Disposition – Prädisposition – Einstellung. Begriffe der Entscheidungsanalyse mit unterschiedlichen Konsequenzen

(zoon politicon) “Disposition” kommt als Begriff in verschiedenen Wissenschaften vor. Die Medizin gehört genauso dazu wie die Psychologie. So wie ich den Begriff für die Analyse der Meinungsbildung bei Volksabstimmungen, politikwissenschaftlich für die Abstimmungsforschung verwendet also, einsetze, bedeutet er: Entscheidungsabsicht.

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Grundgedanke der Informtionsverarbeitung aufgrund von Prädispositionen, die zu einer Entscheidung führt, wie er durch den Dispositionsansatz für die individuelle politische Meinungsbildung postuliert wird (Quelle: gfs.bern)

Entscheidungsabsichten gehen einer Entscheidung zuvor, wenn diese nicht spontan gefällt werden. Ist dies der Fall, kann eine Entscheidung kaum unter dem Aspekt der Meinungsbildung analysiert werden. Denn das ist nur dann der Fall, wenn es, wie in einem Abstimmungskampf angenommen, zur Verarbeitung von Informationen kommt, die, meist massenmedial verbreitet, seltner personal vermittelt, in die Entscheidfindung miteinbezogen werden. Die Informationsverarbeitung wiederum geschieht auf der Basis der Alltagserfahrungen, mit der die BürgerInnen versucht sind, die Fragestellung der Volksabstimmung auch ohne Meinungsbildungsprozess zu beantworten. Alltagserfahrungen, die politische relevant werden können, nenne ich “Prädispositionen”.

Meinungsbildung, die einer politischen Entscheidung zuvor geht, besteht damit aus Prädispositionen einerseits, verarbeiteten Informationen anderseits, die zu einer vorläufigen Entscheidungsabsicht führen, Dispositionen genannt, welche in der Entscheidung selber zu einer Zustimmung oder Ablehnung (allenfalls auch zu einer Stimmenthaltung) führen.

Die Informationsverarbeitung ihrerseits kann in verschiedene weitere Elemente zerlegt werden; hier sind sie nicht von Belang. Denn es geht mir um die Eigenheiten des Dispositionsbegriffes gegenüber dem Einstellungsbegriff:

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Analytisches Modell der Meinungsbildung auf kollektiver Ebene, wie es der Dispositionsansatz für Volksabstimmungen postuliert (Quelle: gfs.bern)

Zunächst: Der Dispositionsbegriff ist dynamischer als jener der Prädisposition; dieser ist dem Einstellungsbegriff in den Sozialwissenschaften verwandt, wird aber nur soweit verwendet, als er auch entscheidungsrelevante Reaktionen auf Fragestellung beinhaltet.

Sodann: Der Einstellungsbegriff wird aus einem Grund für die Analyse der Meinungsbildung nicht direkt verwendet, denn er unterstellt definitorisch, dass die Reaktionsweisen auf Objekte jeglicher Art, die zu den Einstellungen zählen mehr oder weniger konstant sein müssen.

In der Abstimmungsforschung kann man das eigentlich nur unterstellen, wenn man Meinungsbildung einzig akteurszentriert auf der Mikro-Ebene untersucht, und bei der Informationsverarbeitung eine reine Verstärkerwirkung vorhandener Einstellungen unterstellt. Beides hat sich in der Forschung zur Meinungsbildung bei Wahlen als mögliches Modell erwiesen, bei Sachabstimmungen als sehr unwahrscheinliches. Deshalb ziehe ich den Begriff der (Prä)Disposition vor, weil er Veränderungen in der Entscheidungsabsicht gegenüber offener ist, und das, anders, als in der Einstellungsforschung, als “Nicht-Einstellung” abqualifiziert.

Ich habe meine Ueberlegungen und Analysen mit dem Dispositionsansatz in verschiedenen Schritten und für verschiedene Zwecke entwickelt; die zentralen Publikation daraus sind in den nachstehenden Sammelbänden publiziert worden:

. Schiller, Theo (Hg.): Direkte Demokratie — Forschungsstand und Perspektiven, Opladen 2002.
. Donges, Patrick (Hg.): Politische Kommunikation in der Schweiz. Bern 2005.
. Blum, Roger / Meier, Peter / Gysin, Nicole (Hg.): Wes Land ich bin, des Lied ich sing? Medien und politische Kultur, Bern 2006.

Eine schnell greifbare e-Fassung des Dispositionsansatzes für die Abstimmungsforschung findet man hier.

