreiche Verhalten von BürgerInnen regeln, indem sie ihre Werthaltungen, Interessen und Gruppenzugehörigkeiten während Wahlkämpfen repolitisieren;
. wahlpsychologische Erklärungen, für die Einstellungen der BürgerInnen wie die mittelfristige Parteiidentifikation, die Kandidaten- und Themenorientierungen, die während des Wahlkampfes entstehen, die Wahlentscheidungen bestimmen;
. und wahlökonomische Erlärungen, die BürgerInnen als rationale Nutzenmaximierer sehen, die bei Wahlen auf dieser Basis namentlich eine ökonomische Evaluierung der Regierungsarbeit vornehmen.
Nach Ansicht verschiedener führender Wahlforscher zeichnet sich heute immer mehr ab, dass wahlgeografische und wahlsoziologische Theorien zu komplex angelegt sind und die Erklärung der Wahlentscheidung zu weit hergeholt suchen. Diese findet nach Auffassung von Politikwissenschaftern wie Jürgen Falter weitgehend im Menschen selber statt und könnte mit einer Synthese von ökonomischen und psychologischen Theorien noch verbessert untersucht resp. erklärt werden.

2. Empirie (bezogen auf die Schweiz)
. Seit 1995 testet die akademische Wahlforschung in der Schweiz sozialwissenschaftliche Theorien, um das hiesige Wahlverhalten zu erklären. Sie kommt dabei zum Schluss, dass es am sinnvollsten ist, sozialpsychologische Ansätze, angereichert durch ökonomische Erklärungen einzusetzen. Das aktuelle Wahlverhalten ergibt sich demnach durch die bisherige Wahl, die mittelfristige Parteiidentifikation und die Position auf der Links/Rechts-Achse, erweitert um die Themenidentifikationen der Wählenden.
. Die angewandte Wahlforschung wurde ihrerseits 1999 neu begründet. Sie versucht, sowohl nachfrage- wie auch angebotsseitig Wahlverhalten zu erklären. Die Parteien werden nicht als fixe Grössen gesehen, sondern aufgrund ihrer Kampagnenfähigkeit als variable, die sich in unterschiedlich intensivem und geeignetem Masse an die Wählerschaft wenden. Diese wiederum identifiziert sich mit Parteien aufgrund eines für das Zielpublikum adäquat geführten Wahlkampfes, aufgrund der medialisierten Personen, welche die Partei repräsentieren und aufgrund von Werthaltungen resp. politischen Positionen in Grundsatzfragen.

3. Praxis (in der Schweiz)
In der Praxis geht es allerdings weit weniger um die Bildung von Erklärungsmodellen, denn um die Prognosefähigkeit der Wahlforschung. Dabei kommen immer mehr verschiedene Instrumente zum Einsatz, wie Wahlumfragen, Wahlbörsen, und ökonometrische Modelle. Bisher arbeiten kein Instrument ganz fehlerfrei. Die Güte der Prognosen kann aber verglichen werden. Anders als im Ausland schneiden dabei Wahlumfragen in der Schweiz neuerdings am besten ab. Wahlbörsen erweisen sich als etwas weniger genau, und sie haben vor allem keinen Erklärungswert. Extrapolationen von kantonalen Wahlen sind ebenfalls etwas weniger genau, vor allem weil sie die vermehrte Nationalisierung der Wahlkämpfe nicht reflektieren.

Meine Bilanz
Die Wahlforschung entwickelte sich rasch. Ihre Anfänge in der Schweiz gehen auf die 70er Jahre zurück. Die rasanten Veränderungen der Parteistärken bei Nationalratswahlen seit 1995 haben sowohl die Grundlagen- wie auch die Anwendungsforschung stimuliert. Die Erkenntnisfortschritte sind rasch gewachsen. Die Prognosefähigkeit hat generell zugenommen. Die Erklärungskraft der verwendeten Ansätze sind noch etwas uneinheitlich, es zeichnet sich aber hierzulande ein sozialpsychologischer mainstream ab, erweitert um ökonomische Erklärungen oder um kommunikationswissenschaftliche.
Die Wahlforschung ist generell wie auch in der Schweiz einer jener Zweige in der Politikwissenschaften, die durch eine evolutionäre Wissensvermehrung ausgehend von der Wissenschaft, aber auch übergreifend auf die Praxis gekennzeichnet sind.

