Was leistet empirische Politikforschung?

Norman Blaikie ist Soziologieprofessor in Malaysia und Australien. Er gilt weltweit als der Spezialist, der sich mit der sozialwissenschaftlichen Forschung beschäftigt hat, um für Studierende und Forschende die Frage zu beantworten, was Sozialforschung leistet, warum man sie macht, und wie sie zu geschehen hat.
Ich bringe hier sein mustergültig kurzes Manifest, das er zur Jahrtausendwende publiziert hat, im Original. Man kann es eigentlich “eins-zu-eins” auf die empirische Politikforschung übersetzen.

Claude Longchamp

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A Manifesto for Social Research

1 Social research is about answering research questions.

2 Three types of research questions can be asked: ‘what’, ‘why’ and ‘how’.

3 All research questions can be reduced to these three types.

4 Social research will also address one or more of the following objectives: exploration, description, understanding, explanation, prediction, Intervention (change), evaluation and impact assessment.

5 ‘Why’ questions are concerned with understanding or explanation. ‘How’ questions are concerned with intervention. All other objectives involve the use of ‘what’ questions.

6 Hypotheses are possible answers to ‘why’ and some ‘how’ questions. They are normally expressed as Statements of relationships between two coneepts. Hypotheses direct the researcher to collect particular data.

7 ‘What’ questions do not require hypotheses. Nothing is gained from hazard-ing an answer to a question that simply requires research to produce a description.

8 Research questions are answered by the use of four research strategies: the inductive, deductive, retroductive and abductive.

9 The major characteristics of the research strategies are as follows: the in-ductive strategy produces generalizations from data; the deductive strategy tests theories by testing hypotheses derived from them; the retroductive strategy proposes causal mechanisms or structures and tries to establish their existence; and the abductive strategy generates social scientific accounts from everyday accounts.

10 When a research project includes a variety of research questions, more than one research strategy may be required to answer them.

11 Because research strategies entail different ontological and epistemological assumptions, they may only be combined in sequence.

12 Hypotheses are used mainly in the deductive research strategy as part of the process of testing theory. While the testing of hypotheses commonly involves the use of quantitative methods, it need not do so. The deductive strategy can also use qualitative methods, in which case hypothesis testing is more in terms of a discursive argument from evidence.

13 The abductive research strategy may use hypotheses in the course of gener-ating theory, but in a different way to the deductive strategy. These hypotheses are possible answers to questions that emerge as the research proceeds. They are used to direct subsequent stages of the research.

14 The hypothetical models of possible causal structures or mechanisms that are developed in the retroductive research strategy are not hypotheses. The researcher’s task is to establish whether a postulated structure or mechanism exists and operates in the manner suggested.

15 Social science data normally Start out in the qualitative form, in words rather than numbers. They may continue in this form throughout a research project or be transformed into numbers, at the outset, or during the course of the analysis. Ultimately, research reports have to be presented in words. When numbers are used, they need to be interpreted in words.

16 The use of tests of significance is only appropriate when data have been generated from a probability sample. These tests establish whether the characteristics or relationships in the sample could be expected in the population. Tests of significance are inappropriate when non-probability samples are used, and are irrelevant when data come from a population.

17 As methods of data collection and analysis can be used in the Service of different ontological assumptions, there is no necessary connection between research strategies and methods.

18 Methods of data collection can be combined, in parallel or in sequence. However, it is only legitimate to combine methods in parallel when they are used with the same or similar ontological assumptions. That is, data generated in the Service of different ontological assumptions cannot be combined, only compared. It is legitimate to combine methods in sequence, regardless of their ontological assumptions. In this case, it is necessary to be aware of the implications of switching between assumptions.

19 Case studies are neither research designs nor methods of data collection. They constitute a method of data selection and, as such, require particular procedures for generalizing from the results produced.

20 The results of all social research are limited in time and space. Hence, making generalizations beyond a particular time and place is a matter of judgement. While quantitative data from a probability sample can be statistically gen-eralized to the population from which the sample was drawn, this type of research is in the same position as any other when it comes to moving beyond that population.

Norman Blaikie: Desining Social Reserach, 2000

Der Forschungsprozess in der Praxis

Der fünfte Tag meiner Veranstaltung “Empirische Politikforschung in der Praxis” an der Universität St. Gallen beschäftigt sich mit dem Forschungsprozess. Behandelt werden Ausarbeitung einer Fragestellung, die Recherche in der bestehenden Literatur und Formulierung eines adäquaten Projektes, das nach der Logik der Forschung durchgeführt wird.

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Wissenschaftsstheoretisch ist man bei der Konzipierung von sozialwissenschaftlichen Forschungsprozessen weit. In der Praxis sind die Probleme jedoch meist grösser als in der Theorie angenommen. Das gilt insbesondere für den Prozess der angewandten Forschung, der sich von jenem der Grundlagenforschung in mindestens dreierlei Hinsicht unterscheidet:

1. Faktor “Zeit”: In der Grundlagenforschung hat man meist Zeit, viel Zeit. In der angewandten Forscshung ist das selten so. Die rasche Verfügbarkeit von Ergebnissen ist ein wesentlicher Grund, weshalb man entsprechende Forschung in Auftrag gibt. Wenn es keine spezifischen Theorien und Vorbildstudien gibt, zählt genau deshalb die Erfahrung der Forschungsleitung oder des Forschungsteams. Sie muss helfen, sinnvoll bearbeitbare Fragestellungen zu entwickeln, den Aufwand für zu erstellende oder zu bearbeitende Datensätze abzuschätzen und ein Konzept für die Berichterstattung auszuarbeiten.