Claude Longchamp

“Abstimmungsforschung” in Wikipedia

(zoon politicon) Diese erste Fassung zum Artikel “Abstimmungsforschung” in Wikipedia habe ich während den Vorbereitungen für den Kurs am kommenden Freitag in St. Gallen gemacht. Rückmeldungen nehme ich gerne auf dem einen oder anderen Kanal entgegen.

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Die Abstimmungsforschung will erklären, wer wie und warum auf eine bestimmt Art und Weise stimmt.

Abstimmungsforschung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Die Abstimmungsforschung ist eine Teildisziplin vor allem der Politikwissenschaft, teilweise auch der Kommunikationswissenschaft, der politischen Geografie und der politischen Oekonomie. Sie untersucht das Abstimmungsverhalten der stimmberechtigten Personen. Die Abstimmungsforschung geschieht aufgrund offizieller Statistiken zum Abstimmungsverhalten oder anhand von Daten aus Repräsentativ-Befragungen, die vor- oder nachher zum Verhalten und zur Entscheidung selber erhoben werden.

Im Gegensatz zur Wahlforschung ist die Abstimmungsforschung wenig entwickelt. Das hat mit dem selektiven Vorkommen von Volksabstimmungen in den verschiedenen politischen Systemen, aber auch mit der Komplexität von Fragestellungen zu tun, die höher ist als bei Wahlen. Abstimmungsforschung wird systematisch und seit längerem nur in den USA (vor allem in Kalifornien) und in der Schweiz betrieben.

Methoden

Folgende Methoden werden für die Abstimmungsforschung, speziell für die Analyse der Entscheidfindung, eingesetzt:

* Quantitative Methoden wie Befragungen von Wahlberechtigten (telefonisch, mündlich, online oder schriftlich)
* Qualitative Methoden wie Fokusgruppen
* Hochrechnungen
* Aggregatdatenanalysen wie Erstanalysen
* Medieninhaltsanalysen
* Schätzungen auf Basis von Modellen

Institute der Abstimmungsforschung (Schweiz)

In der Schweiz leiten drei kommerzielle Institute regelmässige Abstimmungsforschung auf Umfragebasis für Massenmedien, Abstimmungskomitees, Interessengruppen, gelegentlich auch für Parteien:

* gfs.bern
* Isopublic
* Demoscope

Die politikwissenschaftlichen Institute der Universitäten Bern, Genf und Zürich publizieren mit dem Forschungsinstitut gfs.bern nach jeder eidgenössischen Volksabstimmung eine wissenschaftlich fundierte Abstimmungsuntersuchung, die sog. VOX-Analyse.

Zudem veröffentlichen bundesweite und diverse kantonale Aemter deskriptive und visuelle Darstellungen der Abstimmungsergebnisse, die der Forschung zugänglich sind.

Ergebnisse der Forschung

Deskriptive Raumanalysen von Abstimmungsergebnissen wie jene der Statistischen Aemter beschränken sich weitgehend auf die Eigenheiten des Stimmverhaltens nach Merkmalen der Siedlung und auf Einflüsse der Sprach- resp. Konfessionskontexte. Analytische Raumanalysen wie jene der Forschungsgruppe sotomo zeigen darüber hinaus für die Schweiz drei grundlegende Konfliktlinien im Stimmverhalten über einzelne Sachfragen hinaus auf:

* der Gegensatz zwischen rechts und links (analog zu Wahlen)

* der Gegensatz zwischen Tradition und Moderne

* der Gegensatz zwischen technokratischen und ökologischen Politikverständnis.

Jedes Thema, aber auch jeder Ort lässt sich auf diesen drei Konfliktdimensionen verorten. Daraus entsteht ein politischer Raum von Sachthemen und räumlichen Kulturen, der deutlicher komplexer ist als in der Wahlforschung, die meistens mit der Verortung von Wählern und Parteien auf der Links/Rechts-Achse auskommt.

Die Umfrageforschung zum Abstimmungsverhalten, wie beispielsweise die VOX-Analysen, bestätigt die hohe Bedeutung von politischen Orientierungen und Werthaltungen für Sachentscheidungen. Sie bilden mit den Alltagserfahrungen die Prädispositionen einer Entscheidung. Darüber hinaus arbeitet die Abstimmungsforschung mit den Wirkungen, welche die Informationsverarbeitung auf die Ausbildung von Entscheidungsabsichten hat.

Als widerlegt gilt die vereinfachte Vorstellung, die meisten Menschen hätten analog zur Parteiidentifikation bei Wahlen mittel- und längerfristig klar festgelegtem, statische Entscheidungsabsichten zu allen Sachfragen und jedem Zeitpunkt. Das gilt nur dann, wenn man sich aufgrund der thematischen Alltagserfahrungen einerseits, der politischen Versiertheit anderseits ein hinreichende Vorstellung über den Abstimmungsgegenstand, das mit ihm verbundene Problem resp. die zur Diskussion stehenden Lösungen machen kann.

