Entscheidet das Geschlecht über den Atomausstieg?

Bei der Moratoriumsinitiative und bei der Liberalisierung des Energiemarktes fielen die Mehrheiten von Frauen und Männern in der Stimmabgabe auseinander. Zwei Mal gaben die Frauen den Ausschlag: Deshalb die Frage, ob das Geschlecht auch beim Atomausstieg entscheidend ist.

57 Prozent dafür, 36 Prozent dagegen, 7 Prozent unentschieden. Das ist das Hauptergebnis der ersten SRG-Umfrage zur Volksinitiative der Grünen, die einen gestaffelten, zeitlich fixierten Ausstieg aus der Atomenergie verlangt. Fast noch interessanter als das ist der Split nach Geschlecht. Bei Frauen sind 63 Prozent dafür und nur 28 Prozent dagegen, bei Männern ist das Verhältnis mit 50 zu 43 Prozent dagegen fast ausgeglichen.
Mehr noch, bei Frauen sind 44 Prozent bestimmt dafür, aber nur 14 Prozent bestimmt dagegen, derweil diese Anteile bei Männern 34 zu 29 Prozent lauten.
Damit beträgt die Differenz bei der Zustimmungsbereitschaft 13 Prozentpunkte, bei der Ablehnungstendenz gar 15 Zähler. Bei den Entschiedenen liegen die Frauen im Ja mit 10 Punkten im Vorsprung, die Männer im Nein mit 15.

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Vergleicht man das mit anderen frühen Umfragen, ist beides unüblich. Unterschiede in den Stimmabsichten nach Geschlecht gibt es zwar immer wieder, meistens aber wegen des unterschiedlichen Standes der Meinungsbildung. Frauen sind, je früher man sich nach Stimmabsichten erkundigt, in aller Regel unschlüssiger als Männer. Ihre Entscheidung kommt üblicherweise verstärkt unter dem Eindruck des Abstimmungskampfes zustande.
Diesmal ist das nicht ganz so. Anhand der aktuellen Umfrage kann man bestätigen, dass Männer etwas festgelegter sind als Frauen. Die Wirkungen der Nein-Argumente sind durchwegs grösser. Die Angst vor Stromengpässen zieht mehr. Stromimporte erscheinen bedenklicher und Schadenersatzforderung bei einer limitierten Laufzeit klingen plausibler.
Bei Frauen wirkt dafür die Gefahr des Maschinenparks wegen des Alters der Kernkraftwerke am klarsten, und auch mehr als bei Männern. Letzteres gilt auch für das Vertrauen in neue Technologien, die den Ausstieg ermöglichen.

Wir orten tendenziell ein Auseinanderfallen der Diskurse für resp. gegen die Initiative entlang des Geschlechts. Auf Sicherheit sind beide ausgerichtet, aber eine ganz andere Sicherheit: Bei Frauen geht es um die Gefahren, wenn man die Kraftwerke nicht schnell abstellt, bei Männern um die Versorgungssicherheit, wenn man rasch verfährt. Dahinter stecken unterschiedliche Wertkonzepte: Die materialistische Argumentation der Gegner, stärker wirtschaftsorientiert, ist für Männer eingängiger. Die postmaterialistische der Befürworterinnen, auf Lebensqualität ausgerichtet, zieht bei Frauen mehr.

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Die Erfahrung lehrt uns hier, dass die Unterscheidung ganz rechts keine Rolle spielt und ganz links nur wenig zur Erklärung des Stimmverhaltens beiträgt. Demgegenüber ist sie im Zentrum von Belang, denn da unterscheiden sich Frauen und Männer entlang der (nach)materialistischen Präferenzen am deutlichsten. Relevant war das beispielsweise auch beim Moratorium für neue Kernkraftwerke 1990. Das kam in der Volksabstimmung dank dem klaren Ja der Frauen (63%:37%) zustande, derweil eine knappe Mehrheit der Männer dagegen war (40%:51%). Auch die Liberalisierung des Energiemarktgesetzes versenkten die Frauen mit ihren 58 Prozent Gegnerschaft, bei den Männern waren 53 Prozent dafür.

Gut denkbar ist, dass die Kampagnen in den kommenden Wochen noch mehr auseinandergehen werden. Nicht nur, weil sie interessenmässig für oder gegen die Initiative sind, sondern weil man unterschiedliche Wertkonzepte vertritt, um andere Zielgruppen anzusprechen. Den Initianten kann dabei kommunikativ zupass kommen, dass die politische Trägerschaft des Begehrens bereits erheblich feminisiert ist, während die Fachleute in Energiefragen, von Ausnahmen abgesehen, meist Männer sind.
Joker im Ganzen könnte Bundesrätin Doris Leuthard werden, eine Frau aus dem bürgerlichen Zentrum, die sich klar für die Energiewende, aber auch ebenso klar gegen die grüne Initiative ausgesprochen hat.

Claude Longchamp

Twitter-Newsraum zur Atomausstiegsinitiative durchleuchtet

Unter Meinungsmachern resp. Meinungsmacherinnen ist Twitter nach 2014 zu einem der führenden Social-Media-Kanäle avanciert. Erstmals kann man das Netzwerk der aktiven Kommunikatoren vor einer Volksabstimmung mitverfolgen.

Netzwerke-Analysen
Beziehungsanalysen der Aktiven in SocialMedia kennt bisher weitgehend aus den USA. Sie sprechen durchwegs von einer bipolare Themenöffentlichkeit: hier die Demokraten mit ihren Accounts, da die Republikaner mit ihren Twitteradressen – und nur ganz wenige dazwischen. Das führte zur verbreiteten Kritik, die Meinungsbildung in sozialen Medien geschehe in weitgehend abgeschlossenen Echokammern.
Die erstmalige Anwendung des Verfahrens bei Schweizer Volksabstimmung zeichnet ein differenziertes Bild der Twitter-Beziehungen. Letztlich gibt es nicht zwei Lager, vielmehr lassen sich mehrere Cluster identifizieren. Die zentrale Eigenschaft eines jeden Clusters ist, dass die Mitglieder in erhöhtem Masse untereinander verbunden sind. Klar zu einander angegrenzt sind sie nicht alle. Vielmehr gibt es zahlreiche Überschneidungen.

Übersicht über das Netzwerk aller Twitter-Accounts, die sich an der Diskussion beteiligen
grafiktwitter
Grafik in hoher Auflösung hier:

https://drive.google.com/file/d/0BwQuAj8Sv4UWTE5Tb0VteTFTVkU/view

 

Nicht zwei Lager, sechs Cluster in der Schweiz
Das erste Cluster (Farbe hellgrün) umfasst die nicht-deutschsprachigen Adressen, die meisten davon auf französisch. Im zweiten sind die grünen Kommunikatoren (Farbe grün), im dritten die Linksliberalen (Farbe blau). Die GLP-Twitterer machen das vierte (Farbe dunkelgrün) aus, gefolgt vom bürgerlichen Lager (Farbe violett).
Würde man ein anderes Thema wählen, fände man ähnliche Strukturen. Mit anderen Worten: Die schweizerische Twittersphäre ist nach Sprache segmentiert, aber auch nach weltanschaulichen Lagern – und von diesen gibt es klar mehr als zwei.
Vorlagenspezifisch sind zudem die zahlreichen Fachadressen, die sich an der Ausstiegsdebatte beteiligen. Sie machen im aktuellen Fall das sechste Lager (Farbe gelb) aus.

