Worüber wir am 25. September 2016 abstimmen (3): das Nachrichtendienstgesetz in der politikwissenschaftlichen Analyse

Gegen das revidierte Nachrichtendienstgesetz ist erfolgreich das Referendum ergriffen worden. Schutz der Bevölkerung beispielsweise vor Terrorismus resp. der Privatsphäre stehen sich in der Debatte diametral gegenüber. Noch zeichnet sich nicht ab, wo die Mehrheiten sind. Der Abstimmungskampf hat aber erst jetzt begonnen.

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Die generelle These des Dispositionsansatzes lautet: Abstimmungsergebnisse stehen nicht ein für allem Male fest. Vielmehr entwickelt sie sich in einem politischen Klima, aufgrund der Positionen der meinungsbildenden Kräfte, dem Abstimmungskampf und den Alltagserfahrungen der Bürgerinnen. Im Normalfall kommt es im Abstimmungskampf zu einer Anpassung der Mehrheit der Stimmenden an die der Behörden.
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Das Anliegen
Mit dem revidierten Gesetz soll der Nachrichtendienst des Bundes Telefone abhören, Privaträume verwanzen und in Computer eindringen können. Auch wäre ihm erlaubt, grenzüberschreitende Signale aus Datenübertragungskabeln zu erfassen. Wer bestimmte Begriffe googelt oder in E-Mails erwähnt, könnte ebenso ins Visier der Behörden geraten.
Mi dieser Begründung sammelte das «Bündnis gegen den Schnüffelstaat», eine Allianz aus JUSO, GPS, Piratenpartei und Alternativer Liste, erweitert durch Organisationen wie die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee, die Digitale Gesellschaft oder Grundrechte.ch. in nützlicher Frist die nötigen Unterschriften. 56’055 Unterschriften davon waren gültig, sodass es zur Volksabstimmung kommt.
Bei der Einreichung der Unterschriften warnte Fabio Molina, damals noch Juso-Präsident, vor einer Totalüberwachung. Der Nachrichtendienst dürfe auf keinen Fall mehr Kompetenzen erhalten. Beklagt wurde die Missachtung des Rechtsstaates. Das sei eine grosse Gefahr für eine pluralistische Demokratie.

Das politische Klima
Das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen in staatliche Institutionen ist mehrheitlich gegeben. Das gilt auch für Gerichte, Regierungen und Parlamente. Es trifft aber auch auf die Polizei zu.
Das meint nicht, dass es keine Skepsis gegenüber dem Handeln insbesondere der Verwaltung gibt. Diese trifft zum Beispiel den Nachrichtendienst, dessen Arbeit mangels genügender Kontrolle oder wegen geringer Effizienz periodisch in Frage gestellt wird.
Aktuell stehen gleich zwei Gesetzesrevision unter scharfer Beobachtung. Das Nachrichtendienstgesetz, über das am 25. September abgestimmt wird, und das Bundesgesetz zur Ueberwachung von Post und Telefon, zu dem die Referendumsunterschriften noch gesammelt werden. Berichtet wird hier nur über das Nachrichtendienstgesetz.

Die parlamentarische Beratung
Die Befürworter des neuen Nachrichtendienstgesetzes (NDG) bejahten während der parlamentarischen Beratung den Auftrag zur umfassenden Lagebeurteilung durch den Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Das Gesetz verschaffe dem NDB bessere Möglichkeiten zur Früherkennung und zum Schutz der Schweiz und ihrer Bevölkerung. Die im NDG vorgesehenen neuen Mittel zur Informationsbeschaffung sind nur dann zulässig, wenn sie zuvor durch drei Instanzen bewilligt worden sind: Bundesverwaltungsgericht, Sicherheitsausschuss des Bundesrates und Chef VBS. Der vermehrte Schutz gegen Terroristen gehört zu den zentral vorgebrachten Argumenten.
Am 17. März 2015 befürwortete der Nationalrat das Geschäft ursprünglich mit 119 zu 65 Stimmen bei 5 Enthaltungen. Am 17. Juni folgte der Ständerat mit 32 zu 5 Stimmen bei 2 Enthaltungen – allerdings mit Differenzen. Nach der Differenzbereinigung, bei der sich die Position des Ständerats mehrheitlich durch setzte, haben beide Räte das Gesetz am 25. September 2015 verabschiedet. Das Ergebnis der Schlussabstimmung im Nationalrat lautete 145 Ja zu 41 Nein bei 8 Enthaltungen. Im Ständerat passierte die finale Fassung mit 35 Ja und 5 Nein; 3 Kantonsvertreter übten Enthaltung.
Gegen das Gesetz waren in der parlamentarischen Beratung die Grünen, während sich die SP gespalten zeigte. Befürwortet wurde das neue NDG durch die bürgerlichen Fraktionen. Bei der SVP und der GLP gab es prominente Abweichungen. Ende 2015 schloss sich die SP-Delegiertenversammlung mit 102 zu 62 stimmen dem Referendum an. In der Fraktion hatte rund eine Drittel für die Vorlage gestimmt.
Bis jetzt haben die folgenden Parteien eine Parole gefasst:
Ja: FDP, EVP (SVP, CVP, BDP)
Nein: SP, GPS
Stimmfreigabe: GLP
Positionierungen von Parteien in Klammern erfolgt aufgrund der Mehrheiten in der Schlussabstimmung im Nationalrat.