Claude Longchamp

Empirische Politikforschung in der Praxis (II): das Anwendungsfeld “Wahlen”

(zoon politicon) In unserer Vorlesung “Empirische Politikforschung in der Praxis” steht das erste Anwendungsfeld an. Es handelt sich um Wahlen. Sie werden, wie angekündigt, unter drei Aspekten behandelt:

. den Theorien der Wahlforschung
. ausgewählten empirischen Ergebnisse hierzu
. und praxisrelevanten Themen der Wahlforschung.

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Szenen aus dem amerikanischen Wahlkampf 2008: “Who wins?” ist auch die zentrale Frage der empirischen Wahlforschung in Theorie und Praxis.

Das ganze wird auf die Frage der Prognosefähigkeit von Wahlen zugespitzt: Einerseits gehen wir der sehr praktischen Frage nach, war 2007 in der Schweiz die besten Wahlprognosen lieferte (Wahlbefragungen, Wahlbörsen, oder politökonomische Modelle). Anderseits fragen wir, welche Ansätze aus der Wahltheorie die besten Erklärungsansätze anbieten.

Wir behandeln Ergebnisse aus dem Studienreihen “Selects” und “Wahlbarometer”, und wir kombinieren sie mit Medieninhaltsanalysen zu Trend im gekauften und redaktionellen Raum während des jüngsten Wahlkampfes.

Ich verspreche nicht zu viel: Der eine oder andere Primeur aus der aktuellen Wahlforschung ist schon drin.

Am Schluss der Veranstaltung fragen wir uns, wie Theorie und Praxis in der Wahlforschung zusammenhängen, und wie, auf der Basis des kritischen Rationalismus, weitere Erkenntnisfortschritte möglich sind. Denn daran sind TheoretikerInnen wie PraktikerInnen interessiert!

Hier schon mal die neuen Unterlagen!

Claude Longchamp

smartvote hat den Wahlkampf 2007 neu aufgemischt

(zoon politicon) Für mich heisst der Wahlsieger 2007 “smartvote!”, die populär gewordene elektronische Wahlhilfe.

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Gepflegt ist die homepage von smartvote. Dezent sind die Farben, die im einfachen stiling auf einen wirken. Das macht den ganze Internetauftritt von smartvote fast schon elegant.

Klug war auch das Marketing. Den feschen und wenigen feschen Kandidierenden boten sie eine Plattform zu Eigenprofilierung. Den Wählenden offerierte man die Möglichkeit, ihr eigenes, politisches Spinnennetz zu erstellen, und so sich selber und die ihnen am nächsten stehenden KandidatInnen zu erkennen.

Listig haben die smartvotler damit die ganze politische Bürgerschaft dokumentiert. Fast eine Million Wahlberechtigte sollen sich so freiwillig registriert haben. Und für 187 den 200 Gewählten im Nationalrat gibt es jetzt ein einmaliges politische Nachschlagewerk. Das wird keiner pfiffigen und keinem pfiffigen Journalisten entgehen: Die nächsten vier Jahre wird wie noch nie kontrolliert werden, ob vor der Wahl auch nach der Wahl ist.

Clever hat die eigentliche Innovation dieses Wahlkampfes bewiesen, dass nicht einfach Föteli der BewerberInnen gefragt sind. Dass Personen nicht nur Emotionen transportieren, wie die Headlines der Medien suggieren. Nein, dass es auch 2007 ein eigentliches Bedürfnis gegeben hat, sich mit politischen Themen und Positionen der Parteien und KandidatInnen auseinander zu setzen.