Das methodische Vorgehen
Ermittelt wurde das Ganze in einem mehrstufigen Verfahren. 16 wichtige Hashtags zur Debatte bildeten den Ausgangspunkt. Im ersten Schritt wurden die häufigsten Begriffe identifiziert. Ermittelt wurden alle Adressen, welche diese Begriffe nutzen. So entstand eine erste Grundgesamtheit von Adressen. Alle nicht-schweizerischen Accounts mussten jedoch aussortiert werden, denn sie würden das Gesamtbild beeinflussen. Verblieben sind 1’346 Adressen mit insgesamt 80’220 Verbindungen untereinander. Man kann diese Gesamtheit auch die Mitglieder des Twitter-Newsraumes in Sachen Atomausstieg nennen.

Zentrale Adressen insgesamt

Aufgrund der Follower und der Followings innerhalb des Newsraumes kann man die zentralen Accounts bestimmen. Wichtigstes Medium ist die NZZ, gefolgt vom Tagesanzeiger, Waston und SRFnews. Wichtigste PolitikerInen sind Balthasar Glättli, Bastien Girod und Jay Badran. Unter den Parteien rangiert sie SP an erster Stelle. Bei den Kulturschaffenden ist es Viktor Giaccobo. Das sagt noch nichts darüber aus, wer das Potenzial an Beziehungen effektiv auch intensiv nutzt. Es zeigt aber, wer am meisten Chancen hat, dass seine Botschaften bei den relevanten Zielgruppen ankommen.

Tabelle: Accounts mit grösstem Potenzial, sortiert nach Followerzahlen im Ausstiegs-Newsroom
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Eigenschaften der Cluster
Die zentralen Adressen in einem Modul sind nicht zwingend identisch mit den zentralsten überhaupt. In der Regel finden sie sich im räumlichen Zentrum des jeweiligen Clusters und haben viele Follower. Wer im Grenzbereich von mehr als einem Cluster erscheint, zeigt Nähe zu verschiedenen Gruppen, kann also Uebersetzungshilfen zwischen Sprchregionen oder Weltanschauungen leisten.
Typisch für die geringe Bipolarisierung der Twitteria in der Schweiz ist die Gruppe der GLP-Twitterer. Sie kennen unter sich eine ausserordentlich hohe Vernetzung. So erhöhen sie ihre Schlagkraft. Darüber hinaus finden sich Kontakte zum bürgerlichen Cluster, aber auch zum linksliberalen Netzwerk. Ganz speziell sind die Energiefachleute. Sie sind räumlich weit verstreut. Trotzdem folgen sie einander verstärkt. Man könnte das auch Konkurrenzbeobachtung nennen. Aussenbeziehungen ergeben sich zudem in beide relevanten Sprachcluster. Schliesslich finden sich eine Nähe zu verschiedenen weltanschaulichen Clustern, namentlich zum bürgerlichen, aber auch zum grünen.

Fazit
Mit dem für die Schweiz neuen Instrument kann man die abstimmungspolitischen Diskurshintergründe auf einer neuen Stufe überblicken, verfolgen und analysieren. Ersichtlich werden aber auch die Eigenheiten der hiesigen Polit-Twittersphäre. Sie ist nicht einfach polarisiert, sondern pluralistisch. Echokammern gibt es innerhalb von mindestens sechs Kammern. Doch kennt die Schweizer SoMe-Welt auch vermittelnde Adressen, sei es aufgrund ihrer Popularität, oder wegen ihrer Fachposition. Speziell ist auch die Position der GLP-Twitter.
Klar erinnert sei, dass hier Beziehungen der Adressen zueinander untersucht wurden. Die generelle Hypothese dahinter ist, dass man sich mit verwandten Menschen und Organisationen am ehesten verbindet. Deshalb entstehen durchaus bekannte Cluster. Im Einzelfall kann es aber sein, dass überparteiliche, lokale oder taktische Followerstrukturen Einfluss auf die Positionierung haben.

Claude Longchamp

PS: Die technische Durchführung der Untersuchung oblag Luca Hammer (twitter-account: @luca), einem ausländischen Experten mit Unianstellung. Das garantierte Qualität und Unabhängigkeit. Gefreut hat mich, dass mein eigener Account auf diese Weise als vernetztester in der Twittersphäre zur Ausstiegsdiskussion ermittelt wurde.

Worüber wir am 27. November 2016 entscheiden: die Atomausstiegsinitiative

Das Parlament hat mit den heutigen Schlussabstimmungen das erste Massnahmenpaket zur Energiewende beschlossen. Damit ist die Ausgangslage für die Atomausstiegsinitiative klar: Sie will, anders als das Parlament, die Laufzeiten für die bestehenden Kernkraftwerke beschränken – und zwar auf 45 Jahre. Was weiss man heute schon zur Abstimmungen, die am 27. November 2016 erfolgt?

Die Vorlage
Inhaltlich fordert die Atomausstiegsinitiative das Betriebsverbot für AKW und maximale Laufzeiten von 45 Jahren für bestehende AKW; wenn es die Sicherheit verlangt, müssen AKW auch schon früher abgeschaltet werden. Darüber hinaus fordert die Atomausstiegs-Initiative eine Energiewende, die auf Einsparungen, Energieeffizienz und dem Ausbau der erneuerbaren Energien basiert.
Lanciert wurde die Atomausstiegsinitiative nach dem Unfall im Kernkraftwerk Fukushima 2011. Heute wird die Initiative der Grünen von einer breiten Allianz unterstützt, so von mehreren Umweltverbänden (Pro Natura, Greenpeace, VCS, SSES, WWF), verschiedenen Parteien (SP, EVP, CSP, JUSO, GLP), Anti-AKW Organisationen (ContreAtom, sortir du nucléaire) und Gewerkschaftsorganisationen (SGB, UNIA, VPOD).

Bisherige Atomabstimmungen
Unfälle in Atomkraftwerken haben Volksabstimmungen zur Kernenergie regelmässig beeinflusst. Den Anfang machte jener in Three Mile Island (USA, 1979). Es folgten Tschernobyl (Ukraine 1986) und Fukushima (Japan 2011). Die nachstehende Grafik zeigt die Unterstützung entsprechender Volksinitiativen, wobei zwischen eigentlichen Ausstiegsvorlagen und weiteren unterschieden wird (Moratorium, demokratische Mitsprache).

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Der Höhepunkt der Unterstützung war 1990 mit der angenommenen Moratoriumsinitiative (54 Prozent Ja). Die gleichzeitig zur Entscheidung vorgelegte Ausstiegsinitiative erreichte 47 Prozent Zustimmung. Der Support war vorher etwas geringer, nachher eindeutig. Das spricht dafür, dass der Zyklus für politische Forderungen nach Kurskorrekturen zeitlich auf einige Jahre beschränkt ist.
Dafür sprechen Wahlergebnisse. Tschernobyl brachte 1987 den Grünen einen Wahlsieg und Fukushima beförderte die Grünliberalen 2011. Bei den Grünen wiederholte sich der Aufschwung 1991 nochmals, danach jedoch nicht mehr, bei den Grünliberalen wurde bereits 2015 ein Rückgang sichtbar.
In die gleiche Richtung verweisen Umfragen vor und nach Fukushima. Bedenken wegen den Risiken von Kernkraftwerken hatten 2011 69 Prozent. Das waren 16 Prozentpunkte mehr als im Jahr vor dem Unfall. Schon 2012 begann der Wert wieder zu sinken, wenn er auch über den Werten vor Fukushima blieb. Gegenläufig waren die Trends in den Sprachregionen, denn der Effekt verpuffte vor allem in der deutschsprachigen Schweiz. Von Dauer erweist sich demgegenüber die positive Meinung zu erneuerbaren Energiequellen.

