Twitter-Newsraum zur Atomausstiegsinitiative durchleuchtet

Unter Meinungsmachern resp. Meinungsmacherinnen ist Twitter nach 2014 zu einem der führenden Social-Media-Kanäle avanciert. Erstmals kann man das Netzwerk der aktiven Kommunikatoren vor einer Volksabstimmung mitverfolgen.

Netzwerke-Analysen
Beziehungsanalysen der Aktiven in SocialMedia kennt bisher weitgehend aus den USA. Sie sprechen durchwegs von einer bipolare Themenöffentlichkeit: hier die Demokraten mit ihren Accounts, da die Republikaner mit ihren Twitteradressen – und nur ganz wenige dazwischen. Das führte zur verbreiteten Kritik, die Meinungsbildung in sozialen Medien geschehe in weitgehend abgeschlossenen Echokammern.
Die erstmalige Anwendung des Verfahrens bei Schweizer Volksabstimmung zeichnet ein differenziertes Bild der Twitter-Beziehungen. Letztlich gibt es nicht zwei Lager, vielmehr lassen sich mehrere Cluster identifizieren. Die zentrale Eigenschaft eines jeden Clusters ist, dass die Mitglieder in erhöhtem Masse untereinander verbunden sind. Klar zu einander angegrenzt sind sie nicht alle. Vielmehr gibt es zahlreiche Überschneidungen.

Übersicht über das Netzwerk aller Twitter-Accounts, die sich an der Diskussion beteiligen
grafiktwitter
Grafik in hoher Auflösung hier:

https://drive.google.com/file/d/0BwQuAj8Sv4UWTE5Tb0VteTFTVkU/view

 

Nicht zwei Lager, sechs Cluster in der Schweiz
Das erste Cluster (Farbe hellgrün) umfasst die nicht-deutschsprachigen Adressen, die meisten davon auf französisch. Im zweiten sind die grünen Kommunikatoren (Farbe grün), im dritten die Linksliberalen (Farbe blau). Die GLP-Twitterer machen das vierte (Farbe dunkelgrün) aus, gefolgt vom bürgerlichen Lager (Farbe violett).
Würde man ein anderes Thema wählen, fände man ähnliche Strukturen. Mit anderen Worten: Die schweizerische Twittersphäre ist nach Sprache segmentiert, aber auch nach weltanschaulichen Lagern – und von diesen gibt es klar mehr als zwei.
Vorlagenspezifisch sind zudem die zahlreichen Fachadressen, die sich an der Ausstiegsdebatte beteiligen. Sie machen im aktuellen Fall das sechste Lager (Farbe gelb) aus.

Das methodische Vorgehen
Ermittelt wurde das Ganze in einem mehrstufigen Verfahren. 16 wichtige Hashtags zur Debatte bildeten den Ausgangspunkt. Im ersten Schritt wurden die häufigsten Begriffe identifiziert. Ermittelt wurden alle Adressen, welche diese Begriffe nutzen. So entstand eine erste Grundgesamtheit von Adressen. Alle nicht-schweizerischen Accounts mussten jedoch aussortiert werden, denn sie würden das Gesamtbild beeinflussen. Verblieben sind 1’346 Adressen mit insgesamt 80’220 Verbindungen untereinander. Man kann diese Gesamtheit auch die Mitglieder des Twitter-Newsraumes in Sachen Atomausstieg nennen.

Zentrale Adressen insgesamt

Aufgrund der Follower und der Followings innerhalb des Newsraumes kann man die zentralen Accounts bestimmen. Wichtigstes Medium ist die NZZ, gefolgt vom Tagesanzeiger, Waston und SRFnews. Wichtigste PolitikerInen sind Balthasar Glättli, Bastien Girod und Jay Badran. Unter den Parteien rangiert sie SP an erster Stelle. Bei den Kulturschaffenden ist es Viktor Giaccobo. Das sagt noch nichts darüber aus, wer das Potenzial an Beziehungen effektiv auch intensiv nutzt. Es zeigt aber, wer am meisten Chancen hat, dass seine Botschaften bei den relevanten Zielgruppen ankommen.

Tabelle: Accounts mit grösstem Potenzial, sortiert nach Followerzahlen im Ausstiegs-Newsroom
account
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Eigenschaften der Cluster
Die zentralen Adressen in einem Modul sind nicht zwingend identisch mit den zentralsten überhaupt. In der Regel finden sie sich im räumlichen Zentrum des jeweiligen Clusters und haben viele Follower. Wer im Grenzbereich von mehr als einem Cluster erscheint, zeigt Nähe zu verschiedenen Gruppen, kann also Uebersetzungshilfen zwischen Sprchregionen oder Weltanschauungen leisten.
Typisch für die geringe Bipolarisierung der Twitteria in der Schweiz ist die Gruppe der GLP-Twitterer. Sie kennen unter sich eine ausserordentlich hohe Vernetzung. So erhöhen sie ihre Schlagkraft. Darüber hinaus finden sich Kontakte zum bürgerlichen Cluster, aber auch zum linksliberalen Netzwerk. Ganz speziell sind die Energiefachleute. Sie sind räumlich weit verstreut. Trotzdem folgen sie einander verstärkt. Man könnte das auch Konkurrenzbeobachtung nennen. Aussenbeziehungen ergeben sich zudem in beide relevanten Sprachcluster. Schliesslich finden sich eine Nähe zu verschiedenen weltanschaulichen Clustern, namentlich zum bürgerlichen, aber auch zum grünen.

Fazit
Mit dem für die Schweiz neuen Instrument kann man die abstimmungspolitischen Diskurshintergründe auf einer neuen Stufe überblicken, verfolgen und analysieren. Ersichtlich werden aber auch die Eigenheiten der hiesigen Polit-Twittersphäre. Sie ist nicht einfach polarisiert, sondern pluralistisch. Echokammern gibt es innerhalb von mindestens sechs Kammern. Doch kennt die Schweizer SoMe-Welt auch vermittelnde Adressen, sei es aufgrund ihrer Popularität, oder wegen ihrer Fachposition. Speziell ist auch die Position der GLP-Twitter.
Klar erinnert sei, dass hier Beziehungen der Adressen zueinander untersucht wurden. Die generelle Hypothese dahinter ist, dass man sich mit verwandten Menschen und Organisationen am ehesten verbindet. Deshalb entstehen durchaus bekannte Cluster. Im Einzelfall kann es aber sein, dass überparteiliche, lokale oder taktische Followerstrukturen Einfluss auf die Positionierung haben.

Claude Longchamp

PS: Die technische Durchführung der Untersuchung oblag Luca Hammer (twitter-account: @luca), einem ausländischen Experten mit Unianstellung. Das garantierte Qualität und Unabhängigkeit. Gefreut hat mich, dass mein eigener Account auf diese Weise als vernetztester in der Twittersphäre zur Ausstiegsdiskussion ermittelt wurde.