Schlau, seit ihr, ihr Wahlsieger! Sogar ich bin euch beim Wahlentscheid halb gefolgt.

Claude Longchamp

Ein spannendes Experiment zur Wahlberichterstattung in der Wissensgesellschaft

(zoon politicon) Nur der Beste soll herrschen, meinte Platon. Doch Aristoteles widersprach ihm: Die Menge kann nicht irren! Beide Philosophien hallen bis heute in der politischen Berichterstattung nach: Platon legitimiert ExpertInnen, Aristoteles Internetservices wie “wikipedia”.

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Das Experiment
2007 habe ich, als Experte, an einem Experiment im online-Lexikon “wikipedia” teilgenommen. Anonym habe ich am Artikel “Schweizer Parlamentswahlen 2007” mitgeschrieben. Fleissigster Initiant ist Lirum Larum, von dem ich bis heute nicht weiss, wer er ist. Die Autorenliste zeigt aber, das im Wahljahr mehrere Dutzend Personen mitgeschrieben haben.

Betrachtet man das Endergebnis, kann man ausgesprochen zufrieden sein. Entstanden ist ein ausführlicher, informativer und neutraler Artikel zu den jüngsten Parlamentswahlen. Bezogen auf die Nationalratswahlen wird Vieles zusammengefasst, das sonst auf Internet greifbar ist. Besonders wertvoll ist aber die einheitlich durchgezogene, interkantonale Aufarbeitung der Ständeratswahlen 2007, die es in so handlicher Form sonst nirgends gibt.

Mein persönliches Fazit
Mein persönliches Fazit: Es war spannend, sich jeden Tag zu fragen, was von dem, das passiert, ist bemerkenswert, und wie kann man das in geraffter Form, ohne Wertung und allgemein verständlich formulieren. Wenn mal was daneben ging – und das gabs!- entzündete sich bald eine Kontroverses auf der Diskussionsseite, und es wurden ganze Passagen geändert und gestrichen. Der grösste Dissens entzündete sich ohne Zweifel an der SVP-Demonstration vom 6. Oktober 2007. Beides ist wohl wikipedia-inhärent.

Die Menge hatte recht und war schnell!
Der Aritikel ist nach den Wahlen noch um einiges gestrafft und bereinigt worden. Heute verfügen wir,

. dank der Menge von Beobachtungen, die von verschiedenen Leute unabhängig gemacht wurde,
. dank dem Willen das festzuhalten und sich damit auch instant der Kritik auszusetzen, und
. dank den nachträglichen Bemühungen, einen fehlerfreien und gut verlinkten Artikel daraus zu machen,

über einen der nützlichsten Artikel zu den jüngsten Parlamentswahlen in der Schweiz. Für mich eines der spannendsten Experiment, Wissen zu produzieren, das vor dem Entstehen der Wissensgesellschaft undenkbar gewesen wäre.
Wünschenswert wäre nun, das Experiment global weiter zu denken, und die Sprachversionen auf wikipedia dem höchsten Wissensstand (für einmal auf Deutsch) anzupassen!

Claude Longchamp

“Wahlbarometer” – die praktische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Wahlbarometer” ist gleichzeitig ein Projektname und ein Programm: Es handelt sich um das Informationssystem der SRG SSR idée suisse Medien, das im Jahr vor den eidgenössischen Wahlen aufgezogen wird. Und es bedeutet, dass man nicht ein-, sondern mehrmalige Messung vornimmt, um die politische Temperatur des Landes fortgesetzt zu messen.

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Ziel des Projektes ist es, die Entwicklung der Parteistärken in den letzten 12 Monaten vor dem Wahltag zuverlässig zu ermitteln. Hierfür wurden 2006/2007 9 vor- und eine Nachbefragung zu den Wahlabsichten gemacht. Anders als alle anderen Wahlbefragungen in der Schweiz, beschränkt sich das Wahlbarometer aber nicht nur auf Beteiligungs- und Parteiwahlabsichten bei Nationalratswahlen.