Die parlamentarische Beratung der Ausstiegsinitiative

Bundesrat und Parlament lehnen die Ausstiegsinitiative der Grünen ab. Sie bevorzugen die von ihnen beschlossene Energiewende.
Im Nationalrat scheiterte die Vorlage mit 134 zu 59 Stimmen bei 2 namentlichen Enthaltungen. Im Ständerat wurde das Geschäft mit 32 zu 13 Stimmen verworfen. Vorherrschend war in beiden Kammern die Polarisierung zwischen den bürgerlichen Parteien auf der Nein-Seite und dem rotgrünen Lager im Ja. Verstärkt wurde dies durch GLP und EVP, nicht aber durch die CVP. Zentral ist damit der ökologisch bestimmte Links/Rechts-Konflikt.
Für die kommende Volksabstimmung haben sich die Parteien analog positioniert.
-Befürwortende Parteien GPS, GLP, EVP (SP)
-Ablehnende Parteien (SVP, FDP, BDP, CVP)
Bemerkung: Angaben in Klammern beziehen sich auf die Mehrheitsentscheidungen im Parlament und sind keine direkten Parteiparolen.
Quelle: Parteienwebseiten, Stand: Ende September 2016
Eine Extrapolation der Ergebnisse in den Schlussabstimmungen beider Kammern legt bei normaler Meinungsbildung einen Nein-Anteil von 59 bis 62 Prozent nahe. Diese Schätzung basiert auf der Annahme, dass gegenüber den bisherigen Atomabstimmungen nichts Ausserordentliches geschieht, namentlich nicht im Abstimmungskampf.
Die gleiche Methode legt übrigens nahe, bei einem Referendum gegen die Energiewende von einer Zustimmungsmehrheit von 54 bis 58 Prozent auszugehen. Angenommen wird auch hier, dass sich die parlamentarischen Mehrheiten im üblichen Masse in der Volksabstimmung übersetzen.

Der bisherige Abstimmungskampf
Der Abstimmungskampf zur Ausstiegsinitiative hat eben erst eingesetzt. Bisherige Kernfrage ist die zeitliche Befristung des Ausstiegs. Die Initianten halten das für nötig, damit die Energiewende klappt. In ihren Argumentarien bezeichnen sie ihr Vorgehen als geordnet; die schnelle Gangart ist angesichts des teilweise hohen Alters von Kernkraftwerken zwingend. Die Versorgungssicherheit sehen sie nicht gefährdet, denn bisher konnte jeder Ausfall eines Kernkraftwerkes kompensiert werden.
Ihre Widersacher halten das für übertrieben. Sie pochen auf eine Entschädigung der Eigner durch die öffentliche Hand, was den Steuerzahler teuer zu stehen kommen würde. Zudem sehen sie Versorgungslücken auf die Schweiz zukommen, die mit dem Import von ausländischem Strom kompensiert werden müssten.

Ausblick: Was noch kommt
Zu erwarten ist, dass es zu einer eigentlichen Fortsetzung des Abstimmungskampfes zur Initiative für eine grüne Wirtschaft kommt. Die Fronten im Parlament waren weitgehend identisch. Das trifft auch auf die Positionierung der Parteien anhand ihrer Parolen zu. Dabei zeichnete sich ein bekanntes Muster der Meinungsbildung ab: Grünrote Vorlagen im Ökologiebereich starten vergleichsweise gut, die Ablehnung wächst jedoch mit dem Abstimmungskampf und es sinkt gleichzeitig die Zustimmung. Hauptgrund ist hier, dass die Problematisierung einer Volksinitiative fürs Publikum erst mit dem Abstimmungskampf nach der Parlamentsentscheidung einsetzt.
Da es an publizierten Umfragen mangelt, kennt man den Startpunkt nicht. Ohne detaillierte Kenntnisse der beiden Kampagnen kann auch das Mass der Entwicklung nicht vorausgesagt werden.
Den Ausgang der Entscheidung stufen wir vorerst als offen ein.

Claude Longchamp

Der Parolenspiegel als Prognose-Instrument bei Volksabstimmungen

Abstimmungsparolen sind ein guter Indikator für den politischen Konflikt vor einer Abstimmung. Ohne Elite/Basis-Konflikte sind sie auch ein einfacher, aber nützlicher Indikator der Abstimmungsprognose.

In der laufenden Legislatur stimmte die Parole von FDP und BDP in neun von neun Fällen mit dem Abstimmungsergebnis überein (siehe Tabelle 1). Es folgen CVP und GLP mit jeweils acht Treffern.

Tabelle 1:
Kurz- und langfristige Uebereinstimmungen von Volksmehrheiten und Abstimmungsparolen der Parteien

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Es bestätigt sich: Die liberalen, zentrierten Bürgerlichen geben seit den Wahlen 2015 klar den Ton an. Weniger geeignet, um vorherzusehen, was am Abstimmungstag geschieht, sind die Parolen von GPS, SP sowie EVP auf der einen und der SVP auf der anderen Seite. Sie nahmen aus Bevölkerungssicht in mehreren Fällen zu pointiert links oder rechts Stellung.
Natürlich ist die Fallzahl an Abstimmungen seit den letzten Wahlen etwas gering. Geschildertes könnte auch Zufall sein. Stellt man statt auf die kurzfristige Wahrscheinlichkeit der Uebereinstimmung von Parteiparolen und Resultaten in Volksabstimmungen ab, rangieren BDP, CVP und GLP vor der FDP. Es nimmt vor allem die Bedeutung der SVP-Empfehlung zu, die anfangs 2016 mit ihren Positionierungen ein unübliches Tief kannte.
Stellt man im Wissen um die genannten Zusammenhänge auf die aktuellen Parteiparolen ab, erscheinen zwei Nein bei den Volksinitiativen und ein Ja bei der Behördenvorlage als plausibelste Szenarien fürs Abstimmungswochenende. Ausnahmen sind möglich, aber mit einer Wahrscheinlichkeit von unter 20 Prozent.
Die Parolen FDP, CVP und BDP stützen dies vollumfänglich. Hinzu kommt der langfristige Werte der SVP-Parole. Etwas Unsicherheit bringen alleine die GLP-Parolen ins Spiel: Bei der AHV stramm bürgerlich, beim Nachrichtendienstgesetz zwischendrin, steht die Partei bei der Grünen Wirtschaft auf der rotgrünen Seite. Ganz abweichend sind in den aktuellen Konflikten die SP und die GPS; teils anders erscheint auch die EVP. Doch sind die Scores ihres Parolenspiegels kurz- und langfristig nicht ausschlaggebend.

Nimmt man zudem die SRG-Umfragen zu Hilfe, verstärkt sich der erste Eindruck (siehe Tabelle 2). Entscheidend sind nicht einmal die aktuellen Messwerte und Trends; vielmehr stellen wir hier auf das parteipolitische Konfliktmuster insgesamt ab.

Tabelle 2:
Parolenübereinstimmung nach Parteien und Vorlage gemäss SRG-Befragung, 2. Welle

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Nur bei der CVP erscheint in Sachen Grüne Wirtschaft umfrageseitig ein Elite/Basis-Konflikt möglich. Letztlich ist das für die Nein-Seite zu dieser Vorlage symptomatisch, denn ihre Geschlossenheit lag in der dritten Woche vor der Abstimmung bei 49 Prozent und war damit deutlicher geringer als jene der Ja-Seite. Der Trend spricht aber für einen Meinungsaufbau hin zum Nein, ganz gemäss Parolenspiegel. Bei der AHVplus-Initiative ist die mittlere Parolenunterstützung links wie rechts gleich, beim Nachrichtendienstgesetz im zustimmenden Lager höher als im ablehnenden. Das spricht gegen Überraschungen.
Oder anders gesagt: Minimale Zweifel, dass es zu relevanten Abweichungen vom Parolenspiegel kommt, gibt es bei der Initiative Grüne Wirtschaft. Signale sind vorhanden, auch wenn sie mit dem Trend schwächer werden. Bei den beiden anderen Vorlagen realisieren sich die Parolen mehrheitlich, was für ihre Prognosekraft spricht.