In allen anderen Fällen kommt es zu einem dynamischen Gemisch aus allgemeinen und thematischen Prädispositionen einerseits, Informationsverarbeitungen während Abstimmungskämpfen anderseits. Indidivueller resp. kolletiktiver Meinungswandel kommt dabei in zwei Formen vor: dem Meinungsaufbau von der Unschlüssigkeit zur Schlüssigkeit in die eine oder andere Richtung, sowie Meinungswandel von der vorläufigen Zustimmung zur finalen Ablehnung (oder umgekehrt).

Der Dispositionsansatz, der speziell für die Analyse der Meinungsbildung bei Volksabstimmungen entwickelt worden ist, bietet hierfür Erklärungen und Prognosen an. In den USA wird vor allem RAS-Modell des amerikanischen Politikwissenschafters John Zaller verwendet, um die Chance von Meinungswandel in Sachfragen unabhängig von Volksabstimmungen zu untersuchen.

Claude Longchamp

Empirische Politikforschung in der Praxis (III): Das Anwendungsfeld “Volksabstimmungen”

(zoon politicon) Volksabstimmungen sind ein konstitutiver Bestandteil des politischen Systems der Schweiz. Nirgends wo sonst auf der Welt wird so häufig über Sachfragen abgestimmt wie hierzulande. Für die Politikforschung ist das eine besondere Herausforderung: In keinem anderen Teilgebiet hat die Politikwissenschaft in der Schweiz einen so grossen Standortvorteil wie in diesem.

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Im Gegensatz zur weit entwickelten Wahlforschung befindet sich die sozialwissenschaftliche Abstimmungsforschung erst noch in den Anfängen; für die Politikwissenschaft der Schweiz ist das eine der grössten Herausforderungen.

Zum Forschungsstand in der Grundlagen- und Anwendungsforschung
Die empirische Forschung zum Abstimmungsverhalten der BürgerInnen begann dennoch eher zögerlich: Raumbezogene Datenanalysen standen am Anfang (50er und 60er Jahre), Untersuchungen auf Befragungsbasis folgten in den 70er Jahren. Die Grundlagenforschung beschränkte sich dabei weitgehend auf die Nachanalyse von Volksentscheidungen. Sie entwickelte damit, etwa im Bereich der VOX-Untersuchungen, Erklärungskompetenzen, jedoch kaum Prognosefähigkeiten.

Die praxisorientierte Politikforschung zu Volksabstimmungen hat einen hierzu komplementären Weg beschritten. Sie hat vor allem an ihrer Fähigkeit gearbeitet, den Abstimmungsausgang vorherzusehen. Sie kann das zwar nicht als Punktprognose machen, jedoch ist sie in der Lage, das aus dem Prozess der Meinungsbildung heraus zu leisten. Sie hat hierfür spezifische Untersuchungsdesigns vorgeschlagen, Methoden und Verfahren der Analyse entwickelt, und sie arbeitet seit einigen Jahren unter dem Stichwort “Dispositionsansatz” an konzeptionellen Erklärungen der erarbeiteten Befunde resp. auffindbaren Typen der Meinungsbildung.

Zielsetzungen des dritten Tages
Der dritte Tag der Veranstaltung “Empirische Politikforschung in der Praxis” widmet sich ganz dem Stand der Abstimmungsforschung in der Schweiz, mit einem Vergleich zum Ausland.

Im Gegensatz zum Vorgehen bei der Wahlforschung beschreiten wir, wie die Forschung auch, nicht den klassische deduktiven Weg von der Theorie über die Prognose hin zur Beobachtung und allfälligen Modifikation von Theorien. Vielmehr wählen wir das induktive Vorgehen: Wir starten mit Beobachtungen, verallgemeinern diese zu Aussagen, versuchen diese hypothetisch zu erklären und schauen, welche der so gemachten Annahmen bestätigt werden können resp. widerlegt werden.

Das führt uns zum gegenwärtigen Stand der Dinge, der durch den Dispositionsansatz am besten reflektiert wird. Diese soll in diesem Kursmodul exemplarisch vorgeführt werden, und es soll gezeigt werden, ob und wie er sich bewährt bei den jüngsten Volksabstimmungen in der Schweiz bewährt hat.

Mit einem Ausblick soll auch der Theorie-Ansatz, der davon unabhängig für die emprische issues-Analyse durch den amerikanischen Politikwissenschafter John Zaller entwickelt worden ist, vorgestellt und zur Erklärung im Rahmen des Dispositionsansatzes diskutiert werden.