Das Konzept der letzten drei Wahlbarometer-Serien hat das Forschungsinstitut gfs.bern entwickelt. Das Set, das 2007 angewendet wurde, unterschied im Gefolge soziologischer, sozialpsychologischer, ökonomischer und kommunikationswissenschaftlicher Theorien Erklärungsansätze auf Seiten der Angebote der Parteien wie auch der Nachfrage durch die Wählenden:

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Angebot
. die Identifikation mit der Kampagne der Parteien
. die Identifikation mit BundesrätInnen/ParteipräsidentInnen der Parteien
. die Identifikation mit den thematischen Positionen der Parteien in den Sachfragen, die am meisten interessieren

Nachfrage
. Position der Wählenden auf der Links/Rechts-Achse
. Position der Wählenden in zentralen Wertfragen
. soziologische Merkmale der Wählenden

Für jede der Befragungen, die mit einem einheitlichen Fragebogen vor den Wahlen realisiert wurden, interviewte der gfs-Befragungsdienst mindestens 2000 repräsentativ ausgewählte, wahlberechtigte Personen im Inland.

Berichtet wurde im unmittelbaren Nachgang zu den Befragung in allen Medien der SRG SSR idée suisse. “Schweizer Fernsehen” etablierte zu den News-Gefässen eine eigene “Wahlbarometer”-Sendung. Der Schlussbericht erschien 4 Tage nach der Wahl. In den Printmedien der Schweiz wurden die Ergebnisse aus den Wahlbarometer ausführlich zitiert. Das Forschungsinstitut gfs.bern erstellte eine allgemein zugängliche, ausführliche Ergebnisdatenbank, die via Internet abrufbar ist.

Das “Wahlbarometer” erwies sich im Vergleich zu den effektiven Wahlergebnissen bei den letzten gemessenen Parteistärken als das genaueste Beobachtungssystem überhaupt. Die sechs wichtigsten Aussagen zu Entwicklungen in den Parteistärken und der Wahlbeteiligung stimmten qualitativ alle; die numerische Abweichung bei den Parteistärken betrug im Mittel 1,1 Prozent. Damit war das “Wahlbarometer” auch präziser als die Wahlbörsen und die Prognosen aufgrund kantonaler Wahlergebnisse. Im europäischen Vergleich schnitten alle Wahlumfragen in der Schweiz vergleichsweise gut ab, obwohl in den 10 Tage vor der Wahl nichts Neues mehr veröffentlicht werden darf.

Die theoriefähigen Ergebnisse aus dem Wahlbarometer werden in meinem Kurs “Empirische Politikforschung in der Schweiz” an der Universität St. Gallen vertieft behandelt.

Claude Longchamp

“Selects”- die akademische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Selects” heisst die Studienreihe zur akademischen Wahlforschung in der Schweiz. Den Namen kann man auf zwei Arten deuten: als “Swiss Electoral Studies” und als “Auswahl” aus der Wahlforschung in der Schweiz. Beides ist wohl richtig.

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Ziel des Projektes “Selects” ist es, die Wahlforschung in der Schweiz zu professionalisieren, weiterzuentwickeln und zu institutionalisieren, um den Rückstand gegenüber der internationalen Wahlforschung aufzuarbeiten, den sich die Schweiz aufgrund ihrer eher direktdemokratischen Ausrichtung eingehandelt hat.

Ins Leben gerufen wurde Selects mit Blick auf die Parlamentswahlen von 1995. Seither sind drei eidgenössische Wahlen untersucht worden. Hinzu kommen einige Dissertationen, Spezialstudien und Fachartikel, die mit dem Material von Selects (Bevölkerungsbefragung, Interview mit Kampagnenakteure, Medienanalysen) entstanden sind.

Heute ist die Studienreihe ins Institut für empirische Sozialforschung der Universität Lausanne, kurz FORS, integriert. Die Datensätze sind via SIDOS abrufbar. Geleitet wird das Projekt seit anfangs 2008 vom Politikwissenschafter Georg Lutz.