Fazit: Parolenspiegel und Parolenkonformität der Stimmabsichten nach Parteiwählerschaften legen für das kommende Abstimmungswochenende einen Normalfall mit zwei Nein zu Volksinitiativen und einem Ja zur Behördenvorlage nahe.

Claude Longchamp

Das politische System der Schweiz von Adrian Vatter in der überarbeiteten Zweitauflage.

Gerade rechtzeitig auf den Semesterbeginn erscheint Adrian Vatters Buch «Das politische System der Schweiz» in der zweiten Auflage. Was ist neu, und was blieb zurecht gleich? Eine kurze Würdigung.

Erstmals erschien das Buch im Dezember 2013. Vielerorts wurde es gelobt, so auch hier. Seither wurde es mehrfach unverändert nachgedruckt. Im neuen Vorwort schreibt Autor Vatter, Ereignisse wie die Volksabstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative, aber auch die Wahlen ins Parlament und Regierung 2015 hätte eine gewisse Neubeurteilung nötig gemacht, zumal sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem politischen System der Schweiz im Innern wie im Vergleich schnell weiterentwickle.

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Wer das Buch in der Lehre einsetzt, bekommt neu am Ende eines jeden der zwölf Kapitel «Fragen» vorgesetzt. Sie dienen der Repetition des Stoffes. Angesichts der Länge von durchschnittlich 50 Seiten pro Buchteil ist das durchaus sinnvoll.
Wer sich über den Forschungsstand zur Konsensdemokratie orientieren möchte, findet beispielsweise neu nebenstehende Grafik. Sie zeichnet erstmals in Epochen nach, wie sich die Schweiz auf den zwei Dimensionen der Demokratie-Karte nach 1848 entwickelt hat
Und wer das Buch als praktisch Interessierter nutzen will, verdankt es Autor und Verlag, dass zahlreiche der teils schlecht lesbaren Ländervergleich und Trendgrafiken diesmal deutlich verbessert wurden.
Zurecht belassen hat der Autor die Grundstruktur des Buches. Sie baut auf einer eigenen Interpretation der Dimensionen von Arend Lijphart auf, anhand derer er Konsensdemokratien wie die Schweiz von Mehrheitsdemokratien wie Grossbritannien unterschied. Damit wurde nicht nur eine neue Suche nach Demokratiemustern eingeleitet; es wurde eine für die Schweiz brauchbare(re) Typologie geschaffen. Unverändert fehlt bei Vatter die detaillierte Analyse der Stellung der Nationalbank, gemäss Lijphart unverzichtbar, dafür wird die direkte Demokratie ausführlich gewürdigt, die bei Lijphart ganz fehlt. Damit wird die grösste Schwäche dieses Ansatzes aus der international vergleichenden Forschung bei Vatter getilgt.
Den 10 Hauptkapiteln zu den Eigenheiten der Konsensdemokratie der Schweiz ist eines zur Einleitung vorangestellt. Ein Kapitel zum internationalen Vergleich rundet die Ausführungen ab. Ausgeweitet hat Vatter mit der Neuauflage eben diesen Vergleich, indem Material zu 24 Ländern systematisch ausgebreitet wird. Verbessert wurde insbesondere auch die Positionierung der Parteien (im dreidimensionalen Konfliktraum). An der Gesamtbewertung der Schweiz als Normalfall einer Konsensdemokratie mit schwindendem Elitekonsens, aber institutionellen Zwängen zur Kooperation ändert dies kaum etwas, das Anschauungsmaterial im Einzelnen ist aber griffiger geworden.
Aus meiner Sicht besteht der grösste Wert der zweiten Auflage in der Aufdatierung der Zeitreihen. Wo immer es machbar war, kam man so ausgesprochen handlich auf Daten für 2015, ausnahmsweise sogar für 2016 zurückgreifen. Das ist wunderbar, denn bisher endete das Meiste 2012/13. Natürlich wird auch das in zwei, drei Jahren veraltet wirken. Das wirft die Frage auf, wie das Buch, das als Standortbestimmung, Lehrbuch und Nachschlagewerk gleichzeitig geschaffen worden ist, noch nützlicher gemacht werden kann. Letztlich steht es vor der Herausforderung der Digitalisierung. Vorgeschlagen sei eine online-Plattform mit den Zeitreihen in Form von Grafiken, die aber auch als Datensammlung nachschlagbar sind, die ohne den Aufwand einer Neuauflage jährlich nachgeführt werden könnte. Neben den rasch wachsendenden Angeboten im Internet zum politischen System der Schweiz, denen es sowohl an Koordination wie auch Kohärenz mangelt, wäre dies ein Gewinn, nicht nur für das Referenzwerk zum politischen System der Schweiz, sondern auch für die datenjournalistische Verwendung der zahllosen Fakten, die für dieses Buch gesammelt wurden und denen eine noch breitere Verwendung gut anstehen würde.

Claude Longchamp

Was vor dem 25. September 2016 noch alles geschehen kann.

Erstmals veröffentlichen wir nicht nur Messwerte zu den aktuellen Stimmabsichten, sondern leisten wir auch Trendextrapolationen bis zum Abstimmungstag.

Das gehört zu unserem Standardangebot: Bei der ersten Welle publizieren wir den aktuellen Stand bei den Stimmabsichten. Mit der zweiten Welle kommen Trends hinzu. Das Ganze rahmen wir mit den Entwicklungen der Meinungsbildung, die wir aus der Erfahrung kennen. Im besten Fall gibt sich daraus ein eindeutiges Szenario, sonst halt deren zwei.

Nun haben wir all unsere Befragungen für die SRG seit 2008 einer systematischen Nachanalyse unterzogen. Zielsetzung war es, aus den Trends qualitative und quantitative Schlüsse zum Endergebnis ziehen zu können. Damit soll deutlich gemacht werden, dass Momentaufnahmen, Trends und Prognosen dreierlei sind und man nicht das eine für das andere verwenden kann.

Unsere Bilanz der Re-Analyse lautete:

  • In qualitativen Hinsicht verbessern sich die Aussagen. In mindestens 95 Prozent der Fälle erkennt man mit der Extrapolation die richtige Mehrheit. Mit anderen Worten: Bei 20 Abstimmungen verschätzt man sich einmal, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
  • In quantitativer Hinsicht gibt es etwas mehr Probleme. Die Abweichungen zum Endergebnis verringern sich zwar im Vergleich zu Differenzberechnungen basierend auf der zweiten Welle. Sie bleiben aber. Sachlich gesehen hat dass damit zu tun, dass niemand genau weiss, was in den letzten 2 Wochen vor dem Abstimmungstag mit der Mobilisierung beider Lager und last minute-Entscheidungen geschieht.

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Technischer gesprochen kommt es auch darauf an, welchen Trend man extrapoliert: nur auf die Entwicklung im Ja, nur auf jene im Nein, oder auf einen Mix. Letzteres ist der Schlüssel zur Optimierung. Die bisher genaueste Extrapolation entsteht, wenn man die Nein-Trends doppelt gewichtet. Ein zweites Problem ergibt sich, wenn mehr als ein Szenario möglich ist. Das gibt es nicht nur eine optimierte Extrapolation, sondern mindestens zwei, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können.