Unterlagen
Die Unterlagen zu diesem Kurstag sind hier abrufbar.

Claude Longchamp

Die Evolution des Wissens durch Theoriebildung und Informationsgewinnung

(zoon politicon) Die Falsifikation oder Verifikation einer Hypothese ist das A und O der Theorie emprischer Wissenschaften nach Karl R. Popper. Denn so kann man Fehler in den theoretischen Annahmen entdecken und vermeiden, und sich so der Wahrheit annähern.

Der evolutionäre Prozess von Information-Theorie-Information
Aus verifizierten Hypthesen entsteht aber keine Theorie von selbst. Der Prozess der Entwicklung empirische gesättigter Theorien in der Wissenschaft ist komplexer. Der Soziologe Volker Dreier hat für die Evolution in der Theoriebildung und Informationsgewinnung in den Sozialwissenschaften ein sinnvolles, aber noch wenig gebräuchliches Schema vorgeschlagen.

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Die Operationen: Induktion, Konstruktion, Deduktion, Reduktion
Das Modell unterscheidet zunächst zwischen Theorie und Information, dann zwischen Hypothese und Prognose. Der klassisch deduktive Weg der Wissenschaften, die Deduktion oder Ableitung von Prognosen aus der Theorie setzt Beweistheorie vor aus. Es sind begrifflich, logisch und datenmässig geprüfte Aussagen zu einem Gegenstand. Der Weg hierzu setzt Hypothesen voraus, die sich bewährt haben und nicht mehr modifiziert werden müssen. Dreier nennt ihn Konstruktion. Die Herstellung von Theorien geschieht, indem Aussagen, die aus der Hypothese entstehen, miteinander verknüpft in eine grösseres Ganzes überführt werden, und das meist abstrakt, aber verbal beschrieben werden.

Der Kreislauf ist damit noch nicht geschlossen. Prognosen, die stimmen, führen zu neuen, relevante Informationen. Dreier nennt das die Reduktion. Geleistet wird das durch Bestätigungstheorien. Informationen wiederum stehen nicht nur am Ende des Kreislaufes, sondern am Anfang: Mittels Heuristik werden solche Informationen in Arbeitshypothesen umgewandelt, die anschliessen der oben beschriebenen Prüfung unterzogen werden.

Die theoretischen Schritte sind demnach

. die Heuristik in der Induktion,
. die Begründung in der Konstruktion
. der Beweis in der Deduktion und
. die Bestätigung in der Reduktion.

Dabei bleibt man stets im gleichen Wissenschaftsprogramm. Man entwickelt mit ihm Theorie, und man verwendet die Theorien für die Gewinnung relevanter Informationen, die ihrerseits zu verbesserten Theorie resp. präzisierten Informationen führen können.

Die Anwendung in meiner Vorlesung
Die Wahlforschung ist ein typisches Beispiel hierfür; sie gilt als eine der weitentwickeltsten Teilbereich der Sozialwissenschaften, weshalb man heute überwiegend deduktiv-reduktiv verfährt.
Die Abstimmungsforschung, die ungleich weniger entwickelt ist, verfährt noch überwiegend umgekehrt. Sie verfährt deshalb, wissenschaftstheoretisch gesprochen, induktiv-konstruktiv. Doch dazu nächste Woche mehr.

Geruhsames Wochenende!

Claude Longchamp

Sind wir Menschen alle ein RREEMM?

Vilfredo Pareto, der italienische Oekonom, der an der Universität Lausanne lehrte, prägte für 100 Jahren den Begriff des “homo oeconomicus”. Demnach ist der Mensch ein individualistisches Wesen, das vernünftig handelt, und, egal wer der Mensch ist und wo er lebt, nur an seinem eigenen Nutzen interessiert ist. Vor rund 50 Jahren konterte der deutsch-englische Soziologe Ralf Dahrendorf und sprach erstmals vom “homo sociologicus”. Er definitierte den Menschen als gesellschaftliches Wesen, das gegenüber anderen Menschen in Rollen handelt. Erwartungen, Sanktionen, Normen und Werte, die im Umfeld des Menschen entstehen, steuern sein Verhalten.