2. Faktor “Geld”: Die zweite Einschränkung ergibt aus den Kosten. Die Budgets in der angewandten Forschung sind häufig deutlich kleiner, als in der Grundlagenforschung Das verlangt, sich klarer festzulegen: Ziele vorzugehen, nicht erst zu entwickeln, Arbeitsschritte detailliert zu planen, nicht ad hoc entstehen zu lassen, Verantwortlichkeiten persönlich festzulegen und nicht der individuellen Neigung zu überlassen. Die Optimierung des Forschungsprozesses ist eine permanente Aufgabe gerade von Forschungsinstituten. Inhatliche Ziele, zeitliche Restriktionen und finanzielle Mittel müssen stets im Verbund miteinander bedacht werden. Das Wissen, das für das Projektmanagement erarbeitet wurde, muss hier zwingend integriert werden.

3. Faktor “Kommunikation”: Projekte der Grundlagenforschung sind darauf aus, Artikel in angesehenen Fachzeitschriften publizieren zu können, Schlussberichte an die Adresse Forschungsförderungsagentur zu schreiben und wenn möglich, mit akademischen Arbeiten höhere akademische Grade zu erwerben. Die Kommunikation gegenüber einer spezifischen Kundschaft und auch gegenüber der Oeffentlichkeit als unspezifischer Kundschaft steht im Hintergrund. Das verändert sich in der angewandten Forschung massiv. Die Kommunikation von Ergebnisse ist nicht einfach eine dem Forschungsprozess nachgelagerte, freiwillige Phase; sie ist ein konstitutives Element des Forschungsprozesses selber. Sie muss stets mitbedacht werden; sie muss in ihren spezifischen Formen eingeübt werden, und sie befruchtet so auch die Generierung von verwertbarem Wissen.

Es kommt immer wieder vor, dass ich bei neueintretenden ProjektleiterInnen in unserem Institut, die universitäre Forschung kannten, zuerst ein grosses Staunen erlebt. Liegt ein neuer Datensatz vor, möchten sie sich am liebsten in kleine Kämmerlein zurückziehen, und wenn möglich ein Jahr für sich arbeiten können. Das geht eigentlich nie! Es ist deshalb die Aufgabe von forgeschrittenen ForschungsleiterInnen klar festzulegen, was wann und gegenüber wem kommuniziert wird. Zwischenergebnisse dienen nicht dazu, neue Fragen aufzuwerfen, sondern bestehende zu beantworten. Ich habe nur wenige Projekte erlebt, bei denen man nicht gleich von Beginn weg das erwartbare Ergebnis des Studie nicht Schritt für Schritt mitbedacht hätte.

Am kommenden Freitag geht es mir zuerst darum, die Logik der Forschung, wie sie von der Wissenschaftstheorie erarbeitet worden ist, in die Praxis umzusetzen. Ich werde mich bemühen, die Diskussionen stets im Spannungsfeld von Grundlagen- und angewandter Forschung zu halten.

Claude Longchamp

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Gruppenarbeiten “Empirische Politikforschung in der Praxis”

(zoon politicon) Die kleine Abschlussarbeit gilt als Prüfung im Rahmen der Lehrveranstaltung “Empirische Politikforschung in der Praxis”. Ich erwarte folgendes:

. Sie behandeln ein Thema der Politikforschung.
. Die Behandlung des Themas erfolgt nach den Grundsätzen der empirischen Wissenschaften.
. Sie zeigen im Idealfall auf, was das Ergebnis der Forschung für die Praxis bedeutet.

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In der Themenwahl sind Sie frei. Es braucht keinen direkten Bezug zur Schweiz. Das Thema muss aber zum Stoff der Lehrveranstaltung passen.

Ich rate an, nur Themen zu wählen, bei denen sie vorweg keine aufwendigen Datensammlungen selber erstellen müssen.

Ich erwarte ein ausgearbeitetes Arbeitspapier von 6-8 A4-Seiten. Sie können das Kleinprojekt alleine oder zu zweit machen. Grössere Gruppen machen keinen Sinn.

Der Abgabetermin für das Arbeitspapier ist verbindlich der 9. Mai 2008 auf info@gfsbern.ch.

Ich werde 4 Arbeiten auswählen, die am 16. Mai 2008 während der Veranstaltung präsentiert und gemeinsam diskutiert werden. Die Präsentationationen sollen 20 Minuten dauern. Sie sollen das gleiche Thema wie das Arbeitspapier behandeln.

Die Prüfung kann man auch bestehen ohne zu präsentieren.

Die Themen werden verbindlich am 25. April 2008 festgelegt. Dazu erstellen Sie ein Papier von maximal einer halben Seite mit

. Thema
. Fragestellungen
. Hypothese(n)
. mögliche Daten
. mögliche Verfahren der Datenanalyse.

