“Volkswahl des Bundesrates” tönt gut. Denn so drückt sich der Volkswille bei der Bestellung der Schweizer Regierung unvermittelt aus. Denkt man jedenfalls. Doch die Erfahrung lehrt: Es kommt auf das Kleingedruckte an.
Die angekündigte Volksinitiative zur “Volkswahl des Bundesrates” ist für die Politologen eine reizvolle Denkaufgabe. Institutionalisten sind herausgefordert, über die Wirkungen der Neuerung nachzudenken.
Das Berner Modell
Das Modell, das die SVP am Samstag für ihre Initiative zugunsten einer Volkswahl des Bundesrates gewählt hat, lehnt sich eng an das bestehende im Kanton Bern an. Gewählt wird nach dem (gemässigten) Majorzverfahren, mit einer Sitzgarantie für die Sprachminderheiten. Die Berner Erfahrungen legen nahe, dass die Wahlchancen von Parteien und KandidatInnen je nach Ausgestaltung unterschiedlich ausfallen. Im Wesentlichen kommt es auf zwei Faktoren an:
Erstens, sind vorgedruckte Wahlzettel erlaubt oder nicht? Und:
Zweitens, gehen die Parteien Allianzen ein oder nicht?
Kombiniert kann man drei Szenarien unterscheiden, deren Auswirkungen hier kurz besprochen seien:
Szenario 1: Vorgedruckte Wahlzettel, gemeinsamer Vorschlag der Regierungsparteien
Voraussetzung hierfür ist, dass sich die Regierungsparteien einig sind, wer dazu gehört und wer auf wieviele Sitze Anspruch hat. Als Masstab hierzu könnte der WählerInnen-Anteil bei der jüngsten Nationalratswahlen dienen oder die Sitzzahl unter der Bundeskuppel. Können sich die Regeirungsparteien darüber hinaus auch auf die geeignetsten KandidatInnen einigen, unterbreiten sie den WählerInnen einen gemeinsamen Siebnervorschlag. Nicht auszuschliessen ist, dass sich auch Aussenseiter bewerben, ohne aber grosse Wahlchancen zu haben. Formell kommt es damit zwar zur Volkswahl des Bundesrates, doch ist es im Wesentlichen eine Bestätigung des stillschweigend eingegangene Proporzes. Gegenüber dem Status quo ändert sich nicht viel. Wahrscheinlich ist ein solches Szenario bei parteipolitischer Polarisierung nicht.
Szenario 2: Vorgedruckte Wahlzettel, mit mindestens zwei Blöcken
Vor allem dann, wenn es keine allgemein anerkannten Regeln gibt, auf welche Parteien und in welchem Masse die sieben Sitze zu verteilen sind, ist bei einer Volkswahl mit einer beschränkten Konkurrenzsituation zu rechnen. Zu erwarten ist ein linker Block, voraussichtlich aus SP und Grünen bestehend, ein rechter, der SVP und FDP umfassen dürfte, sowie ein Zentrumsblock mit CVP und kleinen Parteien. Jeder Block stellt Ansprüche, die über den eigenen Wähleranteile hinausgehen. Gegenwärtig könnten das vier oder fünf rechte Kandidaturen sein, zwei oder drei aus der Mitte und zwei oder drei von links. Damit kommt es zum Parteien- und KandidatInnen-Wettbewerb.Dieses Szenario ist in der gegenwärtigen Situation am wahrscheinlichsten, garantiert aber keine parteipolitische Stabilität, wie die Wahlen in kantonale Regierungen zeigen. Tendenziell bevorteilt es den stärksten Block, voraussichtlich die SVP mit der FDP.