Bei der aktuellen Befragung bedeutet dies: Die Momentaufnahme bei der Grünen Wirtschaft steht bei 51 Prozent bestimmt und eher dafür, 38 Prozent bestimmt und eher dagegen. Die Gegnerschaft holt aber rasant auf, +14 Prozent im Nein und -10 Prozent im Ja seit der ersten Befragung. Extrapoliert man Stand und Trend auf den Abstimmungstag, ist ein eine Nein-Mehrheit wahrscheinlicher als das Gegenteil. Trotz dem aktuellen Stand mit einem Ja-Vorteil.

Die gleichen Überlegungen führen für bei der AHV-Initiative zu einem sicheren Nein.

Am schwierigsten ist die Hochrechnung beim Nachrichtendienstgesetz. Hauptgrund ist hier, dass es keinen eindeutigen und auch bekannten Trend gibt. Im Normalfall resultiert ein Ja. Allerdings ist der Schwankungsbereich hier grösser als bei den anderen Vorlagen. Im wenig wahrscheinlichen, aber nicht ausschliessbaren Fall würde gar die Zustimmungsmehrheit knapp kippen.

Keine Aussagen lassen sich auf dieser Basis zum Ständemehr machen. Das wäre bei den beiden Volksinitiativen nötig, für den Fall, dass es zu einem Volksmehrs kommen würde.

 

Mehr Profil, mehr Führung und mehr Gewicht in Kontroversen. Gründe für geschlossenere Parteien

Schweiz am Sonntag hat den neu gewählten Nationalrat dargestellt. Die Daten stammen von smartvote, die gehen die Namensabstimmungen wieder. Die Befunde zur Links/Rechts-Positionierung der VolksvertreterInnen und eine Analysen aus meiner Warte.

Was neuerdings auffällt
Zuerst das Faktische: Die grössten Unterschiede unter den NationalrätInnen resultieren zwischen Erich Hess (SVP/BE) und Angelo Barrile (SP/ZH). Beide wurden 2015 neu Nationalrat. Der erste stimmt in der kleinen Kammer seither ganz rechts, der zweite ganz links. Spannender noch sind die neuen Position der Parteien: Die SVP steht ganz rechts, gefolgt von den Vertretern der Lega und des MCG. Danach reihen sich die NationalrätInnen der FDP/Liberalen ein, jene der BDP, der CVP, der GLP und der EVP, während die VolksvertreterInnen von GPS und SP das linke Spektrum abdecken.

Positionen der Parteien auf Links/Rechts-Achse im neuen Nationalrat
positionen
Lesebeispiel: E. Hess ist der rechteste SVP-Nationalrat, A. Aebi der am wenigsten rechts stehende. Gemäss Auswertung mit W-Nominate beträgt die Differenz 0.32. Berücksichtigt wurden 64 SVP-Volksvertreter. Auswertungen ohne PdA (nur 1 Vertreter) und ohne Ch. Markwalder, die als NRP nicht stimmt. Grafik anclicken, um sie zu vergrössern
Quelle: Schweiz am Sonntag, eigene Darstellung

Dann die Würdigungen: Die GPS-NationalrätInnen stimmen fast durchwegs rechts der SP. Einzig die Thurgauerin Edith Graf-Litscher wäre mit ihrer Stimmabgabe in der grünen Fraktion gut aufgehoben. So klar war das bisher nicht. Sodann klafft eine Lücke zwischen EVP- und CVP-VertreterInnen. Jene votieren klar linker, sogar links der GLP, diese rechter, ausnahmslos rechts der glp. Schliesslich ist die BDP die letzte Fraktion, die ihren Standort noch nicht klar umreissen kann. Rosemarie Quadranti könnte im linken Flügel der CVP politisieren, Hans Grunder und Urs Gasche irgendwo am rechten Rand der FDP.
Das Auffälligste für mich an der neuen Auswertung von Namensabstimmungen ist jedoch die Geschlossenheit der ParteivertreterInnen. Das gilt allen voran für die GLP, EVP, Lega/MCG klar deutlicher als für BDP und GPS. Bei den mittelgrossen Parteien liegt die FDP etwas vor der CVP. An den Polen ist Einheit geringer, bei der SVP noch mehr als bei der SP.

Drei Ursachen
Trendanalysen mit anderen Masszahlen (dem Rice-Index) zeigen, dass die Geschlossenheit der Fraktion seit längerem zunimmt. Trendsetter war hier die SP, die seit den 90er Jahren Abweichungen zu verhindern sucht. Es folgten die GPS und die FDP. Bei der SVP und der CVP variiert die Einheit, aber ohne ersichtlichen zeitlichen Trend.
Drei Erklärungen helfen, die skizzierten Entwicklungen einzuordnen:
1. Erstens hat die Medialisierung der Parlamentsarbeit weiter zugenommen. Den Massenmedien gefällt es, wenn politische Parteien ParlamentarierInnen haben, die ihre Meinung direkt zum Ausdruck bringen. Denn so können sie mit den Formationen spielen. Den Fraktionen passt das viel weniger, schadet es doch der klar wahrnehmbaren, öffentlichen Profilierung. Entsprechend haben sie den Druck auf PolitikerInnen mit parteifremden Standpunkten erhöht. Teils gilt das generell, teils wenigstens in den Kerngeschäften.
2. Das hat, zweitens, mit der Professionalisierung der Führungen von Parteien und Fraktionen zu tun, sei es durch die jeweiligen Personen, vor allem aber auch via Parteisekretariate. Sie spuren die Positionierung ihrer VertreterInnen im Parlament neuerdings mit früh erarbeiteten Papier vermehrt vor, und sie setzen sie auch verstärkt durch. Die Vermittlung oder Verhinderung von Auftritten in populären Massenmedien gehört zu den intensiver genutzten Instrumenten. Nur bei den Polparteien gibt es unverändert Ausnahmen, um Positionen abzudecken, die sich linke resp. rechte Konkurrenz aneignen könnte.
3. Der dritte Grund für Geschlossenheit ergibt sich aus der Grösse der Parteien in der Schweiz. Keine kann davon ausgehen, selber eine Mehrheit bilden zu können. Im Ständerat führt dies unverändert zur Suche von persönlich geschmiedeten Kompromissen über Parteigrenzen hinweg. Ganz anders funktioniert der Nationalrat. Angesichts der viel höheren Ausrichtung an Parteimeinungen macht es hier Sinn, das eigene Gewicht in der Mehrheitsfindung durch Blockbildung zu erhöhen.

Teil der Abkehr vom Konkordanzverhalten
Die gelisteten Ursachen sind eine Folge der Polarisierung der Parteipolitik, welche heute namentlich die Arbeit des Nationalrates bestimmt. Sie begann in den 90er Jahren und mit ihr hat sich die grosse Kammer Schritt für Schritt vom Konkordanzmuster entfernt. Konkurrenz zwischen den Parteien mit grundsätzlich verschiedenen Auffassungen, aber auch bei vergleichbaren Position aufgrund des Anspruchs an Themenführung bestimmt das Verhalten der Parteien resp. Fraktionen heute. Stefanie Bailer, Basler Politologin, welche die Professionalisierung der Partei- und Parlamentsarbeit in der Schweiz im europäischen Vergleich untersucht hat, spricht von Verhältnissen, die heute denen in polarisierten Regierungs- und Oppositionssystem durchaus ähnlich sind. Das deckt sich bestens mit dem Urteil des Berner Politologen Adrian Vatter, der das Verhalten im Nationalrats mit dem in einer Konkordanzdemokratie für unvereinbar hält.