Aus meiner Sicht sinnvolle Kleinprojekte sind:

1. Analyse der kantonalen Wahlergebnisse seit den letzten Parlamentswahlen zur Frage: Auswirkungen der Bundesratswahlen 2007

2. Steigende Wahlbeteiligung bei Nationalratswahlen: Politökonomische, sozialpsychologische und kommunikative Erklärungsmöglichkeiten

3. Prognosen und ihre Begründungen der Abstimmungsausgänge zu den eidgenössischen Volksabstimmung vom 1. Juni 2008 aufgrund des Dispositionsansatzes

4. Destabilisierung der Schweiz? Polit-kulturelle Indikatoren und Daten für die Verbundenheit, die Apathie und die Entfremdung von der grösseren Parteien mit dem politischen System.

5. Neue Deutungskulturen in der Blogosphäre. Das Fallbeispiel SVP vs. Eveline Widmer-Schlumpf.

6. Folgen des Wertewandels: Politische Partizipation von Männern und Frauen im Vergleich.

Gute Arbeit!

Claude Longchamp

Karte des weltweiten Wertewandels

(zoon politicon) Kaum ein Name wird so eng mit der Untersuchung des Wertewandels verbunden, wie der des amerikanischen Politikwissenschafters Ronald Inglehart. “Materialismus-Postmaterialismus” lautete seine erste, in den späten 70er Jahren begründete Gegenüberstellung, die weltweit rezipiert wurde. Seine neue Polarität, die den globalen Wertewandel beschreiben soll, lautet “Modernismus-Postmodernismus”.

Inglehart stützt sich für seine neuen Thesen zum Wertewandel auf das weltumspannende Projekt “World Value Survey”, dessen Direktor er ist. 43 Länderstudien hat er dazu synthetisiert, um zentrale Dimensionen des gegenwärtigen Wertewandels zu bestimmen. Zwei Ausrichtungen der Veränderungen kristallisieren sich dabei heraus:

. die Polarität von traditionell-religiösen und und säkular-rationalen Werten einerseits,
. die Gegenüberstellung von Werten des kollektiven Ueberlebens und der individuellen Selbstentfaltung anderseits.

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Die 43 Fallstudien verortet Inglehart in beiden Dimensionen, sodass eine neue Weltkarte des Wertewandels entsteht. Das Ueberzeugendste dabei ist, dass die Länder nicht zufällig, sondern sehr systematisch auf beiden Achsen steuen.

In beiderlei Hinsicht ursprünglich erscheinen die Wertemuster in Afrika; am weitesten davon entfernt ist das protestantische Europa. Weite Teile Asiens und Lateinamerikas zeigen keinen eindeutigen Wertewandel, wie ihn Inglehart untersucht. Klar in Richtung Säkularisierung haben sich dagegen die meisten ex-kommunistischen Länder entwickelt; für sie ist typisch, dass sie sich auf der Ebene der individuellen Seltentwicklung jedoch kaum verändert haben. Beschränkt davon abweichend sind die konfuzianisch geprägten Kulturen Asiens. Sie stehen damit den angelsächsischen gegenüberstehen, für die eine starke Ausrichtung an der individuellen Selbstentfaltung, gepaart mit einer bechränkten Säkularisierung typisch ist.

Das katholische Europa hat sich auf den beiden Dimensionen halbwegs bewegt, jedoch bei weitem nicht so stark wie das protestantische. Hier ist der globale Wertewandel am fortgeschrittensten, namentlich in Schweden und den anderen nordischen Ländern. Das gilt notabene auch für die Schweiz, die nach Inglehart durch eine starke Säkularisierung und Individualisierung gekennzeichnet ist.

Bei der Lektüre des Buches geht es einem so, wie immer bei Inglehart: Ausgesprochen plastisch sind seine Beschreibungen, deren Evidenz nicht zu bestritten werden kann; theoretisch hergeleitet sind sie aber nicht vertieft, was einem nicht hilft, die Hauptabsicht des Buches, den Wandel zum Postmodernismus, zu verstehen. Und bleibt auch diesmal eine Frage im Raum: Ist es möglich, dass sich Länder auf der Karte nicht nur von unten-links weg bewegen, sondern auch wieder in diese Richtung?

Konkreter: Kann es sein, dass religiös-traditionelle Werte und solche des kollektiven Ueberlebens in Gesellschaften mit starkem Wertwandel wieder bedeutsamer werden?

Claude Longchamp

Ronald Inglehart: Modernismus – Postmodernismus. Politische, wirtschaftlicher und kultureller Wandel in 43 Ländern. Frankfurt am Main/New York 1997

Eskalations-Monitoring: Das Interesse steigt!

(zoon politicon) Es freut mich, dass die Idee des Eskalations-Monitoring interessiert, herausfordert und dass es diskutiert wird. Die Nutzungszahlen auf meinem Lehrveranstaltungsblog haben sich gleich verdoppelt. Die Kommentare auf dem Blog, auf dem Mail und privat haben ebenfalls zugenommen.

Das Projekt
Die Idee des Eskalationsmonitorings zur Kontroverse zwischen der SVP und Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf ist ein Projekt. Diees ist kein einmaliger Beitrag. Und es ist auch kein Kommentar zur Situation. Sie ist jedoch ein ernstgemeinter Versuch, die Blogosphäre für die empirische Politikanalyse praktisch zu nutzen.