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Das sozialwissenschaftliche Menschenbild der Gegenwart entspricht dem homo generalis

Und wo steht man heute in der Debatte zwischen dem individualistischen resp. gesellschaftlichen Wesen Mensch? Der deutsche Sozialwissenschafter Siegwart M. Lindenberg, der in Harvard habilitiert hat, im niederländischen Groningen als Soziologe lehrt und Direktor der Interuniversitären Zentrums für sozialwissenschaftliche Theorie und Methodologie ist, kommt zu einer vermittelnden Antwort: Er bestimmt den Menschen als homo generalis, kurz auch als RREEMM. Die Buchstaben sind dabei Abkürzungen für, das in der Definition Lindenbergs entscheidend ist:

R: resourceful
R: restricted
E: evaluation
E: expecting
M: maximizing
M: (wo)man

Aehnlich, wie die rationale Entscheidungstheorie, die sich auf den homo oecomicus stützt, handelt der Mensch nach Lindenberg als individualistisches Wesen, das an der Vermehrung seiner Vorteile interessiert ist. Anders als die ökomische Deutung der rationalen Entscheidung definitiert Lindenberg die Voraussetzung dieses Handelns nicht aufgrund klarer Präferenzen und vollständiger Informationen, die im Handeln kollektiver Akteure Sinn machen, bezogen auf das Individuum aber eine zu starke Vereinfachung darstellen.

Vielmehr führt Lindenberg aufgrund seiner kognitiven Soziologie vier Randbedingungen der Entscheidungen ein: Menschen …
… sind in ihren Entscheidungen nicht frei, sondern unterliegen mannigfaltigen Einschränkungen (“restricted”)
… verfügen über Kompetenzen, die sie in ihren Entscheidungen zu mobilisieren wissen (“ressorceful”)
… handeln nicht aufgrund den Begebenheiten, die sich kennen oder auch annehmen (“expecting”)
… und entscheiden sich, aufgrund ihrer Ziele, für jene Handlungsmöglichkeit, die ihnen am meisten Vorteile verspricht (“evaluating”).

Das Modell ist nicht die einzige Innovation in den sozialwissenschaftlichsten Handlungstheorien der Gegenwart, wohl aber eine der vielversprechendsten. Es ist nicht mehr so elegant und simpel wie die Modelle, die der amerikanische Oekonom Antony Downs in die Entscheidungstheorien eingebracht hat. Aber es ist auch einfacher und verständlicher, als die Diagnosen, welche die früheren Soziologen erstellt haben.

Was heisst das? Die Erwartung, dass sich die Wissenschaft vermehrt für das Handlungsmodell des homo generalis entscheidet, denn die Erwartungen des homo oeconomicus resp. des homo sociologicus haben sich nicht voll erfüllt. Sie sollten sich deshalb von den Restriktionen der Wissenschaftsgeschichte der letzten 100 Jahre befreien, und auf ihre innovative Kraft vertrauen, indem sie vorhandene Weiterentwicklung in ihren Entscheidungen nutzen.

Denn so würde auch sie als generalisierte Menschen handeln!

Claude Longchamp

Weiterführende Lektüre:
Bruno S. Frey: Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete. München 1990.
Hartmut Esser: Soziologie – Allgemeine Grundlagen. 3. Auflage, Frankfurt/New York 1999.

Empirische Politikforschung in der Praxis (II): das Anwendungsfeld “Wahlen”

(zoon politicon) In unserer Vorlesung “Empirische Politikforschung in der Praxis” steht das erste Anwendungsfeld an. Es handelt sich um Wahlen. Sie werden, wie angekündigt, unter drei Aspekten behandelt:

. den Theorien der Wahlforschung
. ausgewählten empirischen Ergebnisse hierzu
. und praxisrelevanten Themen der Wahlforschung.

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Szenen aus dem amerikanischen Wahlkampf 2008: “Who wins?” ist auch die zentrale Frage der empirischen Wahlforschung in Theorie und Praxis.

Das ganze wird auf die Frage der Prognosefähigkeit von Wahlen zugespitzt: Einerseits gehen wir der sehr praktischen Frage nach, war 2007 in der Schweiz die besten Wahlprognosen lieferte (Wahlbefragungen, Wahlbörsen, oder politökonomische Modelle). Anderseits fragen wir, welche Ansätze aus der Wahltheorie die besten Erklärungsansätze anbieten.

Wir behandeln Ergebnisse aus dem Studienreihen “Selects” und “Wahlbarometer”, und wir kombinieren sie mit Medieninhaltsanalysen zu Trend im gekauften und redaktionellen Raum während des jüngsten Wahlkampfes.

Ich verspreche nicht zu viel: Der eine oder andere Primeur aus der aktuellen Wahlforschung ist schon drin.

Am Schluss der Veranstaltung fragen wir uns, wie Theorie und Praxis in der Wahlforschung zusammenhängen, und wie, auf der Basis des kritischen Rationalismus, weitere Erkenntnisfortschritte möglich sind. Denn daran sind TheoretikerInnen wie PraktikerInnen interessiert!

