Im Zweifelsfalle Nein. Wie es zum Nein bei der Verrechnungssteuer kam. Nach den Abstimmungen über die AHV21

Das revidierte Verrechnungssteuergesetz wurde heute abgelehnt. Mit 52 Prozent Nein fiel die Entscheidung recht knapp aus. Eine Ursacheanalyse.


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Die Vorlage aus dem EFD wollte den Obligationenhandel im Inland fördern, war aber wegen Steuerschlupflöchern umstritten. So lautete die Kürzestformel der vergangenen Abstimmung.
Es handelte es sich um einen typischen politischen Konflikt in der globalisierten Welt. Die Ja-Seite betonte den nötigen Standortwettbewerb, ihre Widersacher sahen Nachteile auf die Bürgerschaft der Schweiz kommen.

Offen in den Umfragen
Die letzten Umfragen widersprachen sich vordergründig: Sie hatten keine Mehrheit für niemanden. Tamedia gab ein 40:48 bei steigendem Ja, die SRG hatte 47:44 bei zunehmendem Nein. Hintergründig sprachen jedoch sowohl gfs.bern wie LeeWas, welche für die Erhebungen zuständig waren, von einem voraussichtlichen Nein.
Die Erwartung der Wettbörse 50plus1 sahen es wie die SRG. Angangs gingen 70% der Börsianer von einer Annahme der Vorlage aus, gestern waren es noch 47%. Dem schlossen sich auch die Modellprognostiker an, denn auch sie tippten am Ende auf 45-48 Prozent Nein.

Der Abstimmungskampf
Die Schlussabstimmung im Nationalrat fiel selbstredend zugunsten der Vorlage aus. Sie suggerierte ein Zustimmungspotential von 59 Prozent für den Abstimmungstag. Die Parolenfassungen bestätigte das. Dafür waren alle Parteien von der SVP bis zur GLP. Umgerechnet sprach das für einen Ja-Anteil von 55 Prozent. Und selbst die AI-getriebene Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins rechnet mit einer Ja zu 55 Prozent.
Im Abstimmungskampf prallten dann zwei Welten aufeinander:
Die Ja-Seite, unter anderem von der Agentur Rod beraten, wollte eine ruhige Kampagne, die aus der verlorenen Abstimmung zur Stempelsteuer lernen sollte. Die Kommunikation ging von höchstens vorübergehenden Steuerausfällen aus, dann von Mehreinnahmen beispielsweise für Investitionsmöglichkeiten im Umweltbereich.
Dem widersprach die Nein-Seite heftig. Der unterstellte Zusammenhang zwischen Steuersenkungen und Mehreinnahmen sei nicht gesichert. Schützenhilfe gab es vom Lausanner Oekonomen Marius Brülhart, der diesbezüglich eine BAK-Studie für das EFD heftig kritisierte. Die Opponenten griffen das gerne auf.Zum Schluss des Abstimmungskampfes griff der Tagesanzeiger die Frage nochmals auf und legte dar, wie das Argument in die Unterlagen eingeführt wurde und kampagnenmässig zum Mainstream avancierte.

Zweifel entschieden
Die aufgekommenen Zweifel konnte auch Bundesrat Maurer nicht aus dem Weg räumen. Er sprach launisch von einem “Reförmchen”. Er verstehe nicht, wieso man überhaupt dagegen sein könne. Das wirkte nicht gegen Unsicherheit in der Bürgerschaft.
Das bestätigte der Argumententest in der Umfrage von gfs.bern. Er gab keine Seite eine Mehrheit, aber Vorteile für das Nein. Wirksamstes Einzelargument war allerdings, es sei ungerecht, gewisse Gruppen steuerlich zu entlasten, wenn andere davon nichts hätten und die Zeche zahlen müssten.
Da halfen weder Medientenor und Werbeüberhang viel. Sie sprachen für die Ja-Seite. Doch blieb dieser Abstimmungskampf im Schatten der anderen Kampagnen. Viel Wirkung entwickelt das nicht.
Die Grosswetterlage half. Denn die Zukunftsperspektiven verdüsterten sich diesen Herbst. Spürbare Preissteigerungen machten überall die Runde. Die Inflationsrate pendelte sich bei 3 bis 4 Prozent ein. Massnahmen zur Stärkung der Kaufkraft wurden diskutiert. Das alles verstärkte die Grundhaltung, keine Experimente zu machen. Das war kein gutes Omen für das neue Gesetz.

Meine Bilanz
Ich hielt den Ausgang lange für offen. Für ein Ja konnte mensch die Mittelfristprognosen in die Waagschale werfen, aber auch die Werbedominanz und der generelle Medientenor. Für das Nein sprachen die Umfragen, die Wettbörse und die finalen Prognosen.
In solchen Situation gilt die Faustregel, dass zögerliche Menschen auf die Nein-Seite gehen.
Oder man bezieht mit ein, was die Referenzabstimmungen ergaben. In der Tat ist es bemerkenswert, dass seit 2017 die Linke bereit dreimal in Steuerfragen die bürgerliche Politik (USRIII, Kinderzulagen, Stempelsteuer) bremsen konnte.

PS:
Die Nachbefragung von LeeWas mittels einer nachträglich gewichtete on-line Umfrage bestätigte unsere Annahmen. Das Stimmverhalten unterschied sich zunächst entlang der Parteibindung. Dafür waren die Wählenden der FDP (77% Ja), der Mitte (60%) und der SVP (57%). Mit 53% Ja fiel die Zustimmung an der Basis der GLP recht knapp aus. Klar dagegen votierten die Basen von SP (782%) Nein und der GPS (77%). Zudem gab es einen klaren Zusammenhang mit dem Regierungsvertrauen. Je tiefer es war, umso eher stimmte mensch dagegen.

Claude Longchamp