Claude Longchamp

Forschungsseminar im HS 2016: Social Media in Wahl- und Abstimmungskämpfen der Schweiz

Vor den Sommerferien noch ein Hinweise auf mein Forschungsseminar an der Uni Bern zur politischen Kommunikation im hybriden Mediensystem der Schweiz.

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Bildquelle: politan.ch

Andrew Chadwick, Londoner Professor für Politikwissenschaft und Kommunikationsforschung, prägte mit seinem gleichnamigen, mehrfach ausgezeichneten Buch den Begriff des “hybriden Mediensystems”. Gemeint ist damit, dass das alte Mediensystem mit Presse, TV und Radio nicht mehr alleine, aber auch nicht ganz verschwunden ist, während das neue Mediensystem mit sozialen Medien aufgekommen, aber nicht dominant geworden ist. Beide haben verschiedene Logiken: Die Top-down-Kommunikation bestimmt das alte System, die bottom up-Kommunikation das neue. Altes und Neues steht nicht einfach nebeneinander, sondern interagiert beispielsweise im buzzfeed-Journalismus wenigstens bisweilen miteinander und bildet so das hybride Mediensystem der Gegenwart.
Genau diese These steht am Anfang meines Forschungsseminars im Herbstsemester 2016, das ich am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern halten werde. Angewendet werden soll sie auf Wahlen und Abstimmungen in der Schweiz. Der genaue Titel verrät etwas mehr: “Digitale Revolution in der politischen Kommunikation – social media in Wahl- und Abstimmungskämpfen.”
Die Einschätzungen unter ExpertInnen zum genannten Thema schwanken stark: Die einen sehen darin unwiderruflich die Zukunft – andere orten einmal mehr eine Medienhype, fern ab von Nutzungszahlen.
Unser Vorgehen soll solche Polarisierungen überwinden helfen, indem wir uns dem Wandel der politischen Kampagnenkommunikation empirisch nähern. Zentrale Fragestellung ist, was sich in der politischen Kommunikation von und zu Parteien, Personen, aber auch über Sachfragen ändert, seit soziale Medien in wachsendem Masse auch in der Politik zur Anwendung kommen.
Mögliche Forschungsthemen sind die Nutzung sozialer Medien durch die Politikerinnen und Parteien, der Einfluss neuer auf alter Medien, Fallstudien zu den Wirkungen sozialer Medien auf die Kommunikation, Mobilisierungseffekte neuer Kampagnen auf die Wahl von Personen oder die Beteiligung an Abstimmungen und vieles andere mehr.
Studierende werden sich aktiv am Erwerb des Forschungsstandes beteiligen, in kleinen Teams eine Forschungsarbeit auswählen, konzipieren und realisieren. Damit sollen sie zeigen, dass sie eine empirische Arbeit verfassen können. Es wird aber auch anvisiert, den bisher eher bescheidenen Wissensstand zum Thema klar zu erweitern. Schliesslich bin ich wie immer bestrebt, eine Brücke zwischen Theorie und Empirie einerseits, Grundlagen- und Anwendungsforschung anderseits zu schlagen.
Vier PraktikerInnen werden uns im Verlaufe des Seminars Einblick in ihre Arbeit geben: Laura Curau von CVP zum Einsatz sozialer Medien im Wahlkampf, Matthias Leitner von der FDP zum Potenzial sozialer Medien in der Parteiarbeit generell, Flavia Kleiner von der operation libero zur Bedeutung von Facebook, Twitter und youtube in der Kampagne gegen die Durchsetzungsinitiative und Dani Graf zum elektronischen Sammeln von Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden.
Die studentischen Forschungsarbeiten werden in einem Workshop im Februar 2017 präsentiert werden, an dem die externen Experten dabei sein werden und ich die fachliche Beurteilung machen werde.
Interessierte haben ein Bachelorstudium in Sozialwissenschaften hinter sich, sind idealerweise an der Universität Bern im Master “Schweizerische und vergleichende Politik” eingeschrieben, kennen sich in Fragen der politischen Kommunikation einigermassen gut aus, nutzen soziale Medien und sind bereit, in einem noch weitgehend offenen Forschungsfeld einen Teil der grundlegenden Forschung zu leisten, welche die Praxis in den kommenden Jahren beeinflussen soll.
Bin gespannt, was daraus wird!

Claude Longchamp

Worüber wir am 25. September 2016 abstimmen (3): das Nachrichtendienstgesetz in der politikwissenschaftlichen Analyse

Gegen das revidierte Nachrichtendienstgesetz ist erfolgreich das Referendum ergriffen worden. Schutz der Bevölkerung beispielsweise vor Terrorismus resp. der Privatsphäre stehen sich in der Debatte diametral gegenüber. Noch zeichnet sich nicht ab, wo die Mehrheiten sind. Der Abstimmungskampf hat aber erst jetzt begonnen.

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Die generelle These des Dispositionsansatzes lautet: Abstimmungsergebnisse stehen nicht ein für allem Male fest. Vielmehr entwickelt sie sich in einem politischen Klima, aufgrund der Positionen der meinungsbildenden Kräfte, dem Abstimmungskampf und den Alltagserfahrungen der Bürgerinnen. Im Normalfall kommt es im Abstimmungskampf zu einer Anpassung der Mehrheit der Stimmenden an die der Behörden.
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Das Anliegen
Mit dem revidierten Gesetz soll der Nachrichtendienst des Bundes Telefone abhören, Privaträume verwanzen und in Computer eindringen können. Auch wäre ihm erlaubt, grenzüberschreitende Signale aus Datenübertragungskabeln zu erfassen. Wer bestimmte Begriffe googelt oder in E-Mails erwähnt, könnte ebenso ins Visier der Behörden geraten.
Mi dieser Begründung sammelte das «Bündnis gegen den Schnüffelstaat», eine Allianz aus JUSO, GPS, Piratenpartei und Alternativer Liste, erweitert durch Organisationen wie die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee, die Digitale Gesellschaft oder Grundrechte.ch. in nützlicher Frist die nötigen Unterschriften. 56’055 Unterschriften davon waren gültig, sodass es zur Volksabstimmung kommt.
Bei der Einreichung der Unterschriften warnte Fabio Molina, damals noch Juso-Präsident, vor einer Totalüberwachung. Der Nachrichtendienst dürfe auf keinen Fall mehr Kompetenzen erhalten. Beklagt wurde die Missachtung des Rechtsstaates. Das sei eine grosse Gefahr für eine pluralistische Demokratie.

Das politische Klima
Das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen in staatliche Institutionen ist mehrheitlich gegeben. Das gilt auch für Gerichte, Regierungen und Parlamente. Es trifft aber auch auf die Polizei zu.
Das meint nicht, dass es keine Skepsis gegenüber dem Handeln insbesondere der Verwaltung gibt. Diese trifft zum Beispiel den Nachrichtendienst, dessen Arbeit mangels genügender Kontrolle oder wegen geringer Effizienz periodisch in Frage gestellt wird.
Aktuell stehen gleich zwei Gesetzesrevision unter scharfer Beobachtung. Das Nachrichtendienstgesetz, über das am 25. September abgestimmt wird, und das Bundesgesetz zur Ueberwachung von Post und Telefon, zu dem die Referendumsunterschriften noch gesammelt werden. Berichtet wird hier nur über das Nachrichtendienstgesetz.

