Paradigmenwechsel in der Rentenfrage!?

Die Reform AHV21 wurde angenommen. Das Ergebnis beim AHV-Gesetz war sehr knapp, bei der Zusatzfinanzierung via Mehrwertsteuer etwas deutlicher. Hinterlassen hat die Abstimmung aber eine vielfach und tief gespaltene Schweiz. Eine Ursachenanalyse.

Zur Abstimmung gelangten die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0.4 Prozentpunkte. Weil es dafür eine Verfassungsänderung brauchte, mussten Volk und Stände am 25. September zustimmen. Am Ende waren es 55.1 Prozent Ja und 5 von 23 Standesstimmen. Beim AHV-Gesetz entschied das Volksmehr allein. Es lag bei 50.6 Prozent Ja.

Die politische Allianz
Das Entscheidende bei der Reform AHV21 geschah im Parlament. Denn es bildete sich ein bürgerlicher Block heraus, der sich im Zentrum absicherte. Dafür stimmten schliesslich SVP, FDP und Mitte, aber GLP und EVP. Sie waren gewillt, das Rentenalter für Frauen kombiniert mit anderen Massnahmen zu erhöhen, um die Finanzen des Sozialwerks bis 2030 zu sichern. Lagerinternen Kritiker:innen bot man Hand für eine Uebergangslösung zugunsten der ältesten Frauen-Jahrgänge im Erwerbsalter.
Die befürwortende Allianz brach damit ein Tabu. Bis anhin ging man davon aus, dass es gegen den Willen der Linken keine neue Rentenpolitik geben könne. 2004 wurde der Grundsatz noch bestätigt, als die damalige Rentenreform am Nein der Gewerkschaften und Linken scheiterte. 2017 änderte sich das Bild, als auch die rechtsbürgerlichen Seite bewies, ihrerseits referendumsfähig zu sein, indem sie erste Vorlage von Bundesrat Berset zu Fall brachte. Jetzt schlug das Pendel ganz Richtung bürgerliche Mehrheitspolitik aus.
Ein Schwächung erlitt sie aber, als der Ständerat die parallel laufenden BVG-Revision nicht rechtzeitig abschloss und mangels Konsens die Verabschiedung verschob.

Das Potenzial
Hochrechnungen der parlamentarischen Allianz zeigten schon früh, dass bei gegebenen Breite des Ja-Lagers ein Stimmen-Anteil von 59 Prozent möglich sein würde.
Selbstredend gab und gibt es fundamentale Unterschiede in den Einschätzungen der Reform bei Frauen und Männern. Schon der Frauenstreik 2019 hatte einen kritischen Blick auf die anstehende Reform geworfen. Am 14. Juni 2022 wurde mit einem Streikabend daran erinnert. Doch die Frauenallianz aus dem Frauenwahljahr 2019 hatte sich aufgelöst. Denn die Frauenorganisationen der Parteien folgten durchwegs den Positionen der Gesamtpartei.
Die frühen Umfragen zeigten einen unüblich tiefen Gender-Gap in den Stimmabsichten. Mehr noch: Möglicherweise würde die Mehrheit der Männer die Mehrheit der Frauen überstimmen. Das kommt nicht häufig vor, und es bisher häufiger umgekehrt der Fall.