Szenario 3: Keine vorgedruckten Wahlzettel; jede(r) gegen jede(n)
Die dritte Variante leuchtet unter dem Stichwort “Volkswahl” auf den ersten Blick am meisten ein. Demnach wären, wie das im Kanton Bern 2010 erstmals auch der Fall sein wird, vorgedruckte Wahlzettel nicht erlaubt. Allianzbildung zwischen den Parteien sind dann weniger wichtig, weil sie die Aussichten der eigenen KandidatInnen schmälern. Selbst wenn man sich formell gegenseitig empfiehlt, gibt es ohne vorgedruckte Wahlzettel nämlich keine Garantie, dass man übers Kreuz auf die KandidatInnen anderer Parteien wählt. Doch hat auch dieses Szenario zwei Nachteile: Einerseits sind die Amtsinhaber begünstigt; anderseits können sich neue BewerberInnen nur mit landesweiten Wahlkampagnen durchsetzen. Die Werbeausgaben einerseits, die Medienberichterstattung anderseits bestimmen die Wahlchancen in erheblichem Masse mit. Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios halte ich für mittel, geringer ist es, dass die sinnvollste Einschränkung, die Amtszeitlimitierung, beispielsweise auf 8 Jahre, gleichzeitig eingeführt wird.
Erste Bilanz
Kurz gesagt: Bei einer Annahme der “Volkswahl für den Bundesrat” ist damit zu rechnen, dass vorgedruckte Wahlzettel möglich sind, es zur verschärften Blockbildung innerhalb der Regierungslager kommt, der Wettbewerb unter ihnen verstärkt wird und die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates floaten wird. Bevorteilt ist dabei der stärkste Block, und innerhalb dieses die stärkste Partei. Politische Stabilität auf der Basis der Konkordanz wird leiden. Als Varianten kommen reine Bestätigungswahlen in Frage, allenfalls auch der Durchstart zu Bundesratswahlen mit eigentlichen Wahlkämpfen à la américain. Oder noch klarer: In keinem zu erwartenden Fall wird die Parteienmacht gebrochen, allenfalls durch die Medienmacht ergänzt.
Claude Longchamp
Hier das Interview zum gleichen Thema, das mit newsnetz.ch David Vonplon mit mir dazu führte.
Herr Longchamp, die SVP startet Ende Jahr eine Volksinitiative: Das Volk soll künftig im Majorzverfahren die Regierung wählen. Darf die Partei mittelfristig auf den Support von anderen Parteien hoffen?
Ich gehe davon aus, dass die Volkswahl allenfalls von den Grünen unterstützt wird. Der Rest hängt von weiteren Verlauf der Bundesratswahlen ab. Es dürfte sich eine Pro-Allianz der Untervetretenen bilden. Da liegt das Augenmerk derzeit auf der CVP. Die Übervertretenen – BDP, FDP und SP –dürften Abstand halten. Wenn die SVP aber 2011 ihren zweiten Bundesratssitz zurückerhält, ist mit einem Rückzug der Initiative zu rechnen, Zumal FDP und andere dies als Bedingung für die Wahl eines zweiten SVP-Vertreters setzten könnten.
Wie sähe heute unsere Regierung aus, wenn ihre Vertreter vom Volk gewählt würden?
Je offener die Wahlen sind, umso eher würden die Bundesräte auf ihren Sesseln kleben bleiben. Denn die Bekanntheit eines amtierenden Bundesrates ist gesamtschweizerisch nur schwer zu konkurrenzieren. In Frage kämen eigentlich nur die TV-Stars unter den Politikern.
Wer in der «Arena» punktet, hat also die besten Chancen, Bundesrat zu werden?
Ja, und dieser Aspekt wurde bisher viel zu wenig gewürdigt. Es könnte zu eigentlichen Abwahlkampagnen durch Parteien und Medien kommen, um einen regelmässigen Wechsel zu gewährleisten. Eine Amtszeitbeschränkung auf acht Jahre wie beim amerikanischen Präsidenten, die von den wortgewaltigen in der SVP abgelehnt wird, würde die natürliche Rotation da erleichtern.