Die parlamentarische Beratung
Die Befürworter des neuen Nachrichtendienstgesetzes (NDG) bejahten während der parlamentarischen Beratung den Auftrag zur umfassenden Lagebeurteilung durch den Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Das Gesetz verschaffe dem NDB bessere Möglichkeiten zur Früherkennung und zum Schutz der Schweiz und ihrer Bevölkerung. Die im NDG vorgesehenen neuen Mittel zur Informationsbeschaffung sind nur dann zulässig, wenn sie zuvor durch drei Instanzen bewilligt worden sind: Bundesverwaltungsgericht, Sicherheitsausschuss des Bundesrates und Chef VBS. Der vermehrte Schutz gegen Terroristen gehört zu den zentral vorgebrachten Argumenten.
Am 17. März 2015 befürwortete der Nationalrat das Geschäft ursprünglich mit 119 zu 65 Stimmen bei 5 Enthaltungen. Am 17. Juni folgte der Ständerat mit 32 zu 5 Stimmen bei 2 Enthaltungen – allerdings mit Differenzen. Nach der Differenzbereinigung, bei der sich die Position des Ständerats mehrheitlich durch setzte, haben beide Räte das Gesetz am 25. September 2015 verabschiedet. Das Ergebnis der Schlussabstimmung im Nationalrat lautete 145 Ja zu 41 Nein bei 8 Enthaltungen. Im Ständerat passierte die finale Fassung mit 35 Ja und 5 Nein; 3 Kantonsvertreter übten Enthaltung.
Gegen das Gesetz waren in der parlamentarischen Beratung die Grünen, während sich die SP gespalten zeigte. Befürwortet wurde das neue NDG durch die bürgerlichen Fraktionen. Bei der SVP und der GLP gab es prominente Abweichungen. Ende 2015 schloss sich die SP-Delegiertenversammlung mit 102 zu 62 stimmen dem Referendum an. In der Fraktion hatte rund eine Drittel für die Vorlage gestimmt.
Bis jetzt haben die folgenden Parteien eine Parole gefasst:
Ja: FDP, EVP (SVP, CVP, BDP)
Nein: SP, GPS
Stimmfreigabe: GLP
Positionierungen von Parteien in Klammern erfolgt aufgrund der Mehrheiten in der Schlussabstimmung im Nationalrat.

Typologie der Meinungsbildung
Umfragen zum Nachrichtendienstgesetz sind nicht bekannt. Generell kann man davon ausgehen, dass Prädispositionen bestehen, denn die Thematik berührt sensible und alltagsrelevante Bereiche. Man jedoch nur spekulieren, wie sie verteilt sind. Das gilt auch für die vorläufige Stimmabsichten.
Ohne weitere Abklärungen gehen wir davon ausgegangen, dass die Meinungen gespalten und nicht abschliessend gemacht sind. Das spricht für eine nicht-vorbestimmt Entscheidung mit recht offenem Ausgang.

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In der Regel bauen in einem Abstimmungskampf zu einer Behördenvorlage beide Seiten ihr Lager zulasten der Unschlüssigen auf. Das Mass der Ja- und Nein-Veränderung hängt von der Stärke der Kampagnen ab. Nur wenn es zu einer eigentlichen Protestbewegung kommt, kennt man auch Bewegungen vom Ja- ins Nein-Lager.
Allenfalls handelt es sich aufgrund der Positionierung der bürgerlichen Parteien um eine positiv vorbestimmte Entscheidung. Unter dieser Bedingung verbessern sich die Chancen einer Annahme in der Volksabstimmung, sofern es nicht zur genannten Protestbewegung während des Abstimmungskampfes kommt.

Bisheriger Abstimmungskampf
Das Bündnis gegen den Schnüffelstaat” warnte bei der Eröffnung des Abstimmungskampfes Ende Juni vor dem gläsern werdenden Bürger.
Nach den Terroranschlägen in Europa sei der Kampf gegen das neue Gesetz nicht einfach, aber umso wichtiger. Argumentiert wurde, dass zahlreiche Terroristen nachrichtendienstlich bekannt gewesen seien, was Anschläge nicht verhindere. Beklagt wurde auch der Kauf von Staatstrojanern, mit dem der Staat den Schwarzmarkt an Programmieren fördere. Betroffen sei schliesslich auf die Medienfreiheit, wenn der Staat alles mithören könne.
Von der befürwortenden Seite war bisher nicht viel zu hören, das über die Standpunkte, die im Parlament vorgebracht wurden, hinaus gehen würde.

Referenzabstimmung
am ehesten vergleichbar ist die voraussichtliche Mechanik der Meinungsbildung mit der beim Biometrischen Pass (2009). Auch damals standen sich Prinzipien der globalen Kontrolle einerseits, der Privatsphäre anderseits gegenüber. Die Vorlage passierte schliesslich hauchdünn mit gut 50 Prozent Zustimmung.
Im Abstimmungskampf legten beide Seiten zulasten der Unschlüssigen zu. Denn in der Ausgangslage hatte die Ja-Seite 39 Prozent Unterstützung, das Nein-Lager 37 Prozent. Jenes verbesserte sich um 11 Prozentpunkte, dieses um 13.
Nicht vorbestimmt waren auch die Volksentscheidungen zu den Tankstellenshops resp. zur Autobahnvignette. Bei dieser baute sich im Abstimmungskampf vor allem die Gegnerschaft auf, derweil bei jener das Ja stärker wurde.

Erste Bilanz
Umfragen zum neuen Nachrichtendienstgesetz sind nicht bekannt. Bis dann wir man von einer nicht vorbestimmten Entscheidung mit noch nicht abschliessend gemachten Stimmabsichten sprechen. Erwartet wird, dass sich Unschlüssige auf beide Seite verteilen werden.
Argumentativ stehen sich Botschaften zu Sicherheit in Zeichen des Terrorismus, Fragen der Privatsphäre und des Rechtsstaates gegenüber. Die Polarisierung verläuft dabei zwischen dem bürgerlichen und den linke Lager.
Der Abstimmungskampf ist vor allem auf der Nein-Seite angelaufen, steckt noch in der Phase der Vorkampagne.
Kompliziert wird die Beurteilung der Chancen des NDG durch das Referendum zum BUePF, das ähnlich gelagert ist, aber eine etwas breitere Opposition unter Meinungsträgern kennt. Abgestimmt wird darüber aber erst zu einem späteren Zeitpunkt.

Claude Longchamp

Worüber wir am 25. September 2016 abstimmen (2): die AHVplus-Initiative in der politiwissenschaftlichen Analyse

Entschieden wird im Herbst 2016 über die Volksinitiative AHVplus der Gewerkschaften. Sie verlangt eine generelle Erhöhung der AHV-Rente um 10 Prozent. Gespalten sind die Parteien zwischen ablehnendem bürgerlichem und befürwortendem linkem Lager. Umstritten ist, ob Einzelreformen oder Gesamtpakete in der Rentenpolitik richtig sind. Der Abstimmungskampf befindet sich erst in der Phase von Vorkampagnen, spezifische Umfragen zu Stimmabsichten liegen noch nicht vor.

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Die generelle These des Dispositionsansatzes lautet: Abstimmungsergebnisse stehen nicht ein für allem Male fest. Vielmehr entwickelt sie sich in einem politischen Klima, aufgrund der Positionen der meinungsbildenden Kräfte, dem Abstimmungskampf und den Alltagserfahrungen der Bürgerinnen. Im Normalfall kommt es im Abstimmungskampf zu einer Anpassung der Mehrheit der Stimmenden an die der Behörden.
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Die Vorlage
Die Volksinitiative “AHVplus: für eine starke AHV” verlangt eine Rentenerhöhung um 10 Prozent. Diese Regelung gilt für alle künftigen und laufenden AHV-Altersrenten. Im Durchschnitt bedeutet dies 200.- Franken mehr Rente für Alleinstehende und 350.- Franken für Ehepaare. Eingereicht wurde die Volksinitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes Ende 2013 mit 111 683 gültigen Unterschriften.
Hintergrund der Volksinitiative ist einerseits die Bundesverfassung, wonach es möglich sein soll, mittels Renten aus AHV und Pensionskasse die gewohnte Lebenshaltung auch im Alter weiterzuführen. Anderseits erscheinen die goldenen Jahre der Pensionskassen vorbei, denn Zinsen und Umwandlungssätze sinken seit längerem.