Die Blogosphäre ist dabei die Informationsquelle. Sie ist aber auch gleichzeitig Ort der Reflexion. Und sie soll für die Vermittlung verwendet werden. Statt Forschung im stillen Kämmerlein zu betreiben, statt Untersuchungen für Kunden zu machen, ist es meine Absicht, hier in, mit und für die Internet-Oeffentlichkeit zu forschen.

Monitore generell
Monitore sind keine Instrumente der Informationssichtung, die für die Blogosphäre typisch sind. Es sind Informationssysteme, die Prozesse mittels technischer Instrumente sichtbar machen sollen. Sie kommen als Verlaufsprotokolle in vielfältigster Weise vor.

Die junge Blogosphäre ist hierzu noch wenig genutzt worden, doch bietet hierzu Vorteile: Sie protokolliert laufend, und sie prodiziert damit offene Informationen in leicht verfügbarer Form. Sie bietet Möglichkeiten, diese qualitativ zu verarbeiten, um zu neuen Einsichten zu gelangen. Und sie stellt eine Möglichkeit der einfachen und schnellen Verbreitung dar.

Monitore kommen heute überall vor, wo gesellschaftliche Entwicklungen beobachtet werden: Zu Bestimmung des Wertewandeles beispielsweise, aber auch um Veränderungen der politischen Kultur zu ermitteln. Sie sind besonders häufig, wenn es sich um dynamische Prozesse handelt: Wenn Bewegungen in der Oeffentlichen Meinung oder auch Trends in Entscheidungsprozessen interessieren.

Monitore sind vorwiegend Führungsinstrumente. Sie werden von politischen Akteure genutzt. Vielleicht sind sie Cockpits. Das Bild gefällt mir allerdings weniger, weil es an ein Flugzeug erinnert, an eine Maschine, die man steuern kann. Gesellschaftlichen Prozesse sind eher interaktiv zu verstehen: Man verfolgt in und mit ihnen ein Ziel, man versucht, dieses anzusteuern. Aber man ist nicht allein: Es gibt Gegenkräfte, die andere Ziele verfolgen, andere Wege wählen, und auch auch einfach Widerstand leisten. Deshalb ziehe, hier ganz bestimmt, den Begriff des Tableaus vor. Er ist nicht mechanistisch, vermittelt aber die Absicht des Monitors: einen Ueberblick zu verschaffen.


Monitore in der Blogosphäre

Monitore auf der Blogosphäre haben eher den Charakter von Orientierungsinstrumenten. Weil sie im Zugang prinzipiell offen sind, eigenen sie sich weniger, beispielsweise politische Prozesse steuern zu wollen. Doch sind sie geeignet, dieses sicht- und damit diskutierbar zu machen.

Blogopshären-Monitore unterscheiden sich in einem von anderen Monitoren: Sie heben die klassische Trennung von Objekt und Subjekt in der Forschung (teilweise) auf. Die Subjekte sind Objekte, die agieren und reagieren. Die Objekte werde dadurch Subjekte. Sie sollen sich sehr wohl am Projekt beteiligen können, wenn sie dieses nicht einfach verhindern wollen.


Auf den Punkt gebracht!

Ich verspreche mir hier mehr, andere, sprich: neue Einsichten in das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen, die sich über die Abwahl von Christoph Blocher genervt haben, aber auch von jenen, denen die Angriffe auf Eveline Widmer-Schlumpf auf den Geist gibt. Sie unmittelbar im Rahmen des Eskalationsmonitorings zu beobachten, ist meine Absicht. Eine Vorhaben, das nicht auf der Beobachtung von Verhalten, aber auch nicht auf der Befragung von Einstellungen basiert. Vielmehr ein Projekt, das Einstellungen in ihren Konsequenzen beobachten will.

Claude Longchamp

PS:
Keine Angst: Das Tableau ist nicht das Ziel, ist ein erstes Hilfsmittel der Projektarbeit. Aber ich entwickle die Idee vom letzten Samstag auch nur schrittweise, meist in meiner sog. Freizeit …

Tableau des Eskalations-Monitorings

(zoon politicon) Hier die vorläufige Liste der online-Quellen zum Eskalations-Monitoring, das ich angeregt habe. Sie enthält Links zu

. online-Ticker zur news-Lage
. AkteurInnen der Kontroverse
. PartisanInnen der Aktuere
. KommentatorInnen mit eigenen Blogs
. Diskussionsforen
. AnalytikerInnen

Berücksichtigt habe ich die Blogs, die sich mehrfach zur laufenden Kontroverse geäussert haben.
Die Liste wird laufend aufdatiert. Für interessante Hinweise, die mir entgangen sind, bin ich dankbar.

