Worüber wir am 27. November 2016 entscheiden: die Atomausstiegsinitiative

Das Parlament hat mit den heutigen Schlussabstimmungen das erste Massnahmenpaket zur Energiewende beschlossen. Damit ist die Ausgangslage für die Atomausstiegsinitiative klar: Sie will, anders als das Parlament, die Laufzeiten für die bestehenden Kernkraftwerke beschränken – und zwar auf 45 Jahre. Was weiss man heute schon zur Abstimmungen, die am 27. November 2016 erfolgt?

Die Vorlage
Inhaltlich fordert die Atomausstiegsinitiative das Betriebsverbot für AKW und maximale Laufzeiten von 45 Jahren für bestehende AKW; wenn es die Sicherheit verlangt, müssen AKW auch schon früher abgeschaltet werden. Darüber hinaus fordert die Atomausstiegs-Initiative eine Energiewende, die auf Einsparungen, Energieeffizienz und dem Ausbau der erneuerbaren Energien basiert.
Lanciert wurde die Atomausstiegsinitiative nach dem Unfall im Kernkraftwerk Fukushima 2011. Heute wird die Initiative der Grünen von einer breiten Allianz unterstützt, so von mehreren Umweltverbänden (Pro Natura, Greenpeace, VCS, SSES, WWF), verschiedenen Parteien (SP, EVP, CSP, JUSO, GLP), Anti-AKW Organisationen (ContreAtom, sortir du nucléaire) und Gewerkschaftsorganisationen (SGB, UNIA, VPOD).

Bisherige Atomabstimmungen
Unfälle in Atomkraftwerken haben Volksabstimmungen zur Kernenergie regelmässig beeinflusst. Den Anfang machte jener in Three Mile Island (USA, 1979). Es folgten Tschernobyl (Ukraine 1986) und Fukushima (Japan 2011). Die nachstehende Grafik zeigt die Unterstützung entsprechender Volksinitiativen, wobei zwischen eigentlichen Ausstiegsvorlagen und weiteren unterschieden wird (Moratorium, demokratische Mitsprache).

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Der Höhepunkt der Unterstützung war 1990 mit der angenommenen Moratoriumsinitiative (54 Prozent Ja). Die gleichzeitig zur Entscheidung vorgelegte Ausstiegsinitiative erreichte 47 Prozent Zustimmung. Der Support war vorher etwas geringer, nachher eindeutig. Das spricht dafür, dass der Zyklus für politische Forderungen nach Kurskorrekturen zeitlich auf einige Jahre beschränkt ist.
Dafür sprechen Wahlergebnisse. Tschernobyl brachte 1987 den Grünen einen Wahlsieg und Fukushima beförderte die Grünliberalen 2011. Bei den Grünen wiederholte sich der Aufschwung 1991 nochmals, danach jedoch nicht mehr, bei den Grünliberalen wurde bereits 2015 ein Rückgang sichtbar.
In die gleiche Richtung verweisen Umfragen vor und nach Fukushima. Bedenken wegen den Risiken von Kernkraftwerken hatten 2011 69 Prozent. Das waren 16 Prozentpunkte mehr als im Jahr vor dem Unfall. Schon 2012 begann der Wert wieder zu sinken, wenn er auch über den Werten vor Fukushima blieb. Gegenläufig waren die Trends in den Sprachregionen, denn der Effekt verpuffte vor allem in der deutschsprachigen Schweiz. Von Dauer erweist sich demgegenüber die positive Meinung zu erneuerbaren Energiequellen.

Die parlamentarische Beratung der Ausstiegsinitiative

Bundesrat und Parlament lehnen die Ausstiegsinitiative der Grünen ab. Sie bevorzugen die von ihnen beschlossene Energiewende.
Im Nationalrat scheiterte die Vorlage mit 134 zu 59 Stimmen bei 2 namentlichen Enthaltungen. Im Ständerat wurde das Geschäft mit 32 zu 13 Stimmen verworfen. Vorherrschend war in beiden Kammern die Polarisierung zwischen den bürgerlichen Parteien auf der Nein-Seite und dem rotgrünen Lager im Ja. Verstärkt wurde dies durch GLP und EVP, nicht aber durch die CVP. Zentral ist damit der ökologisch bestimmte Links/Rechts-Konflikt.
Für die kommende Volksabstimmung haben sich die Parteien analog positioniert.
-Befürwortende Parteien GPS, GLP, EVP (SP)
-Ablehnende Parteien (SVP, FDP, BDP, CVP)
Bemerkung: Angaben in Klammern beziehen sich auf die Mehrheitsentscheidungen im Parlament und sind keine direkten Parteiparolen.
Quelle: Parteienwebseiten, Stand: Ende September 2016
Eine Extrapolation der Ergebnisse in den Schlussabstimmungen beider Kammern legt bei normaler Meinungsbildung einen Nein-Anteil von 59 bis 62 Prozent nahe. Diese Schätzung basiert auf der Annahme, dass gegenüber den bisherigen Atomabstimmungen nichts Ausserordentliches geschieht, namentlich nicht im Abstimmungskampf.
Die gleiche Methode legt übrigens nahe, bei einem Referendum gegen die Energiewende von einer Zustimmungsmehrheit von 54 bis 58 Prozent auszugehen. Angenommen wird auch hier, dass sich die parlamentarischen Mehrheiten im üblichen Masse in der Volksabstimmung übersetzen.

Der bisherige Abstimmungskampf
Der Abstimmungskampf zur Ausstiegsinitiative hat eben erst eingesetzt. Bisherige Kernfrage ist die zeitliche Befristung des Ausstiegs. Die Initianten halten das für nötig, damit die Energiewende klappt. In ihren Argumentarien bezeichnen sie ihr Vorgehen als geordnet; die schnelle Gangart ist angesichts des teilweise hohen Alters von Kernkraftwerken zwingend. Die Versorgungssicherheit sehen sie nicht gefährdet, denn bisher konnte jeder Ausfall eines Kernkraftwerkes kompensiert werden.
Ihre Widersacher halten das für übertrieben. Sie pochen auf eine Entschädigung der Eigner durch die öffentliche Hand, was den Steuerzahler teuer zu stehen kommen würde. Zudem sehen sie Versorgungslücken auf die Schweiz zukommen, die mit dem Import von ausländischem Strom kompensiert werden müssten.

Ausblick: Was noch kommt
Zu erwarten ist, dass es zu einer eigentlichen Fortsetzung des Abstimmungskampfes zur Initiative für eine grüne Wirtschaft kommt. Die Fronten im Parlament waren weitgehend identisch. Das trifft auch auf die Positionierung der Parteien anhand ihrer Parolen zu. Dabei zeichnete sich ein bekanntes Muster der Meinungsbildung ab: Grünrote Vorlagen im Ökologiebereich starten vergleichsweise gut, die Ablehnung wächst jedoch mit dem Abstimmungskampf und es sinkt gleichzeitig die Zustimmung. Hauptgrund ist hier, dass die Problematisierung einer Volksinitiative fürs Publikum erst mit dem Abstimmungskampf nach der Parlamentsentscheidung einsetzt.
Da es an publizierten Umfragen mangelt, kennt man den Startpunkt nicht. Ohne detaillierte Kenntnisse der beiden Kampagnen kann auch das Mass der Entwicklung nicht vorausgesagt werden.
Den Ausgang der Entscheidung stufen wir vorerst als offen ein.

Claude Longchamp