Das Forschungsprojekt Selects wird von der Bundeskanzlei, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW und dem Schweizerischen Nationalfonds SNF unterstützt.

Die Ergebnisse von resp. bis 2003 sind sowohl von den akademisch geschulten ForscherInnen als auch vom Bundesamt für Statistik analysiert und beschrieben worden. Das macht die Studienreihe als Nachschlagewerk ganz nützlich.

Die Vermittlung über das speziell interessierte universitäre Fachpublikum hinaus ist aber noch nicht geglückt. Die Präsentation der wissenschaftlichen Studienergebnisse von 2003 mit speziellen Regressionsanalysen blieb weitgehend unverstanden, und die Zuspitzung 2007 auf das Thema, Frauen würden sich für Politik immer wengier interessieren, war bei Wahlforschern heftig umstritten.

Die eigentliche Wahlstudie zu den Parlamentswahlen 2007 liegt noch nicht vor. Auch deshalb bleibt der vorläufige Eindruck, dass mit “Selects” die Schweizer Wahlen aus der akademisch-selektiven Position untersucht werden.

Claude Longchamp

Publikationsliste Selects
Daten Selects

Handbuch der Wahlforschung (in Deutschland)

(zoon politicon) Wahlforschung gehört weltweit zu den entwickeltsten Zweigen der Sozialwissenschaften. System- und Akteurstheorien verbinden sich in ihr. GeographInnen, SoziologInnen, OekonomInnen, PsychologInnen, KommunikationswissenschafterInnen und StatistikerInnen lieferten ihre Beiträge, die direkt oder durch die Politikwissenschaft vermittelt in die Wahlforschung einflossen. Doch damit nicht genug: Neben die multi- und interdisziplinären Grundlagenforschung, die weltweit betrieben wird, treten heute global gesehen immer mehr praxisorientierte Forschungsinstitute auf, die angwandte Bevölkerungsuntersuchungen oder Medienanalysen betreiben, und bestrebt sind, Lehre zu, Forschung über und Beratung von Politik miteinander zu betreiben.

Kann man da den Ueberblick bewahren? – Individuell wohl kaum; kollektiv jedoch schon!

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Wer auf Deutsch eine Uebersicht über die Wahlforschung in Theorie und Praxis aus berufener Hand haben will, der greift heute unweigerlich zum “Handbuch Wahlforschung”, das Jürgen Falter und Harald Schoen von der Universität Mainz 2005 herausgegeben haben. Unverändert reflektiert es den Stand der Wahlforschung, mindestens auf Deutschland bezogen.

Die 830 Seiten liesst man kaum in einem Zug. Aber man wird sie auszugsweise verarbeiten. Hierzu offeriert einem das Handbuch fünf unterschiedliche Zugänge:

. die Grundlagen der Wahlforschung (Wahlen und Demokratie, Geschichte der Wahlforschung, Methoden und Daten)

. die Theorien der Wahlforschung (Wahlgeografie, Soziologie, Sozialpsychologie, Oekonomie, Theorievergleiche)

. spezielle Fragestellungen der Wahlforschung (Nichtwahl,Wechselwahl, Wähler extremistischer Parteien, Wertwandel resp. Persönlichkeit und Massenmedien und Wahlverhalten)

. ausgewählte Gebiete der Wahlforschung (Wahlkampfforschung, Historische Wahlforschung, Wahlsystemforschung) und

. eine Kritik der empirischen Wahlforschung in Deutschland

Das Werk ist stark textorientiert, hat aber auch Tabellen und Grafiken zu Verdeutlichung. Abgerundet werden die Beiträge durch ein ausführliches Glossar resp. Literaturverzeichnis.