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“Legale Wahl einer Bundesrätin oder erschlichen aus persönlichen Karrieregründen”, ist die zentrale Frage, die hier beschäftigt und gegenwärtig zu einer Eskalation der Dinge führt, die beoachtet und analysiert werden soll.


online-Ticker

google über Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf
google über Bundesrat Samuel Schmid
google über (Schweizer) Bundesrat
google über SVP Schweiz
google über SVP-Präsident Toni Brunner
google über Christoph Blocher


Akteure

SVP Schweiz
SVP Graubünden
SVP Kt. Bern
Christoph Blocher, alt Bundesrat

Partisanen (EWS-kritisch)

winkelried.info
Side Effects
Brielmaier
morgarten.info
Smythe Style
SecondLitart
personalblog
Gegenbewegung

Partisanen (SVP-kritisch)
gugus-dada
ignoranz
ouVertures.info
stoepsorama
goggiblog

Regelmässige KommentatorInnen
ticinolibero (fdp)
Andreas Kyriacou (grüne)
reto m. (sp)
Bürger-Herold
bodenständigi chost (traditionell, unpolitisch)
der leumund
iRaff
Tratschen über …

emeidi
thinkabout

Satire
Lupe
Zgraggen Schagg

Foren
NZZVotum (Schweizer Forum)

AnalytikerInnen
Chefredaktor-Blog
Arlesheim reloaded
Wahlkampfblog
Knill Blog
Philippe Welti
eDemokratie
Klaus Stöhlker

Aggregatoren
Politik-Blogs
slug

Die Verlinkung einzelner Artikel ist nicht sinnvoll, dafür verwende man einen der übliche aggregatoren, die ich hier auf aufgeführt habe.

Ich hoffe, es wird rege benutzt, und es führt zu übersichtlichen Einschätzungen!

Claude Longchamp

Eskalations-Monitoring

(zoon politicon) Die Woche war hektisch: Die SVP stelle Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, ein Ultimatium, aus dem Bundesrat zurück- und aus der Partei auszutreten. Das geforderte SVP-Mitglied der Landesregierung gab zurück: Sie bleibe, im Bundesrat und in der Partei, hielt Bundesrätin Widmer kurz und knapp fest. Die SVP widerum liess ihren Zentralvorstand in der Sache entscheiden: 67 Stimmen für das Ultimatum gab es, 5 dagegen und 7 Enthaltungen.

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Ereignisanalyse durch Monitoring – in der Physik schon längst bekannt, zum Beispiel in der Lawinenforschung, in den Sozialwissenschaft erst in den Anfängen, jedoch mit vielversprechenden Anwendungsfeldern


Ereignis, Wende-Ereignis

Das war ohne Zweifel ein Ereignis: eine verdichtete Handlungsabfolge mit einer Konsequenzerwartung. Die Handlungsabfolge ist oben beschrieben. Die Verdichtung ergibt sich aus der Kadenz der Schritte. Und der offen ausgebrochene Zwist begründet die Konsequenzerwartung: Wer setzt sich schliesslich durch? Genau diese Frage ist es auch, die der gegenwärtigen Eskalation jene Aufmerksamkeit bescheret, welche aus dem Ereignis auch ein Wende-Ereignis machen könnte: Jenen Moment, von dem man im Nachhinein wenigstens sagen wird, nichts sei danach mehr gleich gewesen wie vorher.

Story-Fahrplan
Der Sonntagsblick hat heute schon mal das Tableau der Fahrplanes zum Kampf zwischen SVP und EWS erstellt und eine Schätzung zum Ausgang gemacht; mindestens bis zur Delegiertenversammlung vom 5. Juli 2008 scheint die Sache vorgezeichent zu sein. Zuerst bleibt Widmer-Schlumpf hart, und auch die Bündner SVP schliesst sie nicht wie verlangt aus. Das ist das Thema bis Ende Monat. Dann kommt die SVP in Zugzwang: Sie muss die ganze Kantonalpartei wie angekündigt ausschliessen, riskiert eine Rekurs und einen Entscheid der Delegiertenversammlung, der Mehr- aber nicht einheitlich ausfällt. Damit ist klar: Die story dreht sich, und sie wird weiter gedreht. Das verspricht eine fortgesetzte Eskalation mit unsicherem Ausgang.

Arenen, Akteure, Aufpasser
Für Polit- und Kommunikations-BeobachterInnen gibt es nichts Spannenderes als ein solches Live-Experiment zu Machtfragen, politschem Stil und politischer Kultur. Die Massenmedien bilden die zentrale Arena der Auseinandersetzung. Sie können abbilden, aufladen, aufpassen. Auf jeden Fall setzten sie das Geschehen in Szene. Die KontrahentInnen in de Auseinandersetzung, ihre AnhängerInnen und deren Seilschaften sind die Akteure.

Doch wird es nicht bei ihnen bleiben. Bei jedem öffentlich ausgetragenen Konflikt gibt es Trittbrettfahrer, die von der Aufmerksamkeit profitieren wollen, Anheizer, die gerne zuspitzen und Abknaller, die als Parteien oder ähnliches ihren Nutzen aus der SVP-Auseinandersetzung ziehen wollen. Das Volk wiederum ist mindestens ein Teil des Echos, Pro-und-Kontra-DemonstrantInen, vielleicht auch der Schiedsrichter. Auf jeden Fall wird es sich lohnen, die Oeffentliche Meinung und ihre Dynamiken genau zu verfolgen. Das MINK-Schema, das auf diesem Blog schon vorgestellt worden ist, gibt eine erste Orientierungsmöglichkeit.