Hier schon mal die neuen Unterlagen!

Claude Longchamp

smartvote hat den Wahlkampf 2007 neu aufgemischt

(zoon politicon) Für mich heisst der Wahlsieger 2007 “smartvote!”, die populär gewordene elektronische Wahlhilfe.

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Gepflegt ist die homepage von smartvote. Dezent sind die Farben, die im einfachen stiling auf einen wirken. Das macht den ganze Internetauftritt von smartvote fast schon elegant.

Klug war auch das Marketing. Den feschen und wenigen feschen Kandidierenden boten sie eine Plattform zu Eigenprofilierung. Den Wählenden offerierte man die Möglichkeit, ihr eigenes, politisches Spinnennetz zu erstellen, und so sich selber und die ihnen am nächsten stehenden KandidatInnen zu erkennen.

Listig haben die smartvotler damit die ganze politische Bürgerschaft dokumentiert. Fast eine Million Wahlberechtigte sollen sich so freiwillig registriert haben. Und für 187 den 200 Gewählten im Nationalrat gibt es jetzt ein einmaliges politische Nachschlagewerk. Das wird keiner pfiffigen und keinem pfiffigen Journalisten entgehen: Die nächsten vier Jahre wird wie noch nie kontrolliert werden, ob vor der Wahl auch nach der Wahl ist.

Clever hat die eigentliche Innovation dieses Wahlkampfes bewiesen, dass nicht einfach Föteli der BewerberInnen gefragt sind. Dass Personen nicht nur Emotionen transportieren, wie die Headlines der Medien suggieren. Nein, dass es auch 2007 ein eigentliches Bedürfnis gegeben hat, sich mit politischen Themen und Positionen der Parteien und KandidatInnen auseinander zu setzen.

Schlau, seit ihr, ihr Wahlsieger! Sogar ich bin euch beim Wahlentscheid halb gefolgt.

Claude Longchamp

“Wahlbarometer” – die praktische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Wahlbarometer” ist gleichzeitig ein Projektname und ein Programm: Es handelt sich um das Informationssystem der SRG SSR idée suisse Medien, das im Jahr vor den eidgenössischen Wahlen aufgezogen wird. Und es bedeutet, dass man nicht ein-, sondern mehrmalige Messung vornimmt, um die politische Temperatur des Landes fortgesetzt zu messen.

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Ziel des Projektes ist es, die Entwicklung der Parteistärken in den letzten 12 Monaten vor dem Wahltag zuverlässig zu ermitteln. Hierfür wurden 2006/2007 9 vor- und eine Nachbefragung zu den Wahlabsichten gemacht. Anders als alle anderen Wahlbefragungen in der Schweiz, beschränkt sich das Wahlbarometer aber nicht nur auf Beteiligungs- und Parteiwahlabsichten bei Nationalratswahlen.

Das Konzept der letzten drei Wahlbarometer-Serien hat das Forschungsinstitut gfs.bern entwickelt. Das Set, das 2007 angewendet wurde, unterschied im Gefolge soziologischer, sozialpsychologischer, ökonomischer und kommunikationswissenschaftlicher Theorien Erklärungsansätze auf Seiten der Angebote der Parteien wie auch der Nachfrage durch die Wählenden:

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Angebot
. die Identifikation mit der Kampagne der Parteien
. die Identifikation mit BundesrätInnen/ParteipräsidentInnen der Parteien
. die Identifikation mit den thematischen Positionen der Parteien in den Sachfragen, die am meisten interessieren

Nachfrage
. Position der Wählenden auf der Links/Rechts-Achse
. Position der Wählenden in zentralen Wertfragen
. soziologische Merkmale der Wählenden

Für jede der Befragungen, die mit einem einheitlichen Fragebogen vor den Wahlen realisiert wurden, interviewte der gfs-Befragungsdienst mindestens 2000 repräsentativ ausgewählte, wahlberechtigte Personen im Inland.

Berichtet wurde im unmittelbaren Nachgang zu den Befragung in allen Medien der SRG SSR idée suisse. “Schweizer Fernsehen” etablierte zu den News-Gefässen eine eigene “Wahlbarometer”-Sendung. Der Schlussbericht erschien 4 Tage nach der Wahl. In den Printmedien der Schweiz wurden die Ergebnisse aus den Wahlbarometer ausführlich zitiert. Das Forschungsinstitut gfs.bern erstellte eine allgemein zugängliche, ausführliche Ergebnisdatenbank, die via Internet abrufbar ist.