Interessant sind die Feststellungen der Autoren zum Fortschritt in der Wahlforschung. Die wesentliche Verbesserung sehen sie in der Verlagerung von Erklärung aus dem Umfeld auf das Individuum. In der Einstellungsforschung konkurrieren heute Oekonomie und Sozialpsychologie. Einen weitere Fortschritt vermuten die Herausgeber denn auch in der Erweiterung der ökonomischen Wahltheorie durch sozialpsychologische Erkenntnisse. Das ist wohl eine der treffenden Antworten. Die anderen, im Buch leider unterbewertete, ist die Erweiterung des sozialpsychologischen Theorie durch neue Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft.

Vom Anspruch her ist das Buch nicht geeignet, wer sich nicht für Wahlforschung interessiert. Es richtet sich aber auch nicht nur an die Top-Vertreter der Disziplin. Es ist so gemacht, das beispielsweise Studierende, die sich mit Wahlen und ihrer Erforschung auseinandersetzen müssen, mit Bedacht, gründlich und verständlich eingeführt werden.

Vielleicht, könnte man kritisieren, wäre eine Erweiterung des Handbuches auf Oesterreich und die Schweiz angezeigt gewesen, um das Referenzwerk auf Deutsch und für den deutschsprachigen Raum vor sich zu haben.

Claude Longchamp

Jürgen Falter, Harald Schoen (Hg.): Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005
Umfassende Buchbesprechung

Wahlen in der Mediengesellschaft

Aus dem Kurs “Politische Kommunikation für die Verwaltung” nehme ich einen überraschenden, aber umso wichtigeren Eindruck mit: Die Gespräche mit den Teilnehmenden, vor allem zum etablierten sozialwissenschaftlichen Wissen über Wahlen, Wählende und Wahlkampagnen, aber auch meine Verarbeitung zeigten mir, in welchem Masse heute politische Kommunikation in einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft stattfindet, ohne dass man das in der Forschung genügend reflektiert.

Die Phänomene
Das Bundesamt für Statistik rechnete jüngst nach, dass sich in der Schweiz noch nie so viele Menschen bei einer Wahl geäussert haben wie 2007 bei den Parlementswahlen.- Selbstverständlich, die Wahlbeteiligung war schon höher als die 48,3 % vom vergangenen Oktober. Berücksichtig man aber gleichzeitig die Zahl der wahlberechtigten Männer und Frauen, kommt man absolut gesehen auf hächste je erreichte Zahl von EntscheiderInnen.
Die Wahlergebnisse sprechen zudem eine deutliche Sprache: Die kantonalen Eigenheiten in den Wahlergebnissen sind zwar nicht ganz verschwunden; sie sind aber, analog zur ganzen Entwicklung seit den 90er Jahren, rückläufig. Mehr und mehr kristallisiert sich ein gesamtschweizerisches Parteiensystem mit SVP, FDP, CVP, SP und Grünen als den hauptsächlichen Trägern der verschiedenen politischen Richtungen heraus.

Die These
Die hohe Mobilisierung einerseits, die Vereinheitlichung der Wahlergebnisse anderseits sind Ausdruck von Wahlen, die in erster Linie massenmedial geführt werden. Wahlkämpfe werden in, zu und gegen Medien geführt, die so vie vermittelte WählerInnen-Ansprache besorgen. Das persönliche Gespräch zwischen KandidatIn und WählerIn ist zwar nicht ganz verschwunden, aber fast bedeutungslos geworden.
Das hat eine Konsequenz: Ohne dieAnalyse des Wahlgeschehens in den Massenmedien, im redaktionellen wie im gekauften Teil, kann man Wahlergebnisse immer weniger verstehen.