Der Abstimmungskampf
Das Ja-Lager startete frühzeitig in den Abstimmungskampf. Die vier Dachverbände der Wirtschaft koordinierten sich. Die Stimme der nächsten Generation sollte eingebracht werden. Nach einem Vierteljahrhundert Stagnation brauche es eine Deblockierung. Gefunden worden sei ein vertretbarer Kompromiss. Er sichere vor Rentenkürzungen, und er beteilige alle Generationen an der Reform.
Die Gewerkschaften begannen deutlich später. Sie überraschten mit ihrer Argumentation, die AHV sei solide finanziert. Der Untergang werde bloss an die Wand gemalt. Man habe Zeit und könne noch eine weitere Verhandlungsrunde einlegen. Bevor man das Rentenalter ändere, brauche es endlich Lohngleichheit.
In der Hauptphase schenkten sich die Kontrahentinnen nichts. Die Ja-Seite bezichtigte die Widersacher wiederholt der Lüge. Rentenalter 67 sei nicht Inhalt der aktuelle Vorlage. Diese konterte, die BefürworterInnen klammerten aus, dass es ausserhalb der Uebergangsjahrgänge zu einem Abbau der Lebensrente komme.
Bundesrat Alain Berset wiederum stand etwas dazwischen. Er bezeichnete die Reform als nötig und ausgewogen. Sie sei gut begründet und sichere die AHV für 10 Jahre.
Kaum ein Thema war im Abstimmungskampf die Zusatzfinanzierung via Mehrwertsteuer.
Die verschärfte Polarisierung im Abstimmungskampf liess das Nein-Lager anwachsen. Ihr Online-Auftritt begann zu dominieren. Zum Schluss zündete sie eine neuartige Mobilisierungskampagne mit 300’000 emails.
Die Umfragen, 2-3 Wochen vor Schluss erstellt, blieben etwas über 50 Prozent. Gfs.bern hatte eine fallen Tendenz bei der Zustimmung, Leewas eine steigende.
Die Modellprognostiker gaben dem Gesetz ein Zustimmungspotenzial von 54-56 Prozent, bei der Zusatzfinanzierung waren es mit mindestens 58 Prozent noch etwas mehr. Die Ständemehrfrage stellte sich für sie nicht mehr.

Nachanalyse des Endergebnisses
Das Endergebnis war etwas tiefer. Möglicherweise ist das eine Folge der Schlussmobilisierung von links. An den Mehrheitsverhältnissen änderte es aber nichts.
Die erste Nachbefragung von LeeWas zeigt bei beiden Vorlagen vergleichbare Konfliktmuster, das beim AHV-Gesetz deutlicher zu Tage trat.
Da fiel zuerst die klar gegensätzlichen Mehrheiten bei Männern und Frauen. Jene stimmten zu 65% dafür, diese zu 63% dagegen. Die Geschlechterdifferenz betrug demnach 28 Prozentpunkte – der Höchstwert in der Abstimmungsgeschichte. Es unterschieden sich aber auch die Schichten mit Zustimmungsmehrheit bei 9000 CHF Haushaltseinkommen und mehr resp. Ablehnungsmehrheit bei unter 7000 CHF. Dazwischen gab es ein Patt. Beim Alter gab es kein linearer Zusammenhang. Die RentnerInnen war dafür, die U35 gespalten und die Gruppen dazwischen dagegen.
Das Ergebnis in den Sprachregionen verschärfte den Eindruck der tiefen Spaltung. Die deutschsprachige Schweiz war mit Ausnahme von BS, SO und SH dafür, die lateinische Schweiz dagegen.
Ein Ausblick in der Umfragen zeigte, heute würde eine Mehrheit für eine 13. Rente stimmen, aber gegen Rentenalter 66/67.
Ueber allem spiegelt sich ein in sozialpolitischen Fragen nicht unbekannter, starker Links/Rechts-Gegensatz. Wählende der FDP und GLP bilden die Sperrspitze im Ja, der SP und der Grünen im Nein. Knapper war die Zustimmungsmehrheit bei der SVP und der Mitte Partei.

Die Aussichten
In der Rentenpolitik zeichnet sich ein Paradigmenwechsel von der Konsenssuche hin zur bürgerlichen Mehrheitspolitik ab. Ganz vollzogen ist er aber nicht. Der Damm der referendumsfähigen Linken ist löchriger aber nicht gebrochen worden.
Die tiefen Gräben rufen nach einem Ausgleich. ExponentInnen der GLP und der Mitte bieten sich dafür an. Streitfeld wird die BVG Revision werden.
Die ExponentInnen von gestern wollen aber weiter gehen. Für feministische Netzwerke geht der Kampf weiter. Lohngleichheit als Voraussetzung für Rentengleichheit bleibt auf dem Tapett. Auch im bürgerlichen Lager mahnte man an, beim Rentenalter nicht auszuruhen und den Schwung zu nutzen.
Das jetzige Parlament hat das kommende schon der Abstimmung beauftragt, 2026 eine neue Rentenreform einzuleiten. Die dürfte den Weg weisen.

Claude Longchamp