Das politische Klima
Das thematische Klima zur Abstimmung wird durch die Debatte zum Reformpaket Altersvorsorge 2020 bestimmt. Eine Umfrage, im Herbst 2015 von gfs.bern für Pro Senectute realisiert, ortete ein weitgehendes Grundvertrauen der Stimmberechtigten in die Altersvorsorge. Entsprechend dürfen Reformen nicht unterhalb des bisherigen Leistungsniveaus zu liegen kommen. Mehrheitlich akzeptiert sind die Erhöhung des Rentenalters für Frauen resp. der Mehrwertsteuer für die Finanzierung der Altersvorsorge. Realisiert werden sollen sie aber in einem Gesamtpaket.
Eine generelle Erhöhung der AHV-Rente um 10 Prozent lehnten 52 Prozent ab, während 44 Prozent dies befürworteten. Eine feste Meinung hatten 47 Prozent. Erheblich waren die sprachregionalen, altersspezifischen und parteipolitischen Effekte. So zeigten sich Mehrheiten in der italienisch- resp. französischsprachigen Schweiz positiv eingestellt, nicht aber im deutschsprachigen Landesteil. Rentner waren ebenfalls mehrheitlich einverstanden, derweil jüngere die Forderung klar ablehnten. Parteiungebundene, CVP- und SP-Sympathisantinnen und Sympathisanten zeigten eine Zustimmungstendenz über dem Mittel, nicht aber die Wählenden rechtsbürgerlicher Parteien.
Die AHVplus-Initiative klassieren wir als recht populäres Minderheitsanliegen. Hauptgrund ist, dass eine absolute Mehrheit der Stimmberechtigten negativ eingestellt ist, namentlich in der deutschsprachigen Schweiz, bei jüngeren Bürgern und Bürgerinnen und im rechten Lager. Eindeutig ist der Fall in der Ausgangslage jedoch nicht, denn in der zugrunde liegenden Studie wurden nicht Stimmabsichten bestimmt, sondern Einstellungen zu Reformteilen der Altersvorsorge 2020.

Die parlamentarische Beratung
Regierung und Parlament haben sich gegen die Initiative ausgesprochen. Für höhere AHV-Renten sehen sie keinen finanziellen Spielraum. Die Mehrkosten von «AHVplus» würden das Finanzierungsproblem verschärfen, das durch den Eintritt der Baby-Boomer ins Rentenalter an sich auftritt. Dem widersprachen die Initianten. Die spezifischen Kosten von 4,2 Mrd. Franken würden 0,8 Lohnprozenten entsprechen, also 0,4% für die Arbeitgeber und 0,4% für die Arbeitnehmenden. Das sei verkraftbar.
Die Fronten waren weitgehend geschlossen. Abgelehnt wird das Begehren von bürgerlicher Seite, befürwortet wird es im rot-grünen Lager. Im Nationalrat scheiterte die Vorlage mit 131 zu 49 Stimmen. Im Ständerat lautete das Endergebnis 33 zu 9 dagegen bei einer Enthaltung.
Bisher haben die Parteien wie folgt Stellung bezogen:
-Befürwortende Parteien SP (GPS)
-Ablehnende Parteien EVP, (SVP, FDP, BDP, CVP, GLP)
Bemerkung: Angaben in Klammern beziehen sich auf die Mehrheitsentscheidungen im Parlament und sind keine direkten Parteiparolen.
Quelle: www.politnetz.ch, Parteienwebseiten, Stand: Ende Juni 2016
Vorherrschend ist damit auch auf dieser Ebene der Links/Rechts-Konflikt.

Typologie der Meinungsbildung
Bei Volksinitiativen gehen wir an sich davon aus, dass sich die Ablehnung (erst) mit dem Abstimmungskampf aufbaut. Entscheidend sind die Zustimmungshöhe in der Ausgangslage einerseits, der generelle Problemdruck anderseits.
Letzteres ist gegeben. Fragen der Altersvorsorge resp. Rentensicherung gehören seit längerem zu den zentralen Erwartungen der Stimmberechtigten an die Politik. Das spricht für prädisponierte Meinungen. Indes, es besteht kaum Konsens, in welche Richtung die Rentensicherung gehen soll. Vielmehr unterscheiden sich die Rezepte auf der politischen Achse diametral. Meist gibt die CVP dann den Ausschlag.
Dabei kann sich die Gegnerschaft einer Initiative stets auf Schwachstellen einer Initiative stützen. Diese dürfte die Finanzierungsfrage sein. Zudem divergieren die Ansichten darüber, ob man mittels Gesamtpaket oder Einzellösungen die Altersvorsorge reformieren soll.
Wichtigste Begründung der Initianten dürfte sein, dass die AHV-Abzüge vergleichsweise geringer sind als jene für die Pensionskassen und die letzten 40 Jahre nicht gestiegen seien. Zudem können sie auf die unmittelbaren Auswirkungen der Vorlage verweisen, die eine sofortige Rentenerhöhung bringt.

Bisheriger Abstimmungskampf

Bisher eingesetzt hat nur der Vorabstimmungskampf mit ersten Positionsbezügen.
Die Initiativgegner haben sich in einem Komitee Nein zur AHV-Initiative zusammengeschlossen. Nebst den ablehnenden Parteien sind auch der Schweizerische Verband für Seniorenfragen, der Arbeitgeberverband, die Wirtschaftsverbände economiesuisse, Gewerbe- und Bauernverband mit von der Partie. Rentengelder nach dem Giesskannen-Prinzip zu verschleudern, lehnen sie entschieden ab.
Zur «Allianz für eine starke AHV» gehören die Gewerkschaften und die grossen Arbeitnehmerorganisationen des öffentlichen Sektors, Rentnerorganisationen sowie die SP, die Grünen, Juso und die Jungen Grünen. An ihren ersten Standaktionen kritisierten sie namentlich die Entscheidung der Sozialkommission des Nationalrats, welche beantragte, den Umwandlungssatz bei den Pensionskassen zu senken. Negativ betroffen wären die Jahrgänge 1964 bis 1988, also die 28- bis 52-Jährigen.
Der Konnex zwischen beiden Projekten dürfte im Abstimmungskampf bestehen bleiben. Denn das Parlament behandelt die Altersreform 2020 just im September 2016, dann wenn über die AHVplus-Initiative in der Volksabstimmung entschieden wird.

Erste Bilanz
Wie bei allen Volksinitiativen hängt der Ausgang der Volksabstimmung massgeblich von der Meinungsbildung im Abstimmungskampf ab. Zu Beginn ergibt sich ein Fenster zugunsten der Initianten. Danach geht die Themenführung meist an die Gegnerschaft über. Diese kann in der Regel mit einer Schwachstellen-Kommunikation punkten.
Bezogen auf den Ausgang dieser Volksentscheidung erscheint uns aus jetziger Sicht eine Ablehnung wahrscheinlicher als die Annahme, denn es ist mit einem negativen Meinungstrend im Abstimmungskampf zu rechnen.

Claude Longchamp