Lernfeld Blogosphäre
Spannender kann es nicht sein, gerade jetzt eine Kurs zu “Empirische Politikforschung in der Praxis” zu geben. Ein Eskalations-Monitoring wird hier – wie nur selten gehabt – möglich.
Eine Frage interessiert mich ganz besonders: In welchen Masse gelingt es der Blogosphäre, die Meinungsbildung darzustellen und die Entwicklung der Geschichte eigenständig zu vermitteln resp. verständlich zu machen. Es wäre ein Beweis dafür, dass es in diesem Bereich zwischenzeitlich genügend Rollenträger gäbe, die vernetzt eine eigene Oeffentlichkeitsplattform wären.

Claude Longchamp

Popularität von BundesrätInnen

(zoon politicon) Seit vielen Jahren vermisst die Zeitschrift “L’Illustré” unsere BundesrätInnen. Zweimal im Jahr werden die Mitglieder der Landesregierung einen Popularitätstest unterworfen. In den Medien find en die Repräsentativ-Befragungen regelmässig breiten Wiederhall: Zeit, sich die Resultate mal systematisch anzusehen.

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Der Bundesrat und das Volk: Motto auch auf dem offizielle Bild der Schweizer Landesregierung 2008.


Die Befragungsserie

Die aktuelle Befragung wurde Mitte März 2008 durchgeführt. 700 SchweizerInnen in der deutsch- resp. französischsprachigen Schweiz werden berücksichtigt. Leider können sich italienischsprachigen MitbürgerInnen ausdrücken. Immerhin, für die 18 bis 74jährigen SchweizerInnen in den beiden anderen Landesteile ist das Bundesratsbarometer vom MIS Trend in Lausanne ein brauchbarer Stimmungstest, der, über die Zeit konstant gemacht, gerade im Vergleich vertiefte Rückschlüsse zulässt.

Bei allen Zahlen die L’Illustré präsentiert, ist allerdings Vorsicht geboten. Dargestellt werden nur jene Befragten, die eine Bewertung abgeben. Leider erfährt man nur bruchstückhaft, wie viele der Befragten hierzu zählen. Weder das Umfrageinstitut noch die Zeitschrift legen alle Ergebnisse offen. Eine Randnotiz zur jüngsten Ausgabe lässt aufhorchen: Micheline Calmy-Rey scheint als Person und Aussenministerin die bekannteste von allen zu sein. Doris Leuthard wieder scheint als Personen bekannt zu sein, nicht aber als Volkswirtschaftsministerin.


Das Rating im Frühjahr 2008

Die aktuelle Reihenfolge lautet:

1. Doris Leuthard
2. Eveline Widmer-Schlumpf
3. Hans-Rudolf Merz
4. Micheline Calmy-Rey
5. Samuel Schmid
6. Moritz Leuenberger
7. Pascal Couchepin

Das hauptsächliche Interessen an der aktuellen Erhebung, die diese Woche veröffentlicht wurde, betrifft das Ergebnis der neuen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Sie bringt es auf Anhieb auf den 2. Platz unter den 7 Mitgliedern des Landesregierung. 82 Prozent finden ihre (bisherige) Arbeit sehr oder eher gut, 18 Prozent nur beurteilen sie als eher oder sehr schlecht.

Vor ihr rangiert nur Doris Leuthard. 91 Prozent haben ein positives, 9 Prozent ein negatives Urteil. Damit erreicht sie das zweithöchste Ergebnis aller Zeit. Nur Adolf Ogi kam in seinem Präsidialjahr 2000 auf eine höheren Wert, als er angekündigt hatte, den Bundesrat zu verlassen.

Eveline Widmer-Schlumpfs Startergebnis lässt sich durchaus sehen. Mit 82 Prozent Zustimmung startet sie, auf die wahlberechtigte Bevölkerung bezogen, ausgesprochen gut. Nur Doris Leuthard hatte eine besseren Anfangswert; alle anderen lagen kurz nach ihrer Wahl weiter zurück. Das sollte man nicht vergessen, wenn man die in der SVP umstrittene Politikerin pauschal als “Lügnerin” tituliert. Und nicht übersehen sollte man, dass die Zustimmungswerte zu ihrem Vorgänger, Christoph Blocher in der Regel bei 50 Prozent lagen.

Generell schneiden die drei Frauen im Bundesrat gut ab. Die Zeiten, da man Frauen auf wichtigen Posten in der Politik nichts zutraute, sind längst vorbei. Denn nebst den Spitzenplätzen von Leuthard und Widmer-Schlumpf ist auch Micheline Calmy-Rey recht gut plaziert. Nur ein Mann ist vor ihr, und die drei hinteren Ränge gehen ausschliesslich an ihre männlichen Kollegen im Bundesrat.

Amtsdauer und Popularitätszyklen
Den meisten BundesrätInnen im Amt gelingt sich in den ersten Jahren zu verbessern. Das zeichnet sich bei Hans-Rudolf Merz, 4 Jahre nach seinem Amtantritt am deutlichsten ab. Der Effekt, scheint sich aber auch bei Doris Leuthard, seit knapp zwei Jahren im Bundesrat, abzuzeichnen. Bei Micheline Calmy-Rey, seit 5 Jahren im Amt, scheint ihren Popularitätshöhepunkt überschritten zu haben.