Innerhalb der SVP erlitten die Anhänger eines Proporzverfahrens eine Abfuhr. Ist die Majorzwahl tatsächlich das bessere Modell?
Aus staatspolitischer Sicht, ja. Denn da bestimmt die Mehrheit der Stimmbürger die Mitglieder der Regierung – und nicht wie beim Proporz die Parteiwähler. Da in der Schweiz keine Partei eine Mehrheit hat, können daher nur Kandidaten gewählt werden, welche die Unterstützung von drei Parteien haben.
Die SVP will, dass mindestens zwei Bundesräte aus der lateinischen Schweiz stammen. Wie sehr kompliziert dies das Verfahren?
Das vorgeschlagene Verfahren für die Sprachminderheiten entspricht dem Verfahren im Kanton Bern. Zur Anwendung kommt dabei das arithmetische Mittel. Demnach wird die Zahl der Stimmen in der Gesamtschweiz mit der in den Sprachminderheiten multipliziert und aus dem Produkt wird die Wurzel gezogen. Generell kann man sagen, dass das Verfahren im Kanton Bern funktioniert, für die Bürger aber wenig transparent ist. Diese Wurzelrechnung gehört schon zur anspruchsvolleren Mathematik.
Welche Parteien werden profitieren können?
Das lässt sich nicht sagen, denn fast alles hängt von den konkreten Regelungen ab. Sind vorgedruckte Wahlzettel möglich, kommt es zu Wahlabsprachen unter den Parteien. Dann ist entscheidend, ob es einen stillen Proporz gibt. Dabei treffen die grösseren, regierungsfähigen Parteien eine Übereinkunft, wie die Sitze verteilt werden, etwa auf der Basis der Wähleranteile oder der Parlamentsmitglieder. In diesem Falle werden die Parteien untereinander eine Vorauswahl der Kandidaten vornehmen, die dann in der Volkswahl bestätigt werden. Gegenüber dem Status quo ändert sich dann fast nichts.
Wäre das im Sinne der der SVP?
Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das will. Ich vermute deshalb, dass die SVP eine gemässigte Variante favorisiert. Dabei würden dem Stimmvolk mehrere Wahlvorschläge unterbreitet. Zum Beispiel je eine Liste von links und von rechts, allenfalls auch eine aus der Mitte. in diesem Fall spielt der Wettbewerb unter den Kandidaten nur beschränkt; die Blocklogik kommt ebenfalls zum Tragen. In dieser Variante sind die wählerstärkeren Blöcke (also die bürgerlichen) im Vorteil.
Ist auch eine freiere Variante ohne vorgedruckte Wahllisten denkbar?
Ja, das wäre die radikale Gegenvariante zu den anderen beiden. Sie entspricht dem Verfahren, das der Kanton Bern nächstes Jahr einführt. Dann treten letztlich alle gegen alle an, und es entscheidet die Bekanntheit, respektive die Eignung. Für die Vertretung der Sprachminderheit ist das die schwierigste Situation. Denn dann werden ihre beiden Kandidaten fast sicher durch die Sprachmehrheit, also die deutschsprachige Schweiz bestimmt. Meiner Einschätzung zu Folge gehört wohl just die SVP zu den Verlierern dieses Modells, da gemässigte Kräfte bevorzugt würden.
Ist es da nicht paradox, dass die Partei für die Volkswahl votierte?
Nicht unbedingt. Bei der freien Volkswahl hat die SVP mit ihrer Kampagnenmacht auch Vorteile. Richtig aber ist auch: Werden dem Stimmvolk Wahlzettel vorgelegt, erwarte ich eine Einebnung, wie sie bei Regierungsrats- oder Ständeratswahlen zu beobachten ist. Dies hat sich für die Exponenten der SVP als erschwerend erwiesen. Der einzige Ausweg hierzu wäre das Proporzverfahren gewesen. Das hätte der SVP genützt, der Linken aber auch, und der Regierungszusammenarbeit mit Sicherheit geschadet.
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