Typologie der Meinungsbildung
Umfragen zum Nachrichtendienstgesetz sind nicht bekannt. Generell kann man davon ausgehen, dass Prädispositionen bestehen, denn die Thematik berührt sensible und alltagsrelevante Bereiche. Man jedoch nur spekulieren, wie sie verteilt sind. Das gilt auch für die vorläufige Stimmabsichten.
Ohne weitere Abklärungen gehen wir davon ausgegangen, dass die Meinungen gespalten und nicht abschliessend gemacht sind. Das spricht für eine nicht-vorbestimmt Entscheidung mit recht offenem Ausgang.

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In der Regel bauen in einem Abstimmungskampf zu einer Behördenvorlage beide Seiten ihr Lager zulasten der Unschlüssigen auf. Das Mass der Ja- und Nein-Veränderung hängt von der Stärke der Kampagnen ab. Nur wenn es zu einer eigentlichen Protestbewegung kommt, kennt man auch Bewegungen vom Ja- ins Nein-Lager.
Allenfalls handelt es sich aufgrund der Positionierung der bürgerlichen Parteien um eine positiv vorbestimmte Entscheidung. Unter dieser Bedingung verbessern sich die Chancen einer Annahme in der Volksabstimmung, sofern es nicht zur genannten Protestbewegung während des Abstimmungskampfes kommt.

Bisheriger Abstimmungskampf
Das Bündnis gegen den Schnüffelstaat” warnte bei der Eröffnung des Abstimmungskampfes Ende Juni vor dem gläsern werdenden Bürger.
Nach den Terroranschlägen in Europa sei der Kampf gegen das neue Gesetz nicht einfach, aber umso wichtiger. Argumentiert wurde, dass zahlreiche Terroristen nachrichtendienstlich bekannt gewesen seien, was Anschläge nicht verhindere. Beklagt wurde auch der Kauf von Staatstrojanern, mit dem der Staat den Schwarzmarkt an Programmieren fördere. Betroffen sei schliesslich auf die Medienfreiheit, wenn der Staat alles mithören könne.
Von der befürwortenden Seite war bisher nicht viel zu hören, das über die Standpunkte, die im Parlament vorgebracht wurden, hinaus gehen würde.

Referenzabstimmung
am ehesten vergleichbar ist die voraussichtliche Mechanik der Meinungsbildung mit der beim Biometrischen Pass (2009). Auch damals standen sich Prinzipien der globalen Kontrolle einerseits, der Privatsphäre anderseits gegenüber. Die Vorlage passierte schliesslich hauchdünn mit gut 50 Prozent Zustimmung.
Im Abstimmungskampf legten beide Seiten zulasten der Unschlüssigen zu. Denn in der Ausgangslage hatte die Ja-Seite 39 Prozent Unterstützung, das Nein-Lager 37 Prozent. Jenes verbesserte sich um 11 Prozentpunkte, dieses um 13.
Nicht vorbestimmt waren auch die Volksentscheidungen zu den Tankstellenshops resp. zur Autobahnvignette. Bei dieser baute sich im Abstimmungskampf vor allem die Gegnerschaft auf, derweil bei jener das Ja stärker wurde.

Erste Bilanz
Umfragen zum neuen Nachrichtendienstgesetz sind nicht bekannt. Bis dann wir man von einer nicht vorbestimmten Entscheidung mit noch nicht abschliessend gemachten Stimmabsichten sprechen. Erwartet wird, dass sich Unschlüssige auf beide Seite verteilen werden.
Argumentativ stehen sich Botschaften zu Sicherheit in Zeichen des Terrorismus, Fragen der Privatsphäre und des Rechtsstaates gegenüber. Die Polarisierung verläuft dabei zwischen dem bürgerlichen und den linke Lager.
Der Abstimmungskampf ist vor allem auf der Nein-Seite angelaufen, steckt noch in der Phase der Vorkampagne.
Kompliziert wird die Beurteilung der Chancen des NDG durch das Referendum zum BUePF, das ähnlich gelagert ist, aber eine etwas breitere Opposition unter Meinungsträgern kennt. Abgestimmt wird darüber aber erst zu einem späteren Zeitpunkt.

Claude Longchamp