Bei Samuel Schmid, der nach drei Jahren Bundesrat den höchsten Wert verzeichnet, hat der Abstieg eingesetzt; er bleibt aber recht bescheiden. Genau gleiches gilt letztlich auch für Motiz Leuenberger. Spektakulärer war die Talfahrt von Pascal Couchepin, die 2003 mit dem Wechsel des Departementes einsetzte und bis 2006 dauerte; bisweilen beurteilten noch 20 Prozent seine Arbeit als Bundesrat vorteilhaft. Zwischenzeitlich erlebt er eine eigentliche Rückkehr, selbst wenn er damit das Schlusslicht nicht hat abgeben können.

Generell wird man festhalten können: Die BundesrätInnen starten, bezogen auf ihre Popularität unterschiedlich gut. Im 2.-4. Jahr ihrer Amtstätigkeit legen sie in der Regel zu; danach nehmen die negativen Werte zu. Das Amt als Bundesrat nagt an den Zustimmungswerten. Hat der Abstieg eingesetzt, ist die Rückkehr an die Spitze fast ausgeschlossen!

Claude Longchamp

Regiert Geld den politikwissenschaftlichen Geist?

(zoon politicon) Jüngst habe ich am IDHEAP in Lausanne über politische Kampagnen referiert. Und bin ich dabei auf ein wenig reflektiertes Phänomen gestossen.

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Der Olympische Geist verkommt mehr und mehr zum Geldgeschäft; verkommt jetzt auch der politikwissenschaftliche Geist zu zur unreflektierten Uebernahme von Marktkategorien in die Politikanalyse?

Das Phänomen
Nicht zum ersten Mal ist mir bei diesem oder einem mit ihm verwandten Thema aufgefallen, dass es dabei im studentischen Publikum nicht nur eine offizielle, sondern auch eine inoffizielle Leseweise gibt: Letztere lautet vereinfacht: Geld bestimmt Kampagnen, und Kampagne bestimmen die Politik. Also bestimmt Geld die Politik!

Ich muss da immer gleich nachfragen: Haben nicht die Grünen bei den jüngsten Parlamentswahlen in der Schweiz klar zugelegt, mit der Klimapolitik ein neues Thema gesetzt und den Anspruch angemeldet zu haben, nach den zahlreichen Erfolgen in den Städte, Kantonen und auch im Bund Teil der Regierungsparteien zu werden? Und wares es nicht sie, die – mangels Geld – auf eine nationale Kampagne “im gekauften Raum” verzichtet haben? – Ist nicht die Annahme der Verwahrungsinitiative in der Volksabstimmung gegen den fast einhelligen Willen von Regierung und Parlament – und ohne eigentlichen Abstimmungskampf – ein deutlicher Gegenbeleg dafür, dass man auch ohne Geld politische Mehrheiten für sich gewinnen kann?

Zu den Forschungsergebnissen
Die Wahl- und Abstimmungsforschung weltweit und auch in der Schweiz hat sich des Zusammenhangs angenommen. In den USA lassen sich positive Korrelationen nachweisen zwischen dem finanziellen Mitteleinsatz einerseits, und dem Wahlerfolg andererseits. Doch da hat das System: Die Geldbeschaffung ist eine Teil der Kampagnen. Sie ist ein Teil der vorherrschenden Kultur, auch in der Politik, die sich am rationalen Marktverhalten der Anbieter und Nachfrager ausrichtet. In der Schweiz sind die Belege für die Käuflichkeit von Wahlen und Abstimmungen deutlicher geringer. Unverändert gilt das sibyllinische Bonmont des Berner Politologen Wolf Linder: “Dass Wahlen und Abstimmungen in Schweiz käuflich seien, ist bisher nicht bewiesen worden, – allerdings ist auch das Gegenteil nicht bewiesen worden.”

Zur Analyse
Ich habe eine andere These, für die hidden agenda in der Wissenschaft, wenn es um den Einfluss von Geld in der Politik geht: Die Ansätze der politischen Oekonomie, die ein rationales Verhalten von Akteure annehmen, das sich auf materielle, sprich finanzielle Interessen reduzieren lasse, sind auch in der Politikwissenschaft zu vorherrschenden Deutungsmacht aufgesteigen. Der Vorgang verläuft mittlerweile kritiklos. Dabei übersieht man die Konsequenzen, die sich aus der Uebertragung von Vorstellungen ergeben, die für das Marktverhalten, das durch Angebot und Nachfrage resp. durch Geld als Kommunikationsmittel gesteuert wird, typisch sind.

Sozialphilosophisch inspirierte Theoretiker der europäischen Gegenwart – und zwar Jürgen Habermas bis Niklas Luhmann – haben letztlich immer darauf bestanden, Politik und Wirtschaft, als Teilsysteme wie auch als Lebenswelten, in eigenen Termini zu denken und zu untersuchen. Denn sie folgen unterschiedlichen Logiken, die aus der Geschichte der Demokratie, auch auch aus der Differenzierung von Funktionen hergeleitet werden können.

Mein Wunsch
Das würde dafür sprechen, bewusster mit Analysekategorien umzugehen. Geld ist das unbestrittene Steuerungsmittel der Wirtschaft, Macht jenes der Politik. Das sollte man auch in der Politikwissenschaft noch unreflektiert aufgeben, werde in den sichtbar-offiziellen, wie auch in den versteckt-inoffiziellen Deutungen!