Das “Wahlbarometer” erwies sich im Vergleich zu den effektiven Wahlergebnissen bei den letzten gemessenen Parteistärken als das genaueste Beobachtungssystem überhaupt. Die sechs wichtigsten Aussagen zu Entwicklungen in den Parteistärken und der Wahlbeteiligung stimmten qualitativ alle; die numerische Abweichung bei den Parteistärken betrug im Mittel 1,1 Prozent. Damit war das “Wahlbarometer” auch präziser als die Wahlbörsen und die Prognosen aufgrund kantonaler Wahlergebnisse. Im europäischen Vergleich schnitten alle Wahlumfragen in der Schweiz vergleichsweise gut ab, obwohl in den 10 Tage vor der Wahl nichts Neues mehr veröffentlicht werden darf.

Die theoriefähigen Ergebnisse aus dem Wahlbarometer werden in meinem Kurs “Empirische Politikforschung in der Schweiz” an der Universität St. Gallen vertieft behandelt.

Claude Longchamp

“Selects”- die akademische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Selects” heisst die Studienreihe zur akademischen Wahlforschung in der Schweiz. Den Namen kann man auf zwei Arten deuten: als “Swiss Electoral Studies” und als “Auswahl” aus der Wahlforschung in der Schweiz. Beides ist wohl richtig.

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Ziel des Projektes “Selects” ist es, die Wahlforschung in der Schweiz zu professionalisieren, weiterzuentwickeln und zu institutionalisieren, um den Rückstand gegenüber der internationalen Wahlforschung aufzuarbeiten, den sich die Schweiz aufgrund ihrer eher direktdemokratischen Ausrichtung eingehandelt hat.

Ins Leben gerufen wurde Selects mit Blick auf die Parlamentswahlen von 1995. Seither sind drei eidgenössische Wahlen untersucht worden. Hinzu kommen einige Dissertationen, Spezialstudien und Fachartikel, die mit dem Material von Selects (Bevölkerungsbefragung, Interview mit Kampagnenakteure, Medienanalysen) entstanden sind.

Heute ist die Studienreihe ins Institut für empirische Sozialforschung der Universität Lausanne, kurz FORS, integriert. Die Datensätze sind via SIDOS abrufbar. Geleitet wird das Projekt seit anfangs 2008 vom Politikwissenschafter Georg Lutz.

Das Forschungsprojekt Selects wird von der Bundeskanzlei, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW und dem Schweizerischen Nationalfonds SNF unterstützt.

Die Ergebnisse von resp. bis 2003 sind sowohl von den akademisch geschulten ForscherInnen als auch vom Bundesamt für Statistik analysiert und beschrieben worden. Das macht die Studienreihe als Nachschlagewerk ganz nützlich.

Die Vermittlung über das speziell interessierte universitäre Fachpublikum hinaus ist aber noch nicht geglückt. Die Präsentation der wissenschaftlichen Studienergebnisse von 2003 mit speziellen Regressionsanalysen blieb weitgehend unverstanden, und die Zuspitzung 2007 auf das Thema, Frauen würden sich für Politik immer wengier interessieren, war bei Wahlforschern heftig umstritten.

Die eigentliche Wahlstudie zu den Parlamentswahlen 2007 liegt noch nicht vor. Auch deshalb bleibt der vorläufige Eindruck, dass mit “Selects” die Schweizer Wahlen aus der akademisch-selektiven Position untersucht werden.

Claude Longchamp

Publikationsliste Selects
Daten Selects

Hypothesentest – am aktuellst möglichen Beispiel

(zoon politicon) Begriff, Aussage, Hypothese, Test. Das sind die vier Grundtermini der empirischen Forschung, auch der entsprechenden Politikforschung. Wissenschaftstheoretisch kann das zu zwei Bewertungen der Annahmen führen: die Verifizierung oder die Falsifizierung der Hypothese. Im ersten Fall gilt als empirisch bestätigt, und man kann unverändert mit ihr weiterarbeiten. Im zweiten Beispiel wurde sie wiederlegt, und man sollte sie modifizieren.

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Was damit gemeint ist, sei a heute aktuellst möglichen Beispiel aufgezeigt: Ich nehme die Entwicklung der Meinungsbildung vom Zeitpunkt der letzten Umfrage bis zum Abstimmungstag. Die Beispiele stammen aus der jüngsten Umfrage für die SRG SSR idée suisse Medien, die gfs.bern realisiert hatte, und den Abstimmungsergebnissen zu den Volksentscheidung vom 24. Februar 2008.

Dabei geht es um zwei verschiedene Formen der Meinungsbildung: den Meinungsaufbau bei unschlüssigen BürgerInnen mit Teilnahmeabsichten, und den Meinungswandel bei Menschen, die sich äussern wollen, eine anfängliche Entscheidungsabsicht haben, diese aber im Verlaufe des Prozesses der Meinungsbildung ändern.