Die bisherige Wahlforschung
Dennoch stützt sich gerade die politikwissenschaftliche Analyse von Wahlen immer noch auf die drei, mittlerweile klassischen Ansätze der Wahlforschung:

. auf den soziologischen Ansatz, der zurückliegende Konflikte ins Zentrum rückt, weil sie gesellschaftliche Spaltungen bewirkt haben, die in der Ausgestaltung des Parteiensystems weiterleben;
. auf den psychologischen Ansatz, der das Bedürfnis der Menschen, sich im öffentlichen Raum mit Vorbildern identifizieren zu können, betont, und deshalb die Symbolik von Parteien, ihren Wertehimmel, ihr Personal und ihre aktuellen Themenzüge untersucht,
. auf den ökonomischen Ansatz, der die Wählenden von ihren sozialen Kontexten befreit und ihre Entscheidungen auf reine Kosten/Nutzen-Ueberlegungen reduziert, denn so ist man überzeugt, zwischen der Wahl eines Katzenfutters und einer Partei gibt es keine wesentlichen Unterschiede.

Auch wenn die Kombination der Ansätze Verbesserungen in der Wahlanalyse liefert, bleibt das Grundproblem das Gleiche: Die Wählerperspektive alleine erklärt das Wahlergebnis nicht, denn es braucht auch die Medienperspektive.

Die neue Wahlforschung
Stefan Dahlem hat sich in seiner im Jahre 2001 erschienen Dissertation genau mit dieser Problematik auseinandergesetzt. Die Wahlentscheidung für Parteie oder Kandidierende fürht er auf innere und äussere Faktoren der Wählenden zurück. Zu den äusseren gehören die wirtschaftliche Konjunktur, die soziale Lage und das politische Klima. Sie bilden die Realitäten mit denen sich die Massenmedien generell beschäftigen, und die die öffentliche Meinung prägen. Ihre Vermittlung erfolgt jedoch immer weniger durch personale Kommunikation, sondern durch mediale, die allenfalls im eigenen Umfeld verarbeitet wird. Die Wählenden entwickeln deshalb eine den Wahlen vorgelagerte Grundhaltung, mit der sie dem Geschehen begegnen: Dazu zählen ihre Gefühlslage, ihre Erfahrungen, ihr Wissen, aber auch ihre vorläufigen Verhaltensabsichten.
Auf dieser Basis verarbeiten sie nun das mediale Geschehen im Wahlkampf: Parteien leben von Persönlichkeiten, die sie medial repräsentieren. Sie inszenieren symbolisch Realitäten für die sie stehen wollen. Dabei müssen sie Werte kommunizieren, die zu ihrer Ideologie passen, denn dieser Mix lässt Parteiidentifikation entstehen. Aktualisiert wir diese Parteiidentifikation mit den wenigen Themen, die medial dominieren. Botschaften und Botschafter müssen sie besetzen, um eine generelles Meinungsklima entstehen zu lassen. Wem das am besten gelingt, der beeinflusst am stärksten die Wahlentscheidungen.

Meine Bilanz
Mit einer indivualistischen-rationalen Wahl, wie die Oekonomen glauben, hat das wenig zu tun. Mit einer gesellschaftlich vorbestimmten Entscheidung, wie die Soziologien unterstellen, wird man den aktuellen Trends auch nicht mehr gerecht. Vielleicht hilft noch der Ansatz der Psychologen, um zu verstehen, wie Wählende Wahlen als Mediengeschehen begegnen. Ohne eine vertiefte Beschäftigung mit den Erscheidungen des medialisierten Wahlkampfes selber kommt man jedoch nicht mehr weiter.
Eine Neuformulierung des Wahlforschung, die der Wahlentscheidung in den Mediengesellschaft gerecht wird, tut not!

Claude Longchamp

Stefan Dahlem: Wahlentscheidung in der Mediengesellschaft. Theoretische und empirische Grundlagen einer interdisziplinären Wahlforschung. Freiburg/München 2001

Weitere Bücher zum Thema sind:

Otfried Jarren, Patrick Donges (Hg.): Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung, 2. Auflage, Verlag für Sozialwissenschaften, 2006

Hans Mathias Kepplinger, Marcus Maurer: Abschied vom rationalen Wähler. Warum Wahlen im Fernsehen entschieden werden. Alber-Reihe Kommunikation, Band 30, 2005