Claude Longchamp

Beyond Lijphart: Vatters Analyse der schweizerischen Konkordanz von heute

(zoon politicon) Arend Lijphart’s bahnbrechende Analyse von Demokratie-Muster habe ich hier ja schon gebührend vorgestellt. Seine Einteilung der Schweiz als extremer Fall einer Konsensdemokratie ist bei mir und ersten Kommentatoren nicht unbestritten geblieben. Jetzt liefert Adrian Vatter, seit Februar 2008 neuer Politologie-Professor an der Universität Zürich, eine empirisch gehaltvolle Re-Analyse von Lijphart’s Ueberlegungen, die zu einer vergleichbaren Relativierung gelangt.

Neue Zeit – neues Material

Wertvoll ist Vatters Studie, weil sie sich streng an der neue Konzept der international vergleichenden Demokratieforschung hält, dieses aber mit neuen Daten füllt, welche den Zeitraum 1997-2007 betreffen.

Das empirische Material bezieht Vatter aus 10 Veränderungen und Reformen, welche die Institutionenpolitik der Schweiz in den letzten Jahre bestimmt haben. Namentlich sind das

. die Wählergewinne der SVP,
. die Veränderungen im Wahlmodus für den Bundesrat und
. das erstmalige Eintreffen des Kantonsreferendums

als die zentralen Prozesse der Gegenwart, dann aber

. die Totalrevision der Bundesverfassung,
. die Bilateralen Abkommen I und II mit der EU,
. die Justizreform,
. der Beitritt der Schweiz zur UNO,
. die Reform der Volksrechte und
. der neue Finanzausgleich als die wichtigsten Reformen.

Bestehendes Konzept – veränderte Positionierung
Bezogen auf die Zeiträume, die Lijphart untersucht hatte (vor allem 1945-96, speziell aber auch 1971-96) bewertet Vatter seine neuen Beobachtungen nun wie folgt:

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Quelle: Vatter (2008)

Erstens, das Verhältnis von Exekutive und Parteien, in der Schweiz typischerweise zugunsten der Regierungen geregelt, verändert sich in Richtung politische Parteien. Das gilt als Zeichen dafür, dass Wettbewerbs- gegenüber Verhandlungsmuster gestärkt wurden. Ins Gewicht fallen die Veränderungen im Wahlrecht, die Stärkung der Legislativen und der vermehrte Pluralismus unter den Interessengruppen, die alle in Richtung majoritärem Typ wirken.

Zweitens, das Verhältnis von Bund und Kantonen beurteilt Vatter insgesamt stabiler; die Veränderungen halten sich in Grenzen, bei der Suprematie Dritter über den Gesetzgebungsprozess entwickeln sich die Schweiz sogar eher in Richtung gemischter Strukturen.

Beides zusammen hat zur Folge, dass die Schweiz, auf der Landkarte der Demokratien weiterhin im Süden angesiedelt wird, das heisst ausgesprochen föderalistisch bleibt. Bezogen auf die Ost/West-Achse kommt jedoch eine Abbau der weltweit extremen West-Position hinzu.

Bewertungen für Theorie und Praxis
Vatter stellt sich die Frage, ob die Schweiz unverändert eine akzentuiert machtteilende Verhandlungsdemokratie sei oder nicht. Er beantwortet sie mit einem vorsichtigen “Nicht-mehr-ganz-so-stark”. Er spricht von einem zunehmenden Normalfall einer Verhandlungsdemokratie. Von einer Wettbewerbsdemokratie sei die Schweiz noch weit entfernt, die Extremposition bei der Konsenssuche sei aber aufgeweicht.

Das lässt Adrian Vatter auch einige Folgerungen zur aktuell laufenden Debatte ziehen: Aller Normalisierungstendenzen zum Trotz befinde sich die Schweiz im Demokratienvergleich immer noch klar auf der Seite der Konkordanz. Sie sei “noch weit entfernt” von einen Regierungs/Oppositionssystem, wie es von der SVP aufgrund ihrer inneren Befindlichkeit diagnostiere. Zudem gäbe es erhebliche “Hindernisse für einen Systemwechsel zu einem Konkorrenzsystem in der Schweizerischen Referendumsdemokratie.”

Offen ist aber für Vatter, wie die Schweiz mit den beiden unterschiedlichen Tendenzen umgehen wird: der Polarisierung innerhalb des Parteienlogik einerseits, der weitgehend Stabilität im Verhältnis von Bund und Kanton andererseits.

Weshalb ich die Lektüre empfehle
Was mir an der Studie besonders gefällt? Erstens ist sie knapp gehalten und ausgesprochen lesbar verfasst. Zweitens ist sie materialreich und dieses ist konsequent verarbeitet. Und drittens werden die Befunden, die in der Binnensicht der Schweiz gerne dramatisiert werden, durch das international vergleichende Vorgehen in das Licht gerückt, in das sie gehören.

Allein schon damit ist Adrian Vatter über Arend Lijpharts Grundlagenwerk hinaus gegangen. Dass es dabei zu Schlüssen zwischen politikwissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis kommt, ist für mich umso erfreulicher.

Claude Longchamp

Adrian Vatter: Vom Extremtyp zum Normalfall?, in: Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 14/2008, pp. 1 ff.