Die Hypothesen wurde aus dem Dispositionsansatz abgeleitet. Sie sind für Volksinitiativen und Behördenvorlagen unterschiedlich:

Hypothesen zur Meinungsbildung bei Volksinitiativen kurz vor der Abstimmung
Bei Volksinitiative gehen wir davon aus, dass die Entscheidungen positiv prädisponiert sind, wenn Initiativen ein Bevölkerungsproblem aufnehmen, dass sich die Meinungsbildung aber negativ entwickelt, wenn sie die Kampagne vom Problem hin zur seiner Lösung und ihren Konsequenzen verlagert. Konkret erwarten wir, dass sich das Nein während des Abstimmungskampfes aufbaut, und sich das Ja maximal hält, meist sogar zurückgeht. Aus Unentschiedenen werden bei Volksinitiativen während der Schlussphase GegnerInnen.

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Die Grafik hierzu zeigt, dass sich die Erwartungen vollständig erfüllten. Der Nein-Anteil stieg von 55 auf 68 Prozent, der Ja-Anteil verringerte sich von 34 auf 32 Prozent. Der Anteil Unschlüssiger in der letzten Umfrage kann vollständig dem Nein-Lager zugerechnet werden.

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Die Hypothese wird also voll bestätigt, und zwar nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch nach Sprachregionen.

Hypothesen zur Meinungsbildung bei Behördenvorlagen kurz vor der Abstimmung
Der erwartete Mechanismus bei Behördenvorlagen ist anders. Wir gehen hier nicht zwingend von einer positiven Prädisponierung bei Volksinitiativen aus. Behördenvorlagen kommen zur Abstimmung, auch wenn sie kein gravierende Probleme aus Bevölkerungssicht behandeln.
Vielmehr bildet sich die Meinungsbildung während des Abstimmungskampfes aufgrund der Kampagnen beider Seiten. In der Schlussphase gehen wir davon aus, dass die Nein-Seite mehr Unschlüssige anzieht, als die Ja-Seite; das Mass indem dies geschieht ist aber offen.

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Im konkreten Fall, der Unternehmenssteuerreform erhöhte sich der Ja-Aneil um knapp 5 Prozentpunkte, jener der Gegner um gut 18 Prozentpunkte. Die Erwartung, dass sich die Unschlüssigen in beide Richtungen verteilen wird auch hier erfüllt.

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Die Verifikation der Hypothese gelingt generell gut, nach Sprachregionen in zwei von drei Fällen. Einzig in der italienischsprachigen Schweiz beobachten wir ein anderes Phänomen. Der Ja-Anteil nimmt hier leicht ab. Das kann man als partielle Widerlegung interpretieren.

Die Falsifizierung führt hier aber nicht zu einer allgemeinen Modifikation der Hypothese, weil die Widerlegung nur eine Untergruppe betrifft. Sie wirft aber neue Fragen auf, die zu testen sind: Kann der Spezialfall in der italienischsprachigen Schweiz regelmässig nachgewiesen werden? – Dann müsste man annehmen, dass die Eigenheiten der Meinungsbildung im Tessin anderes als in der Schweiz verlaufen. Ist dies nicht der Fall? – Unter dieser Bedingung wird man folgern, dass es sich um eine Ungenauigkeit der Befragung handelt, die sich zum Beispiel aus der geringeren Befragtenzahl in der italienischsprachigen Schweiz ergibt.

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Alles in allem sind aber die Hypothesen zur Meinungsbildung bei Volksabstimmung in den letzten Wochen, die aus dem Dispositionsansatz abgeleitet werden können, ausgesprochen robust. Sie wurden hier etwas vereinfacht diskutiert, weil wir die Effekte durch die Mobilisierung nicht berücksichtigt haben. Das ist angesichts der geringen Verschiebungen vertretbar.

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Mehr noch: Die Hypothesen sind unterschiedlich, je nachdem ob es sich um einen Behördenvorlage oder eine Volksinitiative handelt. Das kann man nur aus dem Dispositionsansatz ableiten, weil er von unterschiedlichen Vorbestimmtheiten von Initiativen und Behördenvorlagen aufgrund der Problemdefinition ausgeht.

Und dann noch ganz zum Schluss: Sie entsprechen nicht unbedingt dem common sense, sondern der wissenschaftlich erschlossenen Realität. Diese ist, weil sie den Grad an Rationalität in der politisch-medialen Praxis erhöht, klar besser als die Meinungen über sie!